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Um eine Philosophie des Guten: 37. Metaphysikfreie Ethik?

Handschlag

Wir haben in der letzten Folge am Beispiel der Ausführungen Iltings gesehen, wie verhängnisvoll es ist, wenn man dem Unterschied zwischen moralischen Normen und Sollenssätzen wie „Diese Wand soll grün sein“ nicht gerecht wird. Aber wie kommt Ilting seinerseits dazu, Kant einen naturalistischen Fehlschluss vorzuwerfen? Den glaubt er in dem zu erkennen, was er eine metaphysische Deduktion des Sittengesetzes nennt („im Gegensatz zu einer transzendentalen Deduktion“). Diese Deduktion beruhe bei Kant auf dem Grundsatz: „Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“ (GMS IV 429). Kant begründe Ethik also „auf Seinssätze der rationalistischen Metaphysik. Und darin besteht sein naturalistischer Fehlschluß.“ (Der naturalistische Fehlschluss bei Kant, S. 124).

Tatsächlich ist Kant der Überzeugung, dass der Selbstzweckcharakter das ist, was Personen von Sachen unterscheidet. Sachen darf ich ohne weiteres als bloße Mittel zum Zweck gebrauchen. Haben sie ausgedient, darf ich sie entsorgen. Mit Personen darf ich nicht so umgehen. Um das zu wissen, brauche ich kein rationalistischer Metaphysiker, ja nicht einmal ein Philosoph zu sein, das weiß – um einen Ausdruck Kants zu gebrauchen – „der gemeinste Menschenverstand“. Menschen haben eine Würde, die ich achten muss und die es mir verbietet, sie wie Sachen zu behandeln. Ilting verschweigt, worin er den Fehler Kants sieht. Leugnet er den Unterschied zwischen Personen und Sachen, oder spricht er ihm jede normative Bedeutung ab?

An dieser Stelle müssen wir uns überlegen, was die Rede von Zwecken überhaupt meint. Zwecke werden gesetzt. Ob diese Setzung nur in der Übernahme natürlicher Zwecke besteht, wie Spaemann meint (z. B. „Ich möchte meinen Hunger stillen, darum esse ich“: Dieser Zweck drängt sich uns von selbst auf, weil wir Lebewesen sind, die ab und zu Hunger verspüren), oder ob sie auch spontan gesetzt werden, wie Kant meint, spielt hier keine Rolle. Beiden Konzeptionen gemeinsam ist, dass ein Handlungszweck in Form einer Absicht immer frei gewählt wird, sofern es sich überhaupt um eine menschliche Handlung (einen „actus humanus“) handelt.

Wichtig ist nun zu erkennen, dass der Ausdruck „Zweck an sich selbst“ von Kant in einem Sinne gemeint ist, der darüber hinausgeht. Die vernünftige Natur ist eine solche, die als Zweck behandelt werden soll, unabhängig von unseren faktischen Zwecksetzungen. Sie ist kein „zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck“ (GMS IV 437, 27). Vernünftige Wesen werden Personen genannt, „weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“ (428, 22-25).

Es gibt Gegenstände der Neigung und Gegenstände der Achtung. Erstere motivieren mich zu Handlungen durch die Vorstellung des Angenehmen und das Gefühl der Lust, welches die Neigungshandlung in mir hervorruft. Letztere motivieren mich zu Handlungen durch die Achtung, die ich ihnen entgegenbringe. Diese Achtung wiederum ist begründet in ihrem absoluten Wert. Deshalb schreibt Kant: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes liegen.“ (428, 3-6).

Gegenstände der Neigung haben nur einen bedingten Wert, „denn wenn die Neigungen und darauf begründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert sein“ (428, 12-14). Absolute Werte im Sinne Kants bestehen unabhängig von Neigungen, begründen ihrerseits aber ein Sollen. Deshalb kann Kant seinen kategorischen Imperativ auch auf die Formel bringen: „Handle so, dass du die Menschheit in sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (429, 10-12)

Neigungen verursachen ein Eigeninteresse, rechtfertigen es aber nicht. Der Egoismus ist ja gerade der große Gegenspieler der Moralität. Wenn ich mir dagegen das moralische Sollen zu eigen mache und dem Gesetz Achtung entgegenbringe, dann verwirkliche ich in mir ein moralisches Interesse, nämlich das Interesse am Befolgen des moralischen Gesetzes. Dieses Interesse stellt in möglichen Konfliktfällen gerade den Gegenpart zum Eigeninteresse dar. Der moralisch gute Mensch zieht dann das moralische Interesse dem Eigeninteresse vor. Das kann sogar so weit gehen, dass er mit Sokrates spricht: „Besser Unrecht leiden als Unrecht tun.“ Dabei geht es nicht darum, dem Erleiden von Unrecht etwas Positives abzugewinnen oder es sogar schönzureden; sondern es geht darum, um keinen Preis zu einem Handeln gegen das Sittengesetz bereit zu sein. Das moralische Verbot, dem Anderen Unrecht zuzufügen, gründet in dessen Würde, die es mir verbietet, ihn nur als Mittel zur Erreichung meiner Eigeninteressen zu gebrauchen, und dieses Verbot gilt kategorisch.

Das Sollen gründet also tatsächlich in einer Wirklichkeit, und zwar in einer Wirklichkeit, die wegen ihres absoluten Wertes meine Achtung verdient und fordert. Sie ist es wert, mein Interesse zu wecken. Uninteressiertheit daran, dass es gerecht und menschlich in der Welt zugeht, dass Menschen nicht unterdrückt oder ausgebeutet werden, ist ein Zeichen moralischer Abstumpfung. Wer Handlungen nur dann plausibel findet, wenn sie im Dienst des Eigeninteresses stehen, sucht, wenn er moralische Normen akzeptiert, für diese einen Grund außerhalb der Moralität, z.B. in dem Umstand, dass nur ein Leben innerhalb einer Gemeinschaft, in der es moralisch zugeht, lebenswert sei. Auf diese Argumentation läuft die Moralbegründung Iltings hinaus, wenn er gegen Ende seiner Kantkritik schreibt: „Aber man wird im vorhinein feststellen dürfen, daß ein menschliches Wesen, das nicht bereit ist, die Bedingungen der Möglichkeit einer Gemeinschaft von Vernunftwesen anzuerkennen, keinen Anteil haben kann an fast allen Dingen, die nach unserer Erfahrung das menschliche Leben lebenswert machen“ (129 f).

Wer zu einem moralischen Verhalten der Vorteile bedarf, die ihm das Leben in menschlicher Gemeinschaft bietet, gibt dieses Verhalten auf, wenn die Vorteile wegfallen. Sein moralisches Handeln gründet dann nicht in der Achtung vor dem Selbstzweckcharakter von Personen, sondern im Eigeninteresse. In robinsonadischen Situationen außerhalb einer menschlichen Gemeinschaft will ich einem solchen Menschen nicht begegnen. Freitag hatte Glück, dass Robinson Crusoe kein solcher Mensch war …

Die Frage ist nicht, ob der Kantischen Ethik eine Metaphysik zugrunde liegt, sondern welche. Denn beiden Auffassungen liegt eine Metaphysik zugrunde, sowohl der Anerkennung wie auch der Leugnung des absoluten Wertes von Personen. Es gibt keine metaphysikfreie Ethik, sondern nur Ethiken mit guten oder schlechten metaphysischen Hintergrundannahmen. Eine Metaphysik, die absolute Werte leugnet, ermöglicht nur noch eine Ethik, die moralisches Handeln in eine Art strategischen Handelns im Dienst des Eigeninteresses verwandelt.

Doch streng genommen ist es auf kognitiver Ebene falsch, zu sagen, der Anerkennung der Personwürde liege eine Metaphysik zugrunde. Es ist umgekehrt: Die Metaphysik ergibt sich aus dieser Anerkennung. Um zu wissen, dass ich Personen nicht wie Sachen instrumentalisieren, also z.B. ausbeuten, betrügen oder versklaven darf, brauche ich kein Philosoph zu sein. Das ist Sache – wie oben erwähnt – des allgemeinen Menschenverstandes. Ich brauche aber eine schlechte Philosophie, um solche Instrumentalisierung zu rechtfertigen. Das, was Ilting die Metaphysik nennt, ergibt sich aus der Reflexion über die Implikationen der moralischen Erkenntnis, die jedem Menschen zugänglich ist, der ein Gewissen hat.

Und schließlich: Der naturalistische Fehlschluss, so muss man Ilting entgegenhalten, besteht in der Identifizierung der Bedeutung des Wortes „gut“ mit einer natürlichen Eigenschaft, nicht aber in der Behauptung der Existenz von etwas Gutem, will sagen: von in sich wertvollen, normativ bedeutsamen Wirklichkeiten. Das Humesche Gesetz verbietet den Schluss von einem wertindifferenten Sein auf ein Sollen, nicht aber die Verankerung des Sollens in einer Wirklichkeit, die es verdient, geachtet zu werden.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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