Vatikanstadt - Freitag, 22. Dezember 2023, 10:00 Uhr.
Nach drei Jahren wurde im „Jahrhundertprozess“ ein Urteil gesprochen: Kardinal Angelo Giovanni Becciu erhält eine Haftstrafe, auch wenn unklar ist, ob er wirklich hinter Gitter kommt. Papst Franziskus spricht mahnende Worte zu Weihnachten, und das Thema „Homo-Segnungen“ überschattet alles andere.
- Die „Karriere“ des Kurienkardinals Giovanni Angelo Becciu
- Keine Chance auf Papst-Wahl? Wieso Becciu eine Zeitung auf 10 Millionen Euro verklagte
- Warum die Kurie sich nach seiner Verurteilung im „Schockzustand“ befindet
- Segnungen homosexueller Paare im Medienfokus
- Warnende Weihnachtsworte des Papstes: „Nicht urteilen!“
Ein tiefer Fall
Irgendwann ist immer das erste Mal. Allen, die es miterlebten, war das historische Ausmaß klar: Als am 16. Dezember im „Jahrhundertprozess“ des Vatikan das Urteil verkündet wurde, wurde erstmalig in der Geschichte des Vatikanstaates ein Kardinal der römischen Kurie von Laienrichtern zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Wie CNA Deutsch ausführlich berichtete, wurde Kardinal Becciu wegen Veruntreuung in mehreren Fällen zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, inklusive einer Geldstrafe in Höhe von 8.000 Euro.
Mit ihm standen neun weitere Angeklagte vor Gericht, auch sie erhielten teilweise Haft- und Gefängnisstrafen. Ein Angeklagter wurde freigesprochen, da er nichts von den kriminellen Machenschaften seiner Vorgesetzten wusste.
Die Fallhöhe ist beachtenswert: Einst als Sostituto des vatikanischen Staatssekretärs eingesetzt, bekleidete Becciu bis 2018 die zweithöchste Position im Staatssekretariat.
Im Machtkampf um den Souveränen Malteserorden wurde der Kardinal 2017 von Papst Franziskus sogar als Sondergesandter installiert, nachdem der damalige Großmeister unter dramatischen Umständen abgesetzt worden war. Becciu sollte, so der Auftrag von Franziskus, den Orden „spirituell und moralisch erneuern“.
Im Nachhinein eine fragwürdige Entscheidung des Papstes, der 2018 auch noch Becciu zum Präfekten der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse beförderte.
Schon ein Jahr später begann die Fassade zu bröckeln: Der Hüter der Heiligsprechungen schien alles andere als ein Heiliger zu sein.
Nicht zuletzt dank des Einsatzes des mittlerweile verstorbenen australischen Kardinals George Pell kamen erhebliche Zweifel über Machenschaften im Staatssekretariat ans Licht.
Vor allem eine verlustreiche Fehl-Investion in eine Londoner Immobilie, wurde den Angeklagten zum Verhängnis, als die Polizei im Oktober 2019 eine Razzia in Räumlichkeiten des Vatikan durchführte und der Fall so ins Rollen kam.
2021 wurde Kardinal Becciu neben weiteren Verdächtigen des Amtsmissbrauchs, Veruntreuung, der Vetternwirtschaft und Anstiftung zu einer Straftat beschuldigt.
Becciu beteuert bis heute seine Unschuld.
Im Laufe des Verfahrens kamen weitere Details ans Licht, wie zum Beispiel Beccius Verbindung zur „Beraterin“ Cecilia Marogna, die wie der Kardinal auch aus Sardinien stammt.
Frau Marogna war offiziell involviert in eine Lösegeldzahlung, mit der eine Ordensschwester freigekauft werden sollte, die von Islamisten in Mali als Geisel gehalten wurde. Insgesamt eine Millionen Euro soll die Kirche bereitgestellt haben, um die Schwester zu befreien.
In vier Jahren soll Cecilia Marogna 500.000 oder 600.000 Euro an Zahlungen vom Staatssekretariat an ihre in Slowenien angemeldete Firma erhalten haben. Finanziert hat sie damit Reisen und Designer-Handtaschen.
Auch Beccius Familie, darunter Bruder Antonio, geriet in die Schalgzeilen: Wie CNA Deutsch berichtete, hatte der Kardinal im Jahr 2018 eine Summe in Höhe von 100.000 Euro der Genossenschaft seines Bruders zugeschanzt.
„Ich hätte Papst werden können!“
Während des Prozesses forderte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten für Kardinal Becciu, zusätzlich zu einer Geldstrafe von 10.329 Euro, sowie den Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern auf Lebenszeit.
Der Kardinal bezeichnete den Prozess als eine „Verschwörung“ gegen seine Person. Auch am letzten Verhandlungstag forderten seine Anwälte einen kompletten Freispruch, „um die persönliche Würde des Kardinals wiederherzustellen“, dem „enormes Leid“ zugefügt worden sei, und zwar als „Mensch und Priester“.
Als Teil der Verteidigungsstrategie des Kardinals kann man die Klage Beccius gegen das italienische Magazin „L'Espresso“ bewerten, das im September 2020 über die Vorwürfe berichtet hatte: Becciu behauptete, dass Papst Franziskus sich erst durch diesen Artikel dazu entschlossen habe, den Kardinal aller Ämter zu entheben. Becciu musste auch auf seine Rechte als Kardinal verzichten.
Nicht er oder die Vorwürfe seien schuld an dieser „unehrenhaften Entlassung“, sondern die Berichterstattung darüber. Deshalb forderte der Kirchenmann vom italienischen Magazin eine Schadensersatzzahlung von zehn Millionen Euro.
Außerdem ließ sein Anwalt über eine italienische Zeitung ausrichten, Becciu habe durch die Aberkennung seiner Rechte keine Möglichkeit mehr, an Kardinalstreffen teilzunehmen. Ja, schlimmer noch: Einzig die Berichterstattung über Becciu und sein anschließend erzwungener Rücktritt habe ihm die Möglichkeit geraubt, vielleicht sogar der nächste Papst zu werden. „Betrachtet man seinen Lebenslauf“, so der Anwalt gegenüber einer Zeitung, „hätte er zu den Papabili gehören können.“
Vor Gericht jedoch scheiterte der verhinderte Papst mit seiner Klage und bekam obendrein die Gerichtskosten in Höhe von 40.000 Euro aufgebrummt.
Eine geschockte Kurie?
Als im Laufe des Verfahrens das Auftreten des machtbewussten Sardiniers weltweit Aufmerksamkeit erregte, geriet auch seine Persönlichkeit ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik: Frühere Mitarbeiter hatten sich darüber beklagt, dass Becciu als Vorgesetzter oft im Stile eines Kirchenfürsten mit Einschüchterungsversuchen gearbeitet habe.
Im Internet kursieren zudem Nachrichten des italienischen Prälaten, mit denen er sich angeblich zum Opfer von Journalisten stilisierte, bis hin zu plumpen Versuchen der Einflussnahme.
Unabhängig vom Gebaren des Kardinals: Übereinstimmend berichten mehrere Vatikan-Insider auch von der „Schockstarre“, die unter den Kurienmitgliedern herrscht, seit am Samstag das Urteil gegen Becciu verkündet wurde. Undenkbar schien manchen bisher die Möglichkeit, dass auf vatikanischem Staatsgebiet ein Gericht, besetzt von Laienrichtern, einem Kardinal eine Gefängnisstrafe auferlegt.
Mitunter scheint es gar, als ob in gewissen Machtkreisen des Vatikan die Empörung über diesen unerhörten Vorgang größer ist als das Entsetzen über das Gebaren verurteilter Geschäftsmänner und Kleriker, ganz zu schweigen von den Opfern dieses Klüngels, darunter Männer vom Kaliber eines Kardinal George Pell.
Kritik an Papst Franziskus
Gleichzeitig gibt es auch Kritik am Zustandekommen der Verurteilung. „Offenbar sah sich das Gericht verpflichtet, eine Entscheidung zu bestätigen, die bereits getroffen war“, sagte Mario Becciu, ein weiterer Bruder des Kardinals, gegenüber der italienischen Zeitung „La Repubblica“.
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Mario Becciu behauptet: Dadurch, dass der Papst seinem Bruder vor drei Jahren die Rechte als Kardinal entzogen habe, habe der Pontifex dadurch früh Tatsachen schaffen wollen, wodurch sich das Gericht letztlich gezwungen sah, diese „Vorverurteilung“ entweder zu bestätigen oder zu missbilligen.
Es war auch Papst Franziskus, der kurz nach seiner Wahl angekündigt hatte, mit der Korruption und den undurchsichtigen Finanzgeschäften im Vatikan aufzuräumen. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt gründete Papst Franziskus 2014 das Wirtschaftssekretariat und ernannte den damaligen Erzbischof von Sydney, Kardinal George Pell, zum ersten Präfekten der neu errichteten Institution.
Der couragierte Australier machte sich direkt ans Werk und stellte mittels unabhängiger Experten einen eklatanten Mangel an effizienten Kontrollen, Aufsicht und transparenten Verfahren fest.
Doch dann wurde gebremst und blockiert: Im Jahr 2016 ging der umtriebige Italiener Becciu gegen den angelsächsischen Aufklärer vor. Als Pell eine externe Überprüfung aller vatikanischen Abteilungen einleitete, die von der Firma PriceWaterhouseCooper durchgeführt werden sollte, verhinderte Becciu eigenmächtig die Wirtschaftsprüfung, offenbar ohne Rücksprache mit dem Papst.
Wie Quellen innerhalb des Vatikans damals gegenüber CNA Deutsch beteuerten, hatte Pell das fragwürdige Vorgehen Beccius scharf kritisiert und weiterhin auf die externe Untersuchung bestanden. Becciu jedoch habe daraufhin den Papst dazu überredet, sein eigenmächtiges Handeln im Nachhinein – ex post facto – zu genehmigen, was Papst Franziskus offenbar schließlich tat.
Die Wirtschaftsprüfung fand nicht statt, und die Millionengeschäfte im mächtigen Staatssekretariat unter Kardinal Pietro Parolin wurden nicht von unabhängigen Experten geprüft.
Stattdessen musste sich Pell in seiner Heimat gegen Vorwürfe sexueller Gewalt verteidigen. Er wurde zunächst verurteilt, dann aber durch ein einstimmiges Urteil des High Court of Australia freigesprochen.
Der Journalist Carl Bunderson schrieb dazu: „Das Verfahren gegen Pell, das sich allein auf die Aussage eines vermeintlichen Opfers stützte, gilt nicht nur in australischen Kreisen als massiver Justiz-Skandal. Spekulationen, ob und wie Kreise im Vatikan sich des unliebsamen Aufklärers aus Australien entledigen wollten, kursieren seit Jahren.“
Dabei wurde auch über die Überweisung von Geldern aus dem Vatikan nach Australien spekuliert.
Auf die Frage, ob denn jemals ans Licht kommen würde, wie unter Becciu mit den Finanzen des Vatikan umgegangen wurde, hatte Kardinal Pell noch vor seinem Tod im Januar 2023 lakonisch geantwortet: „Wir werden sehen. Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit."
Ein Skandal, der kaum interessiert?
Viel Zeit hat es gebraucht, bis der Prozess im Vatikan zu einer Urteilsentscheidung kam. Die Anklage begann am 3. Juli 2021, der Prozess am 27. Juli 2021. Das italienische Staatsmedium RAI hat zusammengerechnet, dass es bei diesem Prozess in 29 Monaten insgesamt 86 Verhandlungstage brauchte; dabei wurden insgesamt 69 Zeugen vernommen und 124.563 Seiten (in Papier- und Digitalform) analysiert.
Zudem hatte die Staatsanwaltschaft 2.479.062 Akten vorgelegt, die Verteidigung reagierte mit 20.150 Seiten, weitere Zivilparteien hatten 48.731 Seiten eingereicht. „Enorme Zahlen, die den Umfang und die Genauigkeit eines monströsen Prozesses verdeutlichen“, resümiert RAI.
Als am vergangenen Samstagnachmittag das Urteil schließlich verkündet wurde – Kardinal Becciu war zu dem Zeitpunkt übrigens nicht im Gerichtssaal anwesend – wurde das große Finale des „Jahrhundertprozesses“ von den Medien erstaunlich beiläufig rezipiert.
Möglicherweise liegt das vergleichsweise geringe Medienecho aber auch darin begründet, dass nur zwei Tage nach dem Urteil der Vatikan eine mediale Aufmerksamkeitsbombe platzen ließ.
In einem Schreiben des Glaubensdikasteriums wurde am 18. Dezember verfügt, dass Priester fortan auch „Paare in irregulären Situationen und gleichgeschlechtliche Paare segnen“ dürfen, allerdings „ohne deren Status offiziell zu konvalidieren oder die beständige Lehre der Kirche über die Ehe in irgendeiner Weise zu verändern“.
Was das genau heißt: Darüber streiten und debattieren nun seit Tagen Katholiken in aller Welt. Manche Medien und Priester erklären, dass die Katholische Kirche „endlich“ die Segnung von Homosexuellen erlaube, während sich so mancher deutsche Bischof und Verbandsvertreter mit einem „Wir haben es doch gleich gesagt“ an die Öffentlichkeit wandte.
Andere Katholiken üben sich derweil im Zweckoptimismus, und der eine oder andere schielt in die Ukraine wie nach Afrika, wo die dortigen Oberhirten sehr klare Haltung in die andere Richtung beziehen.
Wie es nun weitergeht: Das wird nicht nur Vatikanisten in den kommenden Tagen und Wochen noch beschäftigen, ebenso wie ein mögliches Berufungsverfahren im Fall Becciu.
Papst Franziskus: „Hören, unterscheiden, sich bewegen“
Nach all der Aufregung der vergangenen sieben Tage, in denen Papst Franziskus zwischendurch am 17. Dezember außerdem noch seinen 87. Geburtstag feierte, hat der Heilige Vater wie jedes Jahr seine Weihnachtsansprache an die Kurienmitarbeiter dafür genutzt, Ermahnungen und Warnungen auszusprechen.
Bei der gestrigen Ansprache gab Franziskus die Marschroute vor in einem Dreierschritt aus „hören, unterscheiden, sich bewegen“. Er kritisierte die Kommunikation der Kurie in Rom, bei der sich Mitarbeiter bisweilen wie „reißende Wölfe“ verhielten.
„Hören wir einander zu und versuchen wir das, was unser Bruder sagt, sowie seine Bedürfnisse und in gewisser Weise sein Leben zu verstehen, das sich hinter jenen Worten verbirgt – ohne zu urteilen“, lautete ein Diktum des Papstes.
Nachdenklich macht aber vor allem der Aufruf des Heiligen Vaters, das geistliche Leben zu kultivieren, um gewisse Versuchungen abwenden zu können. Franziskus wörtlich:
„Für uns alle ist die Unterscheidung wichtig, diese Kunst des geistlichen Lebens, die uns von der Anmaßung befreit, schon alles zu wissen; von der Gefahr, zu glauben, es reiche aus, die Regeln anzuwenden.“
Rückblickend auf die rund 600 Stunden im Gerichtssaal, die beim „Jahrhundertprozess des Vatikan“ zusammengekommen sind, muss man allerdings auch konstatieren: Hin und wieder hätte es der römischen Kurie ganz gut zu Gesicht gestanden, „die Regeln anzuwenden“.