Kirchenkrise und Sexualmoral: Ein Interview mit Kardinal Brandmüller

Kardinal Walter Brandmüller
CNA/Martha Calderon

Aufregung in den Sozialen Medien hat eine Meldung der "Deutschen Presse-Agentur" erzeugt, in der Zitate von Kardinal Walter Brandmüller zur Kirchenkrise veröffentlicht wurden: Was meint der deutsche Kurienkardinal damit, wenn er sagt, dass Missbrauch kein spezifisch katholisches Problem ist? 

Im Interview mit CNA Deutsch erklärt der renommierte Kirchenhistoriker worum es ihm geht - und verweist auf Ursachen der Kirchenkrise sowie mögliche Lösungswege.

Herr Kardinal, kurzfristige Aufregung hat die Meldung der DPA ausgelöst. Wie gehen sie mit der Berichterstattung und den Reaktionen um?

Was in weltlichen Medien aus Aussagen gemacht wird, die nicht dem Weltbild der Journalisten entsprechen, welche diese berichten, das wirft schon Fragen auf. Mir ging es aber um andere Skandale, die wichtiger sind als der Umgang mit meiner Person.

Sie meinen die Missbrauchsskandale und deren Vertuschung.

Nun, ich meine, der eigentliche Skandal ist, dass Klerus und kirchliches Personal sich auch in diesem Punkt nicht klar genug von der gesamten Gesellschaft unterscheiden. Obwohl der Apostel Paulus die Römer ermahnt "gleicht euch nicht dieser Welt an". Sexueller Missbrauch – in welcher Form auch immer – ist aber alles andere als ein spezifisch katholisches Phänomen. 

Wie ist das in diesem Kontext zu verstehen?

Die jahrzehntelange Sexualisierung der Gesellschaft – man denke an Oswald Kolle und Beate Uhse – ist auch an den Katholiken und ihrem kirchlichen Personal nicht spurlos vorübergegangen. Diese Feststellung mag die Abscheulichkeit des Vorgefallenen erklären helfen, keinesfalls jedoch entschuldigen!

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Thema ist die Rolle und das Selbstverständnis des Klerus.

Zunächst muss mit Nachdruck betont werden: Die weltweit hunderttausende von Priestern und Ordensleuten dienen treu und selbstlos Gott und den Menschen. Sie unter Generalverdacht zu stellen ist ebenso beleidigend wie ungerechtfertigt, bedenkt man den verschwindenden Prozentsatz von Missbrauchstätern. Ebenso wirklichkeitsverengend ist es obendrein, dabei nur auf die katholische Kirche zu blicken.

Aber es muss doch differenziert werden zwischen Missbrauch in Kirche und Gesellschaft?

Unbedingt. Nicht weniger wirklichkeitsfremd wäre es, zu vergessen oder zu verschweigen, dass 80 Prozent der Missbrauchsfälle im kirchlichen Umfeld männliche Jugendliche, nicht Kinder, betrafen. Dieser Zusammenhang zwischen Missbrauch und Homosexualität ist statistisch erwiesen – aber das hat nichts mit Homophobie zu tun, was immer man darunter verstehen mag.

Wie kann sexuelles Fehlverhalten und Missbrauch grundsätzlich vermieden werden? Egal ob gegenüber Minderjährigen oder Erwachsenen, Männern oder Frauen?

Zunächst wird es notwendig sein, noch vor jeder religiösen Begründung, die sich aus der Natur des Menschen als Mann und Frau ergebenden Grundsätze geschlechtlicher Sittlichkeit erneut und vertieft zu verstehen. Johannes Paul II. hat mit seiner Theologie des Leibes hierzu Wegweisendes gesagt.

Das gilt dann auch und gerade für den Klerus und kirchliche Angestellte, aber etwa auch Lehrer, die das ja sowohl lehren als auch vorleben müssten, oder?

In der Tat ist diese Lehre Johannes Pauls II. auch der Auswahl und der Ausbildung künftiger Priester und Religionslehrer zu Grunde zu legen. Sodann ist auf deren psycho-physische Konstitution zu achten. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es bei alledem nicht nur um Psychologie und Soziologie geht, sondern vielmehr um das Erkennen einer wirklichen von Gott kommenden Berufung. Auch und gerade bei Priestern! Erst wenn diese Gesichtspunkte gebührend gewichtet und berücksichtigt sind, kann die Zulassung eines Kandidaten zur Weihe erfolgen. So sagt auch mehrfach Papst Franziskus.

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Nebenbei bemerkt: Eine so geübte Strenge bei der Auswahl der Kandidaten bewirkt erfahrungsgemäß auch höhere Attraktivität des Priesterberufes.

Das entscheiden die Bischöfe. Sie spielen also eine Schlüsselrolle, oder?

Die gegenwärtige Krise kann nur bewältigt werden, wenn vor allem die Bischöfe sie als Aufruf und Ansporn zu einem neuen aus den Wurzeln des Glaubens erwachsenden geistlichen Aufbruch begreifen. Muss es nicht auch erstaunen, dass gerade die "klassischen" Seminare sogenannter traditionalistischer Gemeinschaften namentlich, aber nicht nur in Frankreich, keinen Mangel an Studenten kennen? Warum also nicht dieses Erfolgsmodell übernehmen? 

Angesichts der Krise ist nicht nur das Vertrauen vieler Menschen in die Kirche als moralische Institution schwer erschüttert. Viele Gläubige stellen die Frage, wohin diese eigentlich steuert.

Ich frage mich: Steuert sie überhaupt? Sind wir nicht vielmehr von widersprüchlichen Strömungen hin- und her geworfen? Kann man da überhaupt einen Kurs erkennen?

Es ist jedenfalls offenkundig, dass – zumindest im westlichen Mitteleuropa – kirchliche Stellungnahmen mehr oder weniger auf der Linie des gesellschaftlichen Mainstreams liegen und rein weltliche Gesichtspunkte nicht selten Reden und Handeln kirchlicher Autoritäten bestimmen, anstatt Benedikt XVI. zu folgen, der in seiner Freiburger Rede 2011 von der notwendigen Entweltlichung der Kirche gesprochen und damit schon damals Unverständnis ja Missbilligung erfahren hat.

Mittlerweile wurden selbst von einigen Bischöfen namentlich auf dem Gebiet der Moral Auffassungen vertreten, die der Heiligen Schrift, diametral widersprechen. Damit aber entfernt man sich von der Existenzgrundlage der Kirche.

Die Kirche und ihre Grundlagen sind also nach wie vor da?

Natürlich. Und natürlich ist es umso peinlicher, wenn dann eine finanziell potente, geistlich aber dahinschwindende Kirche Deutschlands meint, die "ärmeren Geschwister" schulmeistern zu sollen, ausgerechnet da, wo die Kirche eine Zeit geistlicher Vitalität und Wachstums erlebt, also im Osten, Nordosten Europas und Weltregionen wie Afrika und Asien. Bemerkenswert sind aber auch im Westen viele religiöse Aufbrüche in der Jugend, die sich von dem sie umgebenden Niedergang nicht beeindrucken lässt. "Fluctuat nec mergitur" – Das steht auf dem Wappen der Stadt Paris, das ein Schiff auf hochgehenden Wogen zeigt: Von diesen hin- und hergeworfen geht es doch nicht unter! In der Tat ist Jesus Christus selbst an Bord, auch wenn er zu schlafen scheint. Ein Bild der Kirche.

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