Weihnachtliches Aug-in-Aug mit Gottes Menschen

Die Predigt an Heiligabend, 24. Dezember 2016, in der Kirche des Campo Santo Teutonico von Kardinal Kurt Koch

Der Schweizer Kardinal Kurt Koch ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Der ehemalige Bischof von Basel hat über 60 Bücher und Schriften verfasst, darunter Mut des Glaubens (1979) und Eucharistie (2005).
CNA/Paul Badde

An Heiligabend hat Kardinal Kurt Koch in der Kirche Santa Maria della Pietà auf dem Campo Santo Teutonico die Christmette gefeiert. CNA dokumentiert den Wortlaut der Predigt, mit freundlicher Genehmigung von Kardinal Koch.

Kleine Kinder spielen gerne, zumal nach Erhalt der erwarteten Weihnachtsgeschenke, und zwar am allerliebsten auf allen Vieren am Boden. Eltern und überhaupt Menschen, die sich gerne mit kleinen Kindern abgeben, wissen dies aus eigener Erfahrung. Wenn sie den Kindern eine Freude machen wollen, spielen sie mit ihnen. Dazu müssen sie freilich eine Bewegung vollziehen, die für erwachsene Menschen eher ungewohnt ist: Sie müssen sich auf den Boden niederknien, um dem kleinen Kind auf der gleichen Augenhöhe begegnen zu können. Nur so können sie mit dem Kind spielen. Diese Körperbewegung ist bei erwachsenen Menschen ansonsten nicht sonderlich beliebt. Im Alltag und im Konkurrenzverhalten in der heutigen Leistungsgesellschaft pflegen erwachsene Menschen anderen Menschen nicht gerne auf der gleichen Augenhöhe zu begegnen. Die Blickrichtung von oben nach unten und von unten nach oben scheint vielmehr vorzuherrschen. So jedenfalls nimmt sich der Blickkontakt zwischen Vor-Gesetzten und Unter-Gebenen aus. Doch wenn dieselben erwachsenen Menschen mit Kindern spielen wollen, bleiben nur das Niederknien und das Aug-in-Aug mit den Kindern auf derselben Blickhöhe.

Gott und Mensch auf derselben Augenhöhe

In dieser auf den ersten Blick unscheinbaren, tiefer gesehen aber bedeutungsvollen Körperbewegung erwachsener Menschen drückt sich das Geheimnis von Weihnachten aus. Wenn Eltern sich auf den Boden niederknien, um mit dem Kind Aug-in-Aug zu spielen, dann vollziehen sie nämlich genau jene Bewegung nach, die Gott selbst an Weihnachten zuerst inszeniert hat. Um uns Menschen so nahe wie möglich sein zu können, hat der unendliche und ewige Gott den Himmel verlassen; er hat sich auf den sehr irdischen Boden von uns Menschen niedergekniet, um seinen Menschenkindern auf derselben Augenhöhe begegnen zu können. Dieses Aug-in-Aug Gottes mit uns Menschen ist das Weihnachtswunder schlechthin, wie es der Nürnberger Kantor Nikolaus Hermann im 16. Jahrhundert mit seinem bekannten Lied "Lobt Gott, ihr Christen alle gleich" sehr schön zum Ausdruck gebracht hat: Gott "entäussert sich all seiner Gwalt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding, der Schöpfer aller Ding."[2] In diesem grandios-demütigen Hinabstieg Gottes zu uns Menschen besteht der Kern des Weihnachtsgeheimnisses: Gott selbst kniet sich auf den Boden von uns Menschen nieder, um uns auf der gleichen Augenhöhe zu begegnen. Indem Gott selbst uns Aug-in-Aug begegnet, bietet er uns sein menschenfreundliches Du an.

Gott vollzieht damit eine Bewegung, die zu derjenigen von uns Menschen im alltäglichen Verhalten quer steht. Denn wir Menschen halten es so oft mit unserem Menschsein nicht aus und wollen werden wie Gott. Wir stehen immer wieder in der Versuchung, unser Menschsein zu verlassen und uns in die Welt Gottes zu erheben, um auf seiner Augenhöhe sein und ihm unser Du anbieten zu können. Dies zeigt sich vornehmlich darin, dass wir uns selbst zum Masstab aller Dinge erheben und uns als Herren und Herrinnen über Leben und Tod inthronisieren. Mit diesem Unterfangen streben wir danach, die verführerische Verheissung der Schlange im Paradiesesgarten endlich und endgültig einlösen zu können: "Eritis sicut Deus"  - "Ihr werdet wie Gott" (Gen 3, 5). In diesem halsbrecherischen Versuch des Menschen diagnostiziert die biblische Botschaft aber die Ursünde des Menschen. Denn diese besteht genau in der vom Menschen vorgenommenen Verwischung des grundlegenden Unterschiedes zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung. Wird dieser Unterschied von uns Menschen geleugnet und mit unserem Verhalten weggestrichen, dann wird sich der Mensch selbst zum Herrn des Lebens aufschwingen, das Geschöpf selbst anbeten und damit Götzendienst betreiben. Genau darin liegt der moderne "Glaube" des Menschen an seine eigene Allmacht, den man als "Gotteskomplex" bezeichnen muss: "Gott geht verloren, der Mensch will selbst Gott sein."[3]

Auf dieses halsbrecherische Unternehmen des Menschen antwortet aber Gott selbst an Weihnachten mit seiner befreienden Gegenbewegung. Darin liegt die revolutionäre Kehrtwendung an Weihnachten, wie sie der Reformator Martin Luther treffend ausgesprochen hat: "Weil wir in Adam unsere Menschlichkeit verliessen, um zur Gottähnlichkeit aufzusteigen, verliess Gott seine Göttlichkeit und stieg in Christus in unser Fleisch hinab und brachte uns unsere verlassene Menschlichkeit zurück." Während der Mensch den Aufstand gegen Gott probt, macht Gott seinen Einstand im Niederstieg auf den Boden der menschlichen Realität. Und während der Mensch es mit seiner Geschöpflichkeit nicht aushält und deshalb werden will wie Gott, steigt Gott umgekehrt in unser Fleisch hinab und bringt uns unsere verlassene Menschlichkeit zurück. Gott selbst geht in seine Schöpfung ein und wird gleichsam selbst Geschöpf. Damit heiligt er die Schöpfung und verleiht unserer Geschöpflichkeit eine Würde, die in uns nicht mehr den wahnwitzigen Trieb aufkommen lässt, werden zu wollen wie Gott. Diese Würde beflügelt uns vielmehr dazu, endlich Menschen zu werden und uns dankbar zu der elementarsten Tatsache unseres Lebens zu bekennen, dass wir Geschöpfe Gottes sind und dass dies vollauf genügt.

Auf der Augenhöhe von Hirtenmenschen

In den Hirten, die herbeilaufen, um das Kund zu sehen,  dürfen wir Menschen uns auch heute wiederfinden. Damit ist freilich nun uns jene Bewegungsrichtung zugemutet, die Eltern vollziehen, wenn sie mit ihrem Kind spielen und sich dazu auf den Boden niederknien, um ihm in Augenhöhe zu begegnen. Nun sind wir am Zug mit dem Niederknien. Wenn sich Gott nämlich auf den Boden niederlässt, und zwar auf den Boden von Hirtenmenschen, um ihnen Aug-in-Aug nahe zu sein, dann werden wir diesen Gott verfehlen, wenn wir aufrecht stehen bleiben und uns für zu gut halten, uns zu bücken und Gott dort zu finden, wo er sich uns zeigt. Wenn Gott tief hinab geht, werden wir kein Rendez-Vous mit ihm haben können, wenn wir hoch hinaus wollen. Wenn uns Gott auf Augenhöhe begegnen will, ist es nun an uns, uns zu ihm hin zu bücken, vor ihm niederzuknien und ihn in Bodennähe anzubeten. Denn ohne Kniebeuge zu Gottes Gegenwart am Boden gibt es kein Aug-in-Aug mit jenem Gott, der sich zuvor zu uns hin niedergekniet hat. Mit dem weihnachtlich offenbaren Gott auf der gleichen Augenhöhe zu sein, ist nur möglich aufgrund unseres eigenen Niederkniens.

Im Niederknien vor dem Kind in der Krippe, um mit ihm Aug-in-Aug sein zu können, besteht die adäquate Antwort von uns Menschen auf die weihnachtliche Bewegungsrichtung Gottes. In die Knie gehen und anbeten fällt freilich dem heutigen Menschen nicht leicht. Denn er hat Angst, dabei das Rückgrat zu verlieren. Wenn wir aber vor dem weihnachtlich offenbaren Gott in die Knie gehen, dann tun wir es vor dem, dem wir gerade den aufrechten Gang und das starke Rückgrat verdanken. Weihnachten enthält für uns deshalb auch die tröstliche und zugleich herausfordernde Botschaft, dass wir Menschen vor niemandem in die Knie gehen dürfen als vor Gott, und zwar vor jenem Gott, der sich selbst zu uns herniederbückt, um uns in die Augen zu sehen.

Im Niederknien vor dem Kind in der Krippe, um mit ihm Aug-in-Aug sein zu können, besteht die adäquate Antwort von uns Menschen auf die weihnachtliche Bewegungsrichtung Gottes. In die Knie gehen und anbeten fällt freilich dem heutigen Menschen nicht leicht. Denn er hat Angst, dabei das Rückgrat zu verlieren. Wenn wir aber vor dem weihnachtlich offenbaren Gott in die Knie gehen, dann tun wir es vor dem, dem wir gerade den aufrechten Gang und das starke Rückgrat verdanken. Weihnachten enthält für uns deshalb auch die tröstliche und zugleich herausfordernde Botschaft, dass wir Menschen vor niemandem in die Knie gehen dürfen als vor Gott, und zwar vor jenem Gott, der sich selbst zu uns herniederbückt, um uns in die Augen zu sehen.

Die Heilige Nacht offenbart uns die grossartige Demut Gottes und lädt auch uns ein, die Demut Gott gegenüber von Grund auf neu zu erlernen. Nehmen wir in dieser Heiligen Nacht die Demut Gottes dankbar an und entsprechen wir ihr mit unserer Demut. Dann kann es Weihnachten werden in uns und um uns. Denn wenn wir Gott in der Krippe Aug-in-Aug begegnen, dann sind wir auch in die Pflicht genommen, die gleiche Augenhöhe mit unseren Mitmenschen zu suchen und ihnen die Weihnachtsbotschaft der Engel auszurichten: "Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade." Amen. 

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[1]  Homilie in der Feier der Eucharistie in der Heiligen Nacht in der Kirche des Campo Santo Teutonico am 24. Dezember 2016.

[2]  KG 336, Strophe 3.

[3]  H. E. Richter, Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen (Reinbek bei Hamburg 1979).

[4] Kardinal Joseph Ratzinger, Weihnachtspredigten (München 1998) 11.