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Um eine Philosophie des Guten: 34. Die Erkenntnis des Sollens

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Die moralische Qualität einer in der Wirklichkeit beobachtbaren Handlung kann uns aus den erklärten Gründen nie vollständig evident sein, wohl aber die Gesolltheit einer Handlung, die zu geschehen hat. Wenn wir z. B. Zeuge davon werden, wie ein zufälliger Spaziergänger auf ein ertrinkendes Kind trifft, dann wissen wir mit Sicherheit, dass er das Kind retten soll. Falls er es nicht tut, ist er nur dann entschuldigt, wenn er entschuldigende Gründe hat, wenn also z. B. der Rettungsversuch nur unter eigener Lebensgefahr möglich ist. Möglicherweise können wir das nicht beurteilen. Das ändert aber nichts an der Gewissheit über die Pflicht, das Kind zu retten, falls solche Gegengründe nicht vorliegen. Über die Gesolltheit der Handlung ist also Gewissheit möglich. Diese Gewissheit betrifft den Handlungstyp. Man könnte den in unserem Beispiel beschriebenen Gegenstand der Gewissheit in das Urteil kleiden: „Ein Kind mutwillig ertrinken zu lassen, ist moralisch verwerflich.“ Diese Verwerflichkeit betrifft die Unterlassung einer Handlung, die gesollt und möglich ist. Die beschriebene Ungewissheit in der moralischen Beurteilung eines konkreten Unterlassungsverhaltens ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass das Moment der Mutwilligkeit uns nicht in derselben Evidenz gegeben ist wie die empirisch wahrgenommene Handlung und die apriorische Gewissheit ihrer Gesolltheit. Mit anderen Worten: Sie betrifft allein die Berechtigung der Subsumtion einer empirischen Handlung unter den Begriff jenes Handlungstyps, über welchen wir im Blick auf seine moralische Qualität apriorische Gewissheit haben, nicht aber diese selbst.

Diese Gewissheit ist auch gegeben, wenn wir selbst vom moralischen Anruf betroffen sind. Es spricht dann die Stimme des Gewissens zu uns. Und insofern wir ehrlich uns selbst gegenüber sind und genau wissen, ob wir entschuldigende Gegengründe haben oder nicht, trifft uns in gegebener Situation der Schuldspruch des Gewissens mit unerbittlicher Wucht. Ich habe aber mit Absicht das Eingangsbeispiel in der Form der dritten Person gewählt, um von vorneherein einem möglichen Einwand den Wind aus den Segeln zu nehmen, nämlich jenem, der seine Kraft aus einer Entwertung des Gewissens aufgrund seiner Umdeutung in ein bloß subjektives Erlebnis bezieht. Die Stimme des Gewissens ist nicht ein bloß psychisches Phänomen. Es geht vielmehr um eine allgemeingültige Erkenntnis. Auch wenn mein eigenes Gewissen gar nicht in Aktion tritt, weil ich wie im Beispiel bloß Beobachter bin, erkenne ich die Gesolltheit der Tat. Diese Erkenntnis beansprucht strikte Allgemeingültigkeit: Jeder Mensch ist verpflichtet, dem ertrinkenden Kind in der gegebenen Situation zu helfen, und ich unterstelle jedem geistig gesunden Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis dieser Pflicht. Allgemeingültigkeit bedeutet hier: Es handelt sich um ein synthetisches Urteil a priori. Das ist der Grund, warum Kant eine Metaphysik (d. h. eine Erkenntnis aus reiner Vernunft) der Sitten für möglich hielt. In Urteilen darüber, was der Fall ist, können wir nur induktive Allgemeinheit erreichen, in Urteilen darüber, was wir sollen, strikte Allgemeinheit.

Doch wie erkennen wir die Gesolltheit der Tat? Wenn die Gesolltheit, wie wir gesehen haben, unabhängig davon erkannt wird, ob die Tat ausgeführt wird oder nicht, wenn also die Erkenntnis der Gesolltheit der Tat selbst vorausgeht, dann bedeutet dies, dass das Moralgesetz a priori erkannt wird. Wie ist das möglich? Kants Antwort darauf lautet: Das Moralgesetz ist ein Faktum der Vernunft, genauer gesagt: die Explikation eines solchen Faktums, nämlich des kategorischen Imperativs. Das bedeutet zunächst einmal: Das Moralgesetz ist kein Faktum der Natur, kein empirisches Faktum, kein Faktum der Sinnenwelt. Folglich ist es kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung. Aber Gegenstand einer intellektuellen Anschauung kann es auch nicht sein, weil Kant dem Menschen die Fähigkeit einer solchen abspricht. Genau dies kritisiert dann Fichte an Kant: „Des kategorischen Imperativs ist man nach Kant sich doch wohl bewusst? Was ist denn dies nun für ein Bewusstseyn? Diese Frage vergass Kant sich vorzulegen, weil er nirgends die Grundlage aller Philosophie behandelte, sondern in der Kritik der r[einen]. V[ernunft]. nur die theoretische, in der der kategorische Imperativ nicht vorkommen konnte; in der Kritik der prakt. Vern. nur die praktische, in der es bloss um den Inhalt zu thun war, und die Frage nach der Art des Bewusstseyns nicht entstehen konnte“ („Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, 1797). Diese Art des Bewusstseins nennt Fichte nun „intellektuelle Anschauung“: „Dieses Bewusstsein ist ohne Zweifel ein unmittelbares, aber kein sinnliches; also gerade das, was ich intellectuelle Anschauung nenne“ (ebd. sofort im Anschluss). Im „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ (1797/98) sagt er über sie: „Die intellektuelle Anschauung ist der einzige, feste Standpunkt für alle Philosophie“ und stellt die polemische Frage: „Ich möchte wissen, wie diejenigen, die bei Erwähnung einer intelligiblen Anschauung die bekannte vornehme Miene annehmen, sich das Bewußtsein des Sittengesetzes dächten“.

Nach meinem Dafürhalten hat Fichte recht. Durch die Leugnung der intellektuellen Anschauung hat sich Kant bezüglich des Sittengesetzes in eine epistemische Situation hineinmanövriert, die so ausweglos ist, dass die Dunkelheit seiner Aussagen über das Faktum das Vernunft nicht verwunderlich ist und eine endlose Diskussion über ihr richtiges Verständnis ausgelöst hat. Ganz grob kann man, was die Interpretation dieses Faktums angeht, zwei Lager unterscheiden, die man die kognitivistische und die nonkognitivistische Interpretationslinie nennen könnte. Erstere deutet das Faktum der Vernunft als eine Sollenserfahrung. Zu ihr gehört z. B. Magnus Striet. In diesem Punkt stimme ich mit ihm überein: Das Sollen wird erfahren, d. h. auf eine bestimmte eigentümlich Weise erkannt. Nonkognitivistisch wird das Faktum der Vernunft etwa von Marcus Willaschek interpretiert (Willaschek, Die Tat der Vernunft). Da „factum“ das Partizip von „facere“ ist, kann dieses Wort auch das Tun selbst bezeichnen: das, was getan wird. Demnach bezeichnet das „Faktum der Vernunft“ nicht eine Tatsache, sondern eine Tat. Die Existenz dieses Sprachgebrauchs bei Kant kann Willaschek belegen. Demnach wäre der kategorische Imperativ nicht ein Faktum, das von der Vernunft erkannt wird, sondern eine Tat, die von ihr vollzogen wird. Beide Interpretationslinien können sich auf Aussagen Kants stützen.

Für Willascheks Deutung spricht Kants Vernunftbegriff: Vernunft ist reine Spontaneität. Der Rezeptivität der Anschauung stellt Kant die Spontaneität des Denkens gegenüber. Im Bereich des Sollens besteht diese Spontaneität darin, dass sich die Vernunft „mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen“ schafft (KrV B 576). Das Sollen wird nicht von Naturgründen hervorgebracht, sondern es ist ein „Sollen, das die Vernunft ausspricht“ (ebd.). Übrigens darf man bei dieser letzten Formulierung durchaus auch an die scholastische Kennzeichnung des moralischen Gesetzes als eines „dictamen rationis“, eines Spruchs der Vernunft, denken. Hier spricht Kant aber noch nicht vom „Faktum der Vernunft“. Erst in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) beschreibt Kant den bereits in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) entwickelten kategorischen Imperativ als ein Faktum der Vernunft. Viele Kantinterpreten sehen darin einen Ausdruck des Verzichts auf die in der Grundlegung noch in Aussicht gestellte Deduktion des kategorischen Imperativs. Demnach handelt es sich bei diesem Imperativ nun nicht mehr um etwas, das man durch Herleitung aus etwas Anderem verständlich machen kann, sondern um etwas schlechthin Gegebenes, das man einfach hinnehmen und zur Kenntnis nehmen muss. Als Hegel darüber spottete als über den letzten unverdauten Klotz im Magen, machte er damit den Anfang einer Kritik, die sich bis heute wiederholt. Willaschek betrachtet seine Deutung als eine Möglichkeit, Kant gegen jene Kritik zu verteidigen. Diese Verteidigung hat Kant m. E. nicht nötig.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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