Sigrid Grabner über ein Leben zwischen den Zeiten und im Zwielicht der Freiheit

Die Schriftstellerin und Zeitzeugin über den Verfall des Sozialismus, ihren von Gott geführten Weg zurück zur Kirche und die Wiederkehr alter Gespenster im 30. Jahr der Wiedervereinigung

Sigrid Grabner in Rom
Mit freundlicher Genehmigung

"Wir rechneten damit, nicht mehr zurückzukommen"

Die Schriftstellerin und Zeitzeugin Sigrid Grabner über das Entstehen blühender Landschaften aus dem Verfall des Sozialismus, ihren von Gott geführten Weg zurück zur Kirche und die Wiederkehr alter Gespenster im dreißigsten Jahr der Wiedervereinigung. Das Gespräch führte Michael Ragg. Zuerst veröffentlicht im Magazin "Pur". Publiziert mit freundlicher Genehmigung.

MICHAEL RAGG: Frau Dr. Grabner, vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 sagte Bundeskanzler Kohl voraus, dass sich die neuen Bundesländer "in blühende Landschaften ... verwandeln" würden. Oft erntete er Spott dafür. Wie sehen Sie das heute?

SIGRID GRABNER: Diese Aussage empfand ich als schön. Sie war zukunftsweisend. Es motiviert die Menschen nicht, wenn man ihnen ständig erzählt, wie furchtbar alles ist. Kohl hat erfasst, dass die meisten Ostdeutschen mit Freude und Begeisterung in die neue Zeit gehen wollten. Wenn Sie heute durch das Land fahren, können Sie diese blühenden Landschaften auch sehen, in der Natur, in Städten und Dörfern. Und Sie können sie riechen: Es stinkt nicht mehr so!

Sie haben damals wie heute in Potsdam gelebt. Wer Sie in diesem Herbst besucht, erlebt eine der schönsten Städte Deutschlands, ein Gesamtkunstwerk aus gestalteten Parkanlagen, Schlössern und Seen, das in weiten Teilen zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Wie hat es hier vor dreißig Jahren ausgesehen?

Tatsächlich ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht. Vor der Wende sah alles unglaublich verfallen aus. Die Fassaden bröckelten, die Einschusslöcher aus den Endtagen des Zweiten Weltkrieges waren noch überall sichtbar.

Noch unglaublicher ist, dass wir das zu DDR-Zeiten nicht so stark empfunden haben wie nach dem Mauerfall. Mir fiel erstmals etwas auf, als in den Achtzigerjahren meine Freundin Gerda aus Wuppertal zu Besuch kam. Ich ging mit ihr durch die Stadt, um ihr die Anklänge italienischer Baukultur in Potsdam zu zeigen. Sie wurde blass und sagte irgendwann: "Ich könnte nicht hier leben. Ich würde depressiv." Dieser Spruch ist mir nie aus dem Sinn gegangen. Der Mensch ist ja ein Wunder an Anpassung. Man lebt immer jetzt. Und das war auch richtig so. Sollte ich mich beim Spazierengehen immer über die Mauer im Neuen Garten und über diese verfallende Stadt aufregen? Man suchte die Schönheit und wenn sie nicht da war, imaginierte man sie.    

Die Häuser und Straßen waren verfallen, aber was war mit den prachtvollen Parks, die heute so viele Menschen anziehen?

Mehr in Deutschland - Österreich - Schweiz

Für viele Westdeutsche war Potsdam ein Sehnsuchtsort, und viele kamen nach der Wende. Sie machten dann Bemerkungen, wie ungepflegt alles ist, die Blumen nicht bunt genug, die Wiesen nicht grün genug. Für uns war das schmerzhaft, denn wir kannten die Leute, die dort gearbeitet hatten, etwa im Park von Sanssouci, und wussten, was die anstellten, um das einigermaßen in Schuss zu halten. Es fehlte ja an allem. Selbst zerbrochene Fensterscheiben konnten länger nicht ersetzt werden. Auch hier hat sich also vieles geändert. Inzwischen wird es wieder hässlicher, weil die Oberen aus falsch verstandenem Populismus alles eintrittsfrei haben wollen. Die Parks werden vollkommen übernutzt.

In Rückblicken zeigt uns das Fernsehen oft Bilder der großen Demonstrationen des Herbstes 1989. Auch Sie und Ihre beiden Kinder waren damals aktiv und führend dabei. Das sieht heute alles so einfach aus: Ein Volk ging demonstrieren und der Staat brach zusammen. Was ging damals in den Menschen vor?

Für uns war es lebensgefährlich! Wir wussten ja nicht, was kommt. Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, gab es die erste große Demonstration der Wendezeit in Potsdam, meine Kinder Jeanne und Olaf gehörten zu den Organisatoren. Sie wohnten damals in einem besetzten Haus. "Alle waren furchtbar bleich und hatten Angst, überhaupt loszulaufen", sagte Olaf danach. Man hat seine Sachen geordnet, Wichtiges zu Freunden gebracht, die nicht zur Demonstration gingen. Dann gingen wir hin und rechneten damit, nicht mehr zurückzukommen.

Immerhin gab es ja im Juni das Massaker am Tiananmen-Platz in Peking und Egon Krenz hatte diese "chinesische Lösung" der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten ja auch für die DDR befürwortet ...

... und zwei Tage später, am 9. Oktober, ließ die Staatsführung in Leipzig die Panzer auffahren. Dann wurde es ganz, ganz heiß. Heute sieht es so aus, als habe quasi das ganze Volk demonstriert, abgesehen vielleicht von Staatsbediensteten und Parteileuten. Es waren aber bei diesen Demonstrationen insgesamt vielleicht einige Hunderttausend – von siebzehn Millionen! Es war aber die "kritische Masse".

Gleichzeitig zogen Menschen in großer Zahl nach Polen, Ungarn und Tschechien. Auch diese Menschen waren am Mauerfall beteiligt. Auch die anderen, die nicht zu den Demos, die nicht in den Westen gingen, waren tief unzufrieden. Ich habe Stasi-Leute und Parteileute kennengelernt, die sagten: So geht es nicht weiter. Diese Haltung war im Lande vorherrschend. Es war, wie Lenin gesagt hatte und wir in der Schule lernten: "Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen."

Heute wissen wir, dass es damals trotz aller Gefahr gut ausgegangen ist. Die überschäumende Freude beim Fall der Mauer rührt den Zuschauer und geht einem ja heute noch zu Herzen.

Ja, es war zunächst eine namenlose Freude, die viele kaum in Worte fassen konnten. Die Leute gingen durch die Straßen und lächelten und redeten miteinander, – was man jetzt schon lange nicht mehr sieht. Das Tor zur Freiheit war offen ...

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

Nun sind seither dreißig Jahre vergangen und heute sehen viele, gerade auch viele ehemalige DDR-Bürger, die damals demonstriert haben, diese Freiheit schon wieder in Gefahr. Sind die Ostdeutschen aufgrund ihrer Erfahrungen für Freiheitseinschränkungen besonders sensibel?

Ich glaube auch, dass man im Osten sensibler ist. Denken Sie an eine Bewegung wie "Pegida", bei der zunächst ganz überwiegend Menschen beteiligt waren, die nicht rechtsextrem sind. Auch die meisten, die in den "neuen Bundesländern" AFD wählen sind ja keine "Nazis". Sie haben das Gefühl, sich wehren zu müssen. Schauen Sie sich die Zeitungen an. Überall steht das Gleiche drin. Habe ich eine gelesen, habe ich alle gelesen. Auch im Fernsehen: Mehr oder weniger sind alle auf der gleichen Linie. Dann schaue ich ins Parlament und sehe, dass sich CDU, CSU, SPD, FDP und die Grünen in den wichtigen Fragen kaum unterscheiden. Bei solcher Einigkeit fällt vielen die DDR-"Volkskammer" wieder ein, in der es ja auch viele Parteien gab, die aber in allen Fragen "unter der Führung der SED" einig waren. Natürlich ist das heute nicht dasselbe, aber die Empfindlichkeit für solche Tendenzen ist bei uns einfach größer.

Wir hatten ja um die Wende herum noch die Volkskammer ganz lebendig erlebt, bevor dann Ende 1990 der gesamtdeutsche Bundestag gewählt wurde. Die Leute erinnern sich auch den Bundestag der Siebziger- und Achtzigerjahre. Ich habe als junger Mensch in der DDR im Radio Bundestagsdebatten gehört. Toll, was da los war. Die Redner hatten Profil. Heute kennt man die Leute ja gar nicht mehr. Selbst die Minister sind blasse, farblose Figuren. Deswegen wollten die Leute ja "nach Deutschland", obwohl sie wussten, dass es für sie auch schwer werden würde. Die Menschen in der DDR haben eben auch die Debatten verfolgt und nicht nur die Werbung. Es ist wirklich bösartig zu sagen, die Ostdeutschen seien nicht demokratiefähig, weil sie ja die Demokratie in der DDR nicht gelebt hätten, sie seien materialistisch und es sei ihnen nur um Bananen gegangen.

Zur Zeit der Wiedervereinigung waren Sie fast 48 Jahre alt. Während Rentner meist sehr gut gestellt wurden und sich jungen Menschen viele Möglichkeiten boten, gehörten Sie zu der Generation, denen ein Neuanfang nicht mehr so leichtfiel. Wie haben Sie das erlebt?

Ja, das war schwer. Ich bin rumgelaufen und suchte nach Arbeit, aber ich war "unqualifiziert" für die Anforderungen, die jetzt gestellt wurden. Das war auch ein Preis für die Freiheit.

Freunde aus Wuppertal sagten: Du kannst in diesem neuen Deutschland nicht mehr als freischaffende Autorin leben. Dort kannte man ich, hier kennt dich keiner. Sie organisierten mir eine Stelle als Geschäftsführerin eines Verlages, der zu Bertelsmann gehörte. Aber ich sagte mir: Du kannst jetzt nicht weglaufen. Du bist vierzig Jahre lang nicht weggelaufen aus diesem Land, trotz aller Schwierigkeiten. Jetzt gehst du nach Wuppertal und für die Wuppertaler liegt Potsdam sozusagen direkt neben dem Ural. Die haben keine Ahnung und interessieren sich auch nicht dafür. Du wirst dort heimatlos sein. Als Vertriebene habe ich auch einen besonderen Sensus dafür, was es heißt, "zuhause" zu sein. Zum Entsetzen meiner Freunde habe ich dann abgesagt und bin hiergeblieben.

Ohne schon zu wissen, wie es weitergehen würde?

Ich habe eben Klinken geputzt. Es kannten mich ja viele, auch aus der Wendezeit. Wenn jemand von den eingeborenen Potsdamern einen Posten ergattert hatte, war das meist ein "weicher" Posten, etwas mit Kultur oder so. Diese Leute sagten: Es ist furchtbar traurig, aber wir haben auch nichts für Dich. Ich fand dann eine Stelle beim Potsdamer Magistrat und wurde mit der Herausgabe eines Festbuchs zur Potsdamer 1000-Jahr-Feier betraut. Als das beendet war, sagte mir ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes: Sie gehören zu den Problemfällen. Frau über fünfzig und aus dem Osten. Da war mir klar: Da brauchst du nicht wieder hin. Der Mann war nicht böse, das war einfach die Situation.

Kam dann nicht wieder Sehnsucht nach den "Fleischtöpfen Ägyptens"?

Nein, ich habe mich trotzdem gefreut. Meine Kinder sind in die Welt aufgebrochen. Die waren Anfang zwanzig. Und ich habe auch meinen Platz gefunden und habe das gemacht, was ich machen wollte.

Sie haben sich Ihren Platz dann selbst geschaffen, als Mitgründerin des "Brandenburgischen Literaturbüros". Das war eine Lobby für die Literatur, nachdem Verlage abgewickelt und Bibliotheken reihenweise geschlossen worden waren. Sie holten Autoren aus ganz Deutschland und dem Ausland nach Brandenburg, organisierten Lesungen, um den Horizont der Menschen zu erweitern und Interesse an Literatur zu wecken. Dadurch kamen Sie in Kontakt mit etlichen Geistesgrößen und originellen Köpfen. Wären organisierte Lesungen für Autoren außerhalb des "Mainstreams" heute überhaupt noch möglich?

Die geistige Situation hat sich seit damals verändert, obwohl es auch damals nicht so einfach war. Immerhin konnte man in den Jahren nach der Wende abweichende Standpunkte noch in der Zeitung verteidigen. So schrieb ich nach der Ausladung eines als "rechts" geltenden Chefredakteurs von einer Podiumsdiskussion mit Alfred Grossèr, mir selbst und anderen Persönlichkeiten eines breiten Meinungsspektrums einen Artikel über Toleranz, der in den Potsdamer Neuesten Nachrichten veröffentlicht wurde. Daraufhin rief ein hoher Funktionär der damals schon in Brandenburg regierenden SPD bei mir an und forderte mich auf, meinen Artikel öffentlich zurückzunehmen. Das habe ich abgelehnt. Ich dachte: Wir haben doch jetzt Meinungsfreiheit.

Wenn ich damals etwas zur Zeitung brachte, dann wurde das veröffentlicht. Diese Zeiten sind lange vorbei. Das geistige Leben erstarrt immer mehr, es ist eigentlich tot. Natürlich gibt es noch geistiges Leben in gewissen Kreisen. Aber was als Hauptstrom in Presse und Fernsehen erkennbar ist, die öffentliche Diskussion, die gibt es nur noch sehr eingeschränkt.

Im Mai 2020 wurde Barbara Borchardt in das Landesverfassungsgericht von Mecklenburg-Vorpommern gewählt. Frau Borchardt, die noch 1990 ein Fernstudium zur DDR-Juristin abgeschlossen hatte, war fast nur in politischen Funktionen tätig. Neben einer Parteikarriere in SED/PDS/Die Linke ist sie Gründungsmitglied der laut Verfassungsschutz linksextremen Gruppierung "Antikapitalistische Linke", die einen "grundsätzlichen Systemwechsel" anstrebt. Die Mauer hält sie nach wie vor für "alternativlos". Was denken Sie, wenn Sie solche Nachrichten hören?

Da bin ich (ver-)fassungslos (lacht). Das Verrückte ist ja, dass fast zur selben Zeit eine Altersgenossin von Frau Borchardt, die Bürgerrechtlerin Angelika Barbe, unter entwürdigenden Umständen auf dem Alexanderplatz verhaftet wurde. Ausgerechnet auf dem Alexanderplatz, wo noch im Sommer 1989 Leute verhaftet worden sind, die gegen die Wahlfälschungen in der DDR demonstriert hatten. Diese patente Frau, die ich aus DDR-Zeiten kenne, gehörte dem 1990 gewählten Deutschen Bundestag noch als SPD-Mitglied an, heute ist sie in der CDU. Sie war beim Einkaufen stehen geblieben, um zu hören, wofür da die "Antifa" gerade demonstrierte. Die Polizei wollte den Platz um die Demo herum freimachen. Weil Frau Barbe wegen einer vorherigen Knie-OP noch nicht schnell gehen konnte, worauf sie die Polizisten hinwies, schleifte man sie förmlich über den Platz. Die bedrückenden Bilder sind im Internet zu sehen. Bei der Wende standen beide Frauen auf gegensätzlichen Seiten. Diese Ereignisse sind ein Menetekel.

Wie ist es möglich, dass sich das geistige Klima in so kurzer Zeit derart geändert hat, dass man die Erben der SED-Diktatur heute in mildes Licht taucht und Bürgerrechtler ins Abseits stellt?

Ich glaube, es ist der unheilvollen Allianz geschuldet zwischen SED-Leuten wie Barbara Borchardt und den "Alt-Achtundsechzigern" – damals ein Fremdwort für uns – die den Marsch durch die Institutionen durchlaufen hatten und nun hier in der oberen Verwaltungsebene und in den Universitäten angelandet waren. Nach Brandenburg kamen vor allem Leute aus Nordrhein-Westfalen. Jeder aus dem Osten konnte ihnen vorjammern, wie furchtbar es ihnen ergangen ist. Man hatte sie entlassen, sie waren ja nur in der SED, aber sie wollten natürlich immer nur das Allerbeste. Die Zuzügler aus dem Westen hatten sich ja früher nicht für den Osten interessiert. Sie konnten nicht unterscheiden zwischen Menschen guten Willens und ehemaligen Stasi-Leuten.

Wird diese milde Betrachtung von DDR und SED und die zunehmende Einheitlichkeit in Parteien und Medien, von der Sie sprachen, auch von einer Sehnsucht vieler Menschen unterstützt, sich wieder in Kollektive einzuordnen? Es gab ja den SED-Slogan "Vom Ich zum Wir", mit dem der Einzelne zu einem Bestandteil einer gesichtslosen Masse hätte werden sollen.

Es ist eine menschliche Eigenschaft: In der Herde fühlt man sich sicherer, da ist es wärmer. Schafe wollen die Menschen zwar nicht sein, darum spricht man dann immer davon, wie bei uns alles bunt und individuell sei. Je mehr aber die Leute davon sprechen, desto mehr sind sie vermasst. Während mich die Kirche angezogen hat, weil ich dort ein Individuum bleiben kann. Gott liebt mich so wie ich bin, er liebt nicht die Gemeinde, das Volk, sondern er liebt jeden Menschen. Jeder Mensch ist ein Gedanke Gottes. In der Kirche kann ich eine einzigartige Persönlichkeit sein und zugleich einer Gemeinde angehören. Aber in der Vermassung "Vom Ich zum Wir" soll ich nicht ich bleiben, sondern ich soll so sein wie alle. Nach christlicher Offenbarung gehört aber beides zusammen: Individualität und Gemeinschaft.

Sie sprechen Ihren katholischen Glauben an, ein Glaube, dem Sie sich in jungen Jahren entfremdet hatten. Wie haben Sie sich Glaube und Kirche wieder angenähert?

Nachdem ich im Alter von sechzehn, siebzehn geradezu gegen die Kirche gekämpft hatte, hat sie mich nicht mehr interessiert. Aber Gott hat mich nicht aus den Augen verloren. Der Umschwung trat mit dem Tod meines Mannes Hasso im Jahr 1976 ein. Da war ich 33. Wenige Tage nach seinem Tod hatte ich einen Traum. Mein Mann sagte: "Wir fahren nach Rom." Wir gingen in ein Reisebüro, das die Reise nicht buchen wollte. Auf eine Bemerkung meines Mannes hin sagte die Frau am Schalter: "Wo steht denn geschrieben, das Liebe berechtigt, ins westliche Ausland zu reisen." Hasso schlug sich an die Brust und sagte: "Hier steht’s geschrieben!" Sogleich ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher: "Genehmigt!" Hasso schwärmte von den Sehenswürdigkeiten Roms und ich sagte: "Aber du wirst tot sein, ehe wir fahren können." Hasso entfernte sich lächelnd und ich wachte auf.

Was machte diesen Traum so besonders?

Erstens hatten wir nie über Rom gesprochen, zweitens war eine solche "Westreise" ohne besonderen Anlass ganz undenkbar, zumal für uns, die wir unter Beobachtung der Stasi standen. Aber trotz allem und obwohl ich ihn niemandem erzählte, hatte ich diesen Traum nicht vergessen. Vier Jahre später an der Kaffeetafel einer Freundin zeigte uns ein "Westbesuch" Fotos aus Italien und plötzlich drängte es mich, diesen Traum zu erzählen, nicht ohne ein Gefühl von Peinlichkeit über eine solche Selbstoffenbarung.

Aber was geschah? Gerda, so hieß die Besucherin aus Wuppertal, die später meine Freundin wurde, eine evangelische Christin, meldete sich vierzehn Tage später und bot mir an, die Kosten für eine vierzehntägige Romreise zu übernehmen. Dass ich dafür tatsächlich die staatliche Genehmigung erhielt, war weiteren Wundern geschuldet, die ich in meinem Buch "Jahrgang `42" erzähle. In Rom spürte ich Hassos ständige Anwesenheit, ohne dass meine Einbildung sich darum bemüht hätte. Im Hotel angekommen, nahm ich einen Kleiderbügel aus dem Schrank, und stand sein Name drauf: "Hasso". Diesen Kleiderbügel habe ich heute noch.

Rom, genauer die Kapelle der Ungarn in der Peterskirche, wurde zum Ort meiner Bekehrung. In den frühen Morgenstunden ging ich auf die Knie. Voll Dankbarkeit und jubelnder Freude verließ ich die Kapelle. Das war am Anfang wirklich eine Glücksbeziehung. Ich bin frei, ich bin endlich frei. Ich glaube an Gott.

Manch andere eindrucksvolle Begebenheit auf Ihrem Glaubensweg findet man in Ihrem Buch. Wichtig für Sie war wohl auch die Wahl von Karol Wojtyla zum Papst. Warum?

Ich habe alle Hoffnung auf ihn gesetzt, weil ich dachte: Der kommt aus dem Osten. Der versteht uns. Den wickeln sie im Westen nicht ein mit "friedlicher Koexistenz" und "wir lieben uns doch alle".

"Die Lehre von Marx ist allmächtig weil sie wahr ist." Das stand in großen Lettern an der Post in Potsdam. Diese staatsreligiöse Hybris fand ich lächerlich. Ich schaute mit einem anderen Blick auf die Welt. 1988 habe ich mich dann in der Gemeinde zurückgemeldet. Drei Jahre später kam ich dann darauf, dass ich zwar getauft, aber nicht gefirmt war. Weil ich inzwischen den Bischof Hubertus Brandenburg in Stockholm kannte, weil ich dort wegen Recherchen zu meinem Buch "Christina von Schweden" war, habe ich ihn gebeten, mich zu firmen. Das tat er dann auch, mit einer wunderbaren Predigt, in seiner Privatkapelle. Dann war ich endgültig angekommen.

Schon lange sind Sie jetzt aktives Mitglied Ihrer Potsdamer Gemeinde. Was zeichnet die katholischen Gemeinden in den neuen Bundesländern aus?

Die Katholiken, die ich in der DDR kennengelernt habe, waren eine kampferprobte Schar. Sie machten nicht groß Politik, das konnten sie gar nicht, aber sie standen für ihren Glauben ein. Ihre Kinder waren nicht in der Staatsjugend FDJ. Sie gingen nicht zur Jugendweihe. Sie durften, von Ausnahmen abgesehen, nicht studieren. So suchten sie sich eben andere Wege. Aber sie hielten zusammen. Und sie waren immer für Ihre Gemeinde da. Vieles was im Westen gelaufen ist, ist an uns hier vorbeigegangen, etwa die Bestrebungen von "Wir sind Kirche" oder das österreichische "Kirchenvolksbegehren".

Nach der Wende kamen Katholiken aus dem Westen. Sie verhielten sich unterschiedlich. Einer sagte mir: "Seitdem ich hier in der Gemeinde bin, habe ich erst begriffen, was Katholischsein heißt." Und es kamen Leute wie Professor Wolfgang Loschelder, der Rektor an der Universität Potsdam wurde, ein tiefgläubiger Katholik, der jeden Sonntag in die Messe kam, ein Mann von Format. Aber es kamen auch ganz andere, die fanden: "Die Katholiken hier sind piefig, sie sind rückständig und reaktionär. Man muss ihnen Demokratie beibringen."

In Ihrer Kolumne im Vatican-Magazin zitierten Sie einmal einen Bekannten mit der Aussage: "Diese Kirche verkommt zur Schwatzbude. Diskussionen ohne Ende, als ob es nicht die Bibel, den Katechismus und das päpstliche Lehramt gäbe. Ich habe das so satt. Manchmal sehne ich mich in die DDR zurück. Da erfuhren wir Trost und Stärkung durch die Kirche ..." War es trotz aller Diskriminierung in der DDR in gewisser Weise leichter für die Katholiken, ihren Glauben zu bewahren als heute?

Viel leichter (lacht)!

Wir wissen ja, dass Papst Johannes Paul II. entscheidenden Einfluss auf den Untergang des Kommunismus östlich des Eisernen Vorhangs hatte. Auch in der DDR schreibt man den Kirchen einen großen Anteil an der Wende zu. Mit Recht?

Man hat nach der Wende gesagt: "Die Kirchen sind die Mutter der Revolution." Das war Unsinn. Einige evangelische Pfarreien und ein paar mutige Pfarrer haben ihre Kirchen geöffnet, etwa die Zionskirche in Berlin, in Potsdam die Erlöserkirche. Da strömten vor allem junge Leute hin, die unzufrieden waren. Das war schön und sehr wichtig, dieses Verdienst ist unvergessen. Die Pfarrer dort handelten aber nicht in Übereinstimmung mit ihren Kirchenleitungen.

Und die Katholiken?

Bei den Katholiken war ich zunächst enttäuscht: Da "brannte die Luft" und dann steht da der Pfarrer in Potsdam vorne und bleibt eisern bei seiner Auslegung des Evangeliumstextes, ohne auch nur im Mindesten auf die politische Situation einzugehen. Aber wie entwickelte sich die Zeit weiter? Die Kirchen, die für den Protest offen waren, leerten sich wieder. Die Unzufriedenen waren also nicht gläubig geworden. Die Kirchen waren ein Schutzraum für sie - nicht weniger, aber auch nicht mehr. In der katholischen Kirche sind die Leute aber geblieben. Mir wurde klar, dass es nicht Aufgabe des Pfarrers ist, politische Verkündigung zu treiben, wie es viele heute tun, wenn sie über Flüchtlinge, Klima oder Umwelt sprechen. Da laufen die Leute weg, weil sie das auch anderswo zur Genüge hören können. Uns wurde ein solides Glaubenswissen vermittelt. Aber es ist mehr: Wir gehen in die Messe, um Kraft zu bekommen durch den Glauben, durch Jesus Christus. Dann geht man hinaus in den Alltag und besteht ihn im Lichte des Glaubens.  

Sie haben die Entwicklung der Kirche nach der Wende aufmerksam begleitet. Wie beurteilen Sie die heutigen Versuche der Kirche in Deutschland, wieder attraktiver zu werden. Was halten Sie vom "synodalen Weg", mit dem die Deutsche Bischofskonferenz und das "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" nach eigenem Bekunden Wege zu einer "Umkehr und Erneuerung der Kirche" suchen wollen?

Ich bemühe mich seit Jahren redlich zu verstehen, was diese Kirchenoberen von mir wollen. Ich habe immer nur gehört: Strukturprozess, pastoraler Prozess, Dialogprozess, synodaler Prozess. Mit dieser Sprache der Kirche kann ich nichts anfangen. Ich kann so auch nicht mit den Leuten in der Gemeinde reden. Im Gegensatz zu mir lesen die meisten das ja schon lange nicht mehr. Sie wissen gar nicht, was da abläuft, aber sie wissen, dass die Pfarreien zusammengelegt werden, dass der Pfarrer nur noch über ein Nottelefon zu erreichen ist, dass man nicht einfach mal beim Pfarrer anrufen kann wie bisher bei uns. Diese "Amtskirche" lebt an den Gläubigen vorbei und der Gläubige muss alle Kraft aufwenden, um seinen Glauben zu bewahren – oft gegen die Amtskirche.

Der Meinungskorridor in Deutschland wird enger, manche Entwicklungen in Deutschland erinnern Sie an Zustände, gegen die Sie und viele andere 1989/1990 auf die Straßen gegangen sind. Die Kirche bietet nach Ihrem Empfinden auch nicht mehr die Heimat, die Sie ihren Gläubigen noch in der DDR-Zeit gewesen ist. Wie können Christen in dieser Lage vielleicht sogar wieder zur "kritischen Masse" werden, zur "kreativen Minderheit", von der Papst Benedikt XVI. gern gesprochen hat, die auch der Gesellschaft wieder Orientierung geben kann?

Joseph Ratzinger sagt seit 1958 wie das gehen wird. Eigentlich ist es einfach: Es ist das Gebet. Es ist die Gelassenheit. Es ist die Gemeinschaft. Wir haben das in der Corona-Krise erlebt. Ich bin mal allein, mal mit zweien, mal mit dreien in die Kirche gegangen, in der keine Gottesdienste stattfinden durften, die aber Gott sei Dank geöffnet war, und wir haben den Rosenkranz gebetet - damit der Herr nicht so alleine ist in der Kirche. Es gibt bei uns Gebetsgruppen, in denen für die Gemeinde und die Pfarrer gebetet wird.

Dann gibt es Priester, trotz verbotener Gottesdienste Wege fanden, Gläubige mit den Sakramenten zu stärken. Die kreative Minderheit wird sich aus den Menschen bilden, für die der Glaube essenziell ist. Christen müssen das Salz der Erde bleiben. Diejenigen, denen es mit ihrem Glauben ernst ist, werden als erstes das Gebet und die Gemeinschaft suchen. Was dann daraus wird, liegt nicht in unserer Hand. Es ist wichtig, einfach standhaft zu bleiben und seinen Weg zu gehen. Wenn man standhaft ist und seinen Weg geht, trifft man immer Gefährten.   

Frau Dr. Grabner, herzlichen Dank für das Gespräch und Gottes Segen!

"Katholische Stimme des Ostens"

Sigrid Grabner ist 1942 geboren, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Potsdam. Nach der Wende wirkte die Autorin im Potsdamer Magistrat und als Geschäftsführerin des Brandenburgischen Literaturbüros. Von 2010-2013 war sie als Kolumnistin die "ostdeutsche Stimme" im VATICAN-Magazin.

Aus der in zwei Teilen im Fe-Medienverlag erschienenen Autobiographie erfährt man mehr über die DDR, die Zeit der Wende und die Entwicklung im vereinigten Deutschland als aus vielen Leitartikeln und Büchern. Spannend schildern sie auch den Weg der Autorin zurück zu Glaube und Kirche. Außerdem veröffentlichte Sigrid Grabner bei FE-Medien zuletzt: Sie machte Frieden: Maria Theresia und andere Erzählungen.

Zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 2020 sendet der katholische Fernsehsender EWTN.TV ein Gespräch von Michael Ragg mit Sigrid Grabner.

Das könnte Sie auch interessieren:

https://twitter.com/cnadeutsch/status/1110081719661723653?s=20