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Um eine Philosophie des Guten: 21. Freundschaft als Paradigma von Moralität

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Wenn Thomas von Aquin die Gottesliebe beschreibt, ist für ihn der Gedanke der Freundschaft zentral. Das lateinische Wort dafür ist caritas. Streng genommen ist “Gottesliebe” eine verengende Übersetzung. Mit “caritas” ist die theologische Tugend der Liebe gemeint, die sowohl die Gottes- als auch die Nächstenliebe umfasst. Es handelt sich um jene Liebe, die Gegenstand des größten Gebotes ist und deshalb den Inbegriff der christlichen Moral darstellt: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst” (vgl. Mt 22, 37-39). Doch in der Liebe zu Gott findet sie ihre vollendete Gestalt. In der Gottesliebe ist die Gegenseitigkeit, die ein Charakterzug der Freundschaftsliebe ist, immer verwirklicht, während dies bei der Nächstenliebe oft nicht der Fall ist, etwa bei der Feindesliebe. Die Gegenseitigkeit ist aber nicht der wichtigste Charakterzug der Freundesliebe.

Thomas beginnt seine Untersuchung der caritas, die immerhin fünf Quaestiones mit insgesamt 53 Artikeln umfasst, mit der Frage, ob sie eine Freundschaft (amicitia) sei. Um nun die Liebe, die der Freundschaft eigentümlich ist, zu beschreiben, unterscheidet Thomas zwei Arten, das Gute zu wollen. Die eine Art besteht darin, das Gut des geliebten Gegenstandes für mich selber zu wollen. Das ist die Art, die uns automatisch in den Sinn kommt, wenn wir an die Ausgangsposition der Bestimmung des Guten denken, die Thomas mit Aristoteles teilt: Gut ist das, was alle erstreben. Wenn wir etwas erstreben, dann wollen wir es für uns. Thomas nennt das den amor concupiscentiae. Dieser kann sich auch auf Sachen oder Tiere beziehen. Als Beispiele nennt Thomas den Wein und das Pferd. Wenn er meint, es sei lächerlich, in diesem Zusammenhang von Freundschaft zu sprechen, so mag es Pferdeliebhaber geben, die bezüglich des Weines dieses Urteil zugeben, bezüglich des Pferdes ablehnen. Aber dieses Problem einer möglichen Freundschaft zwischen Mensch und Tier braucht uns hier nicht zu beschäftigen, und des Aquinaten Meinung, Freundschaft sei nur zwischen Vernunftwesen möglich, beeinträchtigt in keiner Weise die innere Stimmigkeit des Gedankenganges, um den es hier geht. Viel wichtiger ist es zu sehen, dass Thomas mit der Beschreibung der zweiten Art, das Gute zu wollen, den universellen Anspruch durchbricht, mit dem die Ausgangsposition (gut sei das, was alle erstreben) eingeführt wurde und der die Voraussetzung eines jeden Eudämonismus darstellt. Denn sie besteht nicht darin, das Gute für sich, sondern für den Freund zu wollen. Er nennt das den amor benevolentiae, die Liebe des Wohlwollens. Diese Liebe impliziert eine Umkehrung der Perspektive, die dem Eudämonismus eigen ist. Für den Eudämonisten “lautet die grundlegende ethische Frage, worin das für den Handelnden Gute besteht”, wie Martin Rhonheimer richtig schreibt (Die Perspektive der Moral, Berlin 2001, S. 18). Nur ist das eben gerade nicht die Perspektive der Moral, wie er infolge seines Eudämonismus fälschlich meint. Die Perspektive der Moral ist jene Perspektive, die ich erreiche, wenn ich eine Ethik der “Ersten Person” (Rhonheimer) zugunsten einer Ethik der Freundschaft übersteige, indem ich mich zum Wollen der zweiten Art aufschwinge, bei der es mir kraft der Liebe um den Freund geht und nicht um mich. Diese zweite Art, das Gute zu wollen, ergibt sich niemals aus der ersten. Der amor benevolentiae ist nicht eine verfeinerte, weiterentwickelte oder aufgeklärte Form des amor concupiscentiae, sondern das Ergebnis eines mitunter schmerzhaften Perspektivenwechsels, den man in religiöser Sprache “Bekehrung” oder “Umkehr” nennt.

Ich möchte hier die Worte des hl. Thomas wiedergeben: “Non quilibet amor habet rationem amicitiae, sed amor, qui est cum benevolentia, quando scilicet sic amamus aliquem, ut ei bonum velimus. Si autem rebus amatis non bonum velimus, sed ipsum earum bonum nobis velimus, sicut dicimur amare vinum aut equum aut aliquid huiusmodi, non est amor amicitiae, sed cuiusdam concupiscentiae; ridiculum enim est, dicere, quod aliquis habeat amicitiam ad vinum vel ad equum” (S. th. II II, q 23 a 1).

Das sind also die beiden Weisen des Wollens: einerseits “ut ei bonum velimus” (wir lieben den Freund solcherart, “dass wir ihm Gutes wollen”), andererseits “ipsum earum bonum nobis velimus” (wir lieben die Sachen, res, solcherart, dass wir deren Gut für uns haben wollen). Damit sind die beiden Eckpunkte beschrieben, zwischen denen sich jede moralische Entscheidung orientiert: das Gute für mich und das Gute für den Anderen, oder kürzer: Glück und Wohlwollen. Die große Aufgabe einer jeden Ethik besteht in der Kunst einer Synthese dieser beiden Perspektiven. Das großartige Werk, in dem Robert Spaemann diese Synthese gelingt, trägt deshalb nicht zufälligerweise den Titel “Glück und Wohlwollen”. Diese Aufgabe stellt sich aber erst gar nicht, wenn in eudämonistischer Manier die Dualität dieser Perspektiven gar nicht erst zugelassen, sondern Moralität von vorneherein in die Perspektive einer wie auch immer beschriebenen Eigeninteressenverfolgung hineingepresst und damit ihrer Schönheit, Heiligkeit und Autorität beraubt wird.

In diesem Zusammenhang ist “Heiligkeit” ein wichtiges Stichwort. Immanuel Kant spricht von der Heiligkeit des Sittengesetzes. Es ist diese Heiligkeit, kraft derer der moralische Imperativ eine unbedingte Autorität besitzt. Der Gehorsam gegenüber dieser Autorität wird durch einen sublimen Egoismus ersetzt, sobald das Gute, das uns in Anspruch nimmt, eudämonistisch in ein Gutes für uns umgedeutet wird. Schauen wir uns anhand der Ausführungen Rhonheimers das Dilemma an, in welches der Eudämonist durch einen Einwand geführt wird, den Rhonheimer folgendermaßen formuliert: “Das eben angeführte Argument, der handelnde Mensch verändere vor allem sich selbst, klingt nun sehr egoistisch. Da geht es offenbar, so könnte es scheinen, nur um die eigene Vollkommenheit, also darum, selbst möglichst saubere Hände zu behalten” (S. 107). Das erwähnte Argument hatte er angeführt, um die richtige These zu unterstützen, dass ein Bankraub, um Bedürftige zu unterstützen, moralisch nicht zu rechtfertigen sei. Es lautete, dass der Mensch sich in die Richtung dessen bewege, was er erstrebt: “Wer Gerechtigkeit erstrebt und gerechte Handlungen wählt, der bewegt sich auf Gerechtigkeit hin, wird also ein gerechter Mensch. Dieses Sich-auf-etwas-hin-bewegen ist freilich als Metapher zu verstehen. Es bringt jedoch zum Ausdruck, dass der handelnde Mensch vor allem sich selbst verändert. Es ist nicht nur wichtig, welchen Zustand der Welt Menschen durch ihr Handeln hervorbringen, sondern auch, was für eine Art von Menschen diejenigen sind, die solche Zustände hervorgebracht haben” (S. 106).

Dass es bei der Bewertung einer Handlung nur auf die Zustände in der Welt ankomme, die durch sie hervorgebracht werden, also nur auf ihre Folgen, ist der Grundsatz des Utilitarismus bzw. Konsequentialismus. Rhonheimer sieht klar, dass in dieser Optik die Weise der Bewertung einer menschlichen Handlung sich nicht von der eines Naturvorgangs unterscheidet, also z.B. die eines Mordes nicht von der eines Erdbebens, das Menschenleben fordert. Solange also das intendierte Ziel wünschenswert ist, sind alle Mittel dazu recht. Dem widerspricht Rhonheimer zurecht mit aller Entschiedenheit, indem er darauf beharrt, dass die menschliche Handlung, in unserem Fall der Bankraub, auch in sich einer moralischen Beurteilung unterliegt, unabhängig von dem wohltätigen Zweck, den der Bankräuber mit dem geraubten Geld verfolgt. Als Vertreter einer eudämonistischen Tugendethik hebt er mit seiner Antwort, wie das Zitat zeigt, auf die moralisch nachteilige Veränderung der Tugendhaftigkeit des Bankräubers selber ab. Das provoziert geradezu den zitierten Einwand. Seine Antwort zeigt die Sackgasse, in die der Eudämonismus mündet. Er gibt dem Einwand sachlich, aber nicht moralisch recht. Denn tatsächlich handele es sich dabei um Eigenliebe, aber nicht um Egoismus. Es handele sich um jene Eigenliebe, die in dem Gebot “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” “als Maßstab der Nächstenliebe aufgestellt” werde. Denn: “Jeder ist sich zunächst sein eigener Freund. Ein Freund ist jemand, der für denjenigen, dem er Freund ist, das Gute will. ‘Sich selbst lieben’ oder ‘sich selbst Freund sein’ bedeutet also: Sich selbst dem zu öffnen, was in Wahrheit für den Menschen gut ist. Und das kann man eben nur, wenn man immer nur das Gute will, und das heißt immer auch: Gutes zu tun wählt. Wenn wir nicht imstande sind, für uns selbst das Gute zu wollen und demnach gut zu sein, so können wir das Gute auch nicht für unsere Mitmenschen wollen” (107).

Diese Ausführungen offenbaren das ganze Elend des Eudämonismus. Abgesehen davon, dass sich bei dieser Argumentation die Katze in den Schwanz beißt, weil der Verlust der Tugend eine Folge der unmoralischen Tat ist und nicht der Grund ihrer moralischen Verwerflichkeit, verkennt diese Argumentation den Sinn der Moralität. Es geht bei dieser nicht um das Gut für den Handelnden. Das Prinzip, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt, hat seinen Grund nicht in einem Vorrang der Selbstliebe gegenüber der Pflicht zur Wohltätigkeit. Es geht in keiner Weise darum, dass dem Interesse an sauberen Händen der Vorrang gegenüber dem Anliegen der Weltverbesserung gebühre. Hier werden Birnen mit Äpfeln verglichen. Trotz seines Formalismus liegt Kants Ansatz der Wahrheit näher, wenn er als Grund einer jeden moralischen Norm die Heiligkeit des Sittengesetzes ansieht, das zu achten ist ohne Seitenblick auf irgendein Gut, das für mich dabei herausspringt. Ob die im Sinne Kants zu vollziehende Begründung der moralischen Verwerflichkeit eines Robin-Hood-Bankraubs mittels des Verallgemeinerungstests durch die klassische Formel des kategorischen Imperativs zutreffend ist oder nicht, ist zweitrangig gegenüber der unaufgebbaren Einsicht, dass der Verzicht auf den Bankraub nicht weniger selbstlos ist als das Gegenteil. Die Frage der eigenen Vollkommenheit steht gar nicht zur Debatte. Sie könnte nur dann zur Debatte stehen, wenn das Wesen des Wertes als Bedeutsamkeit in sich und das Wesen der moralischen Norm als eine sich aus ihr ohne Ansehung der Person ergebende Gebührensbeziehung verkannt und durch die eudämonistische Konzeption des Guten für mich ersetzt würde. Der Eudämonismus zwingt den moralisch Handelnden zu dem Bekenntnis: “Meine eigene Tugend ist mir wichtiger als die Verbesserung der Welt.” Dass die Moral zu einem Handeln der Selbstliebe nötigen könnte gegenüber einem Handeln, das im Hinblick auf seine Folgen an und für sich wünschenswerter wäre, ist absurd. Der Bankraub verdirbt meinen Charakter, weil er ein Unrecht ist, nicht aber ist er ein Unrecht, weil er meinen Charakter verdirbt. Die Ungerechtigkeit eines Handelns muss, wenn es denn wirklich ungerecht ist, Gründe haben, die von seinen Folgen auf meine Tugend unabhängig sind. Der Verlust meiner Tugend ist ihre Folge, nicht ihre Ursache. Zu argumentieren, ich schulde die Unterlassung des Bankraubs nicht der Gerechtigkeit, sondern meinem moralischem Vorteil, bedeutet eine Umkehrung der Verhältnisse, die der eudämonistischen Verwechslung des Wertes mit dem objektiven Gut für eine Person korrespondiert.

Die moralische Norm des Sittengesetzes ist das Principium, die Tugend das Principiatum. Die tugendhafte Handlung vollziehe ich aus Achtung vor der Heiligkeit des Sittengesetzes. Der Fortschritt, den die Wertethik gegenüber der Kantischen Konzeption gebracht hat, besteht in der Erkenntnis, dass die Norm in einem Wert fundiert ist. Die moralische Handlung wie auch schon die ihr vorausgehende affektive Stellungnahme und die ihr entsprechende Gesinnung stellen eine Wertantwort dar. Dietrich von Hildebrand beschreibt Tugend deshalb als das siegreiche Durchdrungensein der Persönlichkeit von einer überaktuellen Wertantwort (Ethik, S. 374). Es ist die Hellsichtigkeit und Offenheit gegenüber der Welt der Werte, die die Tugendhaftigkeit und den moralischen Adel eines Menschen begründen. Diese Offenheit wird zur personalen Hingabe, sobald erkannt wird, dass hinter dieser Welt der Werte als ihre Quelle der liebende Wille einer absoluten Person steht. Dadurch wird jedes moralische Verhalten zu einer Sache der Freundschaft. “Freundschaft” ist dann nicht mehr bloß die Kür gegenüber den Anforderungen einer Gesetzesethik, sondern das Paradigma von Moralität überhaupt. Dies wiederum entspricht der christlichen Auffassung, dass wir jede moralische Handlung zu einem Ausdruck unserer Gottesliebe machen können. Moralität wird zur gelebten Freundschaft mit Gott.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" macht mit dem Erscheinen dieses Artikels eine kleine Sommerpause. Im Herbst 2021 geht es weiter!

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