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Um eine Philosophie des Guten: 36. Ist Kants Theorem ein naturalistischer Fehlschluss?

Immanuel Kant

Kants Faktum der Vernunft besteht in der Sollenserfahrung. Zu den größten Verdiensten Kants zählt die seit Anselm von Canterbury präziseste Herausarbeitung des Phänomens der Moralität. Der moralische Imperativ ist ein kategorischer, d. h. ein unbedingter. Welche Art der Bedingung ist ausgeschlossen? Sofern es sich um konkrete Handlungspflichten handelt, kann nicht jede Art der Bedingung gemeint sein. Denn jede Handlungspflicht ist von empirischen Bedingungen abhängig. Zum Beispiel: Meine Pflicht, Herrn Müller finanziell zu helfen, ist von einer ganzen Reihe von Bedingungen abhängig: Er muss sich in einer Notlage befinden, ich muss mit dieser Notlage in irgendeiner Weise konfrontiert sein, es gibt keine anderen möglichen Helfer, die ihm näherstehen usw. Erst wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, ergeht an mich der moralische Imperativ, ihm zu helfen. In diesem Sinne ist jeder positive, auf eine Handlung bezogene moralische Imperativ bedingt.

Die Bedingung, die in der Behauptung der Kategorizität des moralischen Imperativs ausgeschlossen wird, ist anderer Art. Sie meint ein konkretes vorausgehendes Wollen, aus dem sich weitere Handlungskonsequenzen ergeben. Diese Handlungskonsequenzen treten in Form hypothetischer Imperative auf. Wenn ich z. B. Auto fahren will, muss ich den Führerschein machen. Wenn ich den Führerschein machen will, muss ich eine Fahrschule absolvieren. Wenn ich eine Fahrschule absolvieren will, muss ich mich um die Finanzierung kümmern usw. Das heißt: Unter der Bedingung, dass ich Auto fahren will, habe ich die Pflichten, die sich daraus ergeben: die Pflicht, die Fahrerlaubnis zu erwerben, eine Fahrausbildung zu absolvieren, dieselbe zu bezahlen usw. Aber diese Pflichten habe ich nicht kategorisch. Ich habe sie nur unter der Bedingung meines vorausgehenden Willens zu jenem Zweck des Autofahrens. Sobald ich diesen Willen aufgebe, erlöschen sie. Diese Pflichten sind kein ursprüngliches Sollen, sondern die Konsequenz meines Willens, ein Auto zu steuern.

Sie können moralischer oder rechtlicher Natur sein oder sogar nur reine Sachzwänge. Wenn ich Geige spielen will, muss ich lernen und üben. Das ist ein reiner Sachzwang. Die Pflicht zum Führerscheinerwerb zum Zweck der öffentlichen Nutzung eines Kraftfahrzeugs ist zunächst einmal rechtlicher Natur. Der Staat hat es so festgelegt. Sie ist aber nur die Konkretion der moralischen Norm, die mir verbietet, Leben und Gesundheit anderer Menschen zu gefährden. Genau diese Gefährdung würde ich riskieren, wenn ich mich ohne die entsprechenden theoretischen und praktischen Kenntnisse hinter das Steuer eines Pkw setzen würde. Insofern haben diese rechtlichen Normen auch moralisches Gewicht. Sie gelten der Sicherstellung der Erfüllung einer moralischen Pflicht, die ich auch ohne staatliche Gesetze habe. Durch ihre Übertretung würde ich mich nicht nur vor dem Staat strafbar machen, sondern auch moralisch verwerflich handeln. Aber in dem Moment, in dem ich gar nicht vorhabe, einen Pkw zu steuern, fallen alle diese Pflichten weg.

Gibt es nun eine Pflicht, der nicht mein Wille vorausgeht, sondern die umgekehrt meinem Willen vorausgeht? Das ist der sogenannte kategorische Imperativ. Durch ihn kommt die Moralität als solche ins Spiel. Er formuliert die einschränkende Bedingung allen Wollens und Handelns. „Handle moralisch!“ So hat ihn, wie wir in Folge 7 gesehen haben, Otfried Höffe formuliert. Kant sah das Merkmal der Moralität in der Tauglichkeit einer Handlungsmaxime zu einer allgemeinen Gesetzgebung. Man kann der Überzeugung sein (und ich bin es auch), dass Kant in der Aufgabe, die Weise der Umsetzung dieses an und für sich noch völlig leeren Imperativs in konkrete Handlungspflichten zu beschreiben, gescheitert ist. Das ändert aber nichts an der Gültigkeit seiner Erkenntnis, dass ohne ein ursprüngliches Sollen, das unserem Willen unabhängig von allem, was er tatsächlich will, vorausgeht, es niemals zu irgendeinem moralischen Sollen kommen würde. Insbesondere ist es auch unabhängig von jedem Glücksstreben. Das muss gegen jede Form des Eudämonismus gesagt werden. Die Pflicht zur Moralität ergibt sich nicht aus unserem Glücksstreben, sondern gilt kategorisch.

Kants Theorem des Faktums der Vernunft ist nun seine Antwort auf die Frage, wie uns dieses ursprüngliche Sollen gegeben ist. In diesem Theorem identifiziert er das Sollen als ein Faktum der Vernunft. Trotzdem ist diese Identifizierung kein Fall des naturalistischen Fehlschlusses. Dieser liegt nur dann vor, wenn ich das Sollen aus einem Faktum, welches etwas anderes als dieses Sollen selbst ist, ableiten will; oder, korrekter und im Mooreschen Sinne ausgedrückt: Wenn ich das Gute mit einem Faktum, das etwas anderes als dieses Gute selbst ist, identifizieren will. Das Sollen als solches ist ein Imperativ, d. h. ein Anruf an meinen Willen, in allem Wollen und Handeln dem moralischen Wert Rechnung zu tragen, d. h. ihn entweder zu verwirklichen oder seinem Anspruch wenigstens nicht zuwider zu handeln; in kantischer Sprache: entweder aus Pflicht zu handeln oder wenigstens pflichtgemäß.

Kants Theorem bedeutet keine Identifizierung des Sollens mit einem Faktum oder einem Sachzwang oder einem empirischen Willensakt, sondern stellt eine Beschreibung der Weise dar, wie dieses Sollen uns gegeben ist. „Faktum“ meint nichts anderes als die Ursprünglichkeit dieses Gegebenseins. Erst dieser Sachverhalt ist es, der moralische Urteile überhaupt wahrheitsfähig macht. Es ist nur konsequent, dass, wie wir gleich an einem Beispiel sehen werden, Philosophen, die Kant einen naturalistischen Fehlschluss vorwerfen, die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile in Abrede stellen. Umgekehrt gilt: Dass wir moralisch handeln sollen, ist ein wahrer Satz, weil dieses Sollen eine Wirklichkeit ist, die wir in uns selbst erfahren.

Jeder Versuch, Kant des naturalistischen Fehlschlusses zu überführen, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht berücksichtigt, dass das in seinem Theorem gemeinte Sollen ausschließlich das moralische Sollen ist. Wer sich in seinen Widerlegungsversuchen an einem anderen Sollen abarbeitet, hat nicht verstanden, was zu widerlegen er sich eigentlich anschickt.

Ein Paradebeispiel dafür liefert uns Karl-Heinz Ilting in seinem Aufsatz „Der naturalistische Fehlschluss bei Kant“ (in: M. Riedel, Hg., Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Band 1, Freiburg 1972, 113-130). Er unternimmt seinen Versuch mit Hilfe des Beispielsatzes „Diese Wand soll grün sein“ (120). Damit ist von vorneherein klar, dass Ilting nicht von dem redet, wovon Kant redet. Trotzdem fährt er munter fort: „Um das Problematische an Kants Frage nach der Gültigkeit praktischer Sätze zu verdeutlichen, möchte ich nun dazu übergehen, elementare Imperative aus elementaren Sollenssätzen zu konstruieren. In dem voranstehenden Beispiel erhält man einen Imperativ, wenn der Maler aufgefordert wird, den erwähnten Sachverhalt, der gedacht und mitgeteilt wird als etwas, was der Fall sein soll, zu einer Tatsache zu machen.“

Dazu ist zu sagen: Der Auffordernde formuliert mit dem Satz „Diese Wand soll grün sein“ lediglich einen Wunsch, keine moralische Norm. Das Grünsein der Wand ist kein moralischer Sachverhalt, der ein Sollen begründet. Das Wort „sollen“ in jenem Satz hat nichts mit dem moralischen Sollen zu tun, um welches es bei Kant geht. Es ist natürlich die Situation denkbar, dass der Maler seinen Dienst schon vertraglich zugesagt hat. Dann ist es seine Pflicht, den Auftrag auszuführen. Der Sachverhalt als solcher aber, das Grünsein der Wand, ist moralisch indifferent, trotz des Gebrauchs des Wortes „sollen“ in Iltings Beispielsatz. Der Auftraggeber könnte sich seine Wand auch blau wünschen. Der Satz „Diese Wand soll grün sein“ drückt in keiner Weise eine moralische Norm aus. Sollte der Maler tatsächlich die Pflicht haben, die Wand grün zu malen, dann aus einem Kontext heraus, gegenüber dessen verpflichtendem Charakter das Grünsein der Wand moralisch indifferent und irrelevant wäre. Dieser Kontext könnte zum Beispiel ein geschlossener Vertrag sein.

Ilting fährt fort: „Wenn alle übrigen Bedingungen gegeben sind, wird er dies (aus welchen Gründen auch immer) tun, falls er seinerseits entscheidet, diese Wand solle grün sein. Der Maler muss sich den Gedanken, der durch den Sollenssatz ‚Diese Wand soll grün sein‘ ausgedrückt und mitgeteilt wird und der ein Bestandteil meines an ihn gerichteten Imperativs ist, zu eigen machen.“

Auch in diesen Ausführungen bleibt das Phänomen des Moralischen unsichtbar. Tatsächlich: Wenn der Maler sich dazu entscheidet, die Wand grün zu malen, macht er sich den genannten Sollenssatz zu eigen, was aber hier nichts anderes bedeutet als: Er akzeptiert den Wunsch des Eigentümers. Aus welchen Gründen er dies tut, ist ebenfalls moralisch offen. Wenn er Geld verdienen will, einen Auftrag sucht und ihn schließlich findet und annimmt, dann sind alle diese Handlungen eine Folge seines Ziels, Geld zu verdienen. Sie sind moralisch freiwillig. Das moralische Sollen, von dem Kant spricht, kommt hier nicht vor.

Ilting weiter: „Daß er sich meinen Gedanken zu eigen machen solle, ist ebenfalls ein elementarer Sollenssatz, und auch dieser ist ein Bestandteil meines an den Maler gerichteten Imperativs.“

Dass der Maler sich den Gedanken des Proponenten zu eigen machen soll ist nur eine vornehmere Umschreibung der Gehorsamserwartung. Solange der Maler in keinem Vertragsverhältnis steht, hat er aber keine Gehorsamspflicht. Es gibt die moralische Norm „pacta sunt servanda“, aber weder eine Norm, dass Wände grün sein sollen, noch eine Norm, beliebige Wünsche zu erfüllen.

„Auch dieser kann folglich weder wahr noch falsch sein.“ Das stimmt. Ein Imperativ kann berechtigt oder unberechtigt, gerecht oder ungerecht, verbindlich oder vermessen sein, aber nicht wahr oder falsch. Nehmen wir einmal an, der Auftraggeber wäre gar nicht der auftragsberechtigte Eigentümer der Wand, und der Maler wüsste es. Dann wäre dieser verpflichtet, den Auftrag abzulehnen. Das ihm dafür angebotene Geld hätte den Charakter einer Bestechung. Der Maler müsste antworten: „Egal, wie viel Geld Sie mir dafür anbieten, ich lehne es ab, etwas zu tun, wozu weder Sie noch ich das Recht haben.“ Der Satz, dass der Maler dies nicht tun darf, wäre wahrheitsfähig, weil er eine moralische Norm behauptet, die tatsächlich besteht, nämlich die Norm, das Eigentumsrecht fremder Personen zu achten.

Ilting: „Der einzige Unterschied besteht darin, daß in diesem elementaren Sollenssatz eine Person das Subjekt ist, das heißt ein Wesen, das in der Lage ist, von sich aus zu entscheiden, daß etwas der Fall oder nicht der Fall sein soll.“

In Iltings Beispiel betrifft diese Entscheidung nicht ein moralisches Sollen, sondern nur die Akzeptanz eines menschlichen Wunsches. Diese Akzeptanz ist die Folge einer freien Entscheidung. Beim moralischen Sollen ist es umgekehrt: Es geht meiner Entscheidung voraus und fordert sie. Ich kann nicht entscheiden, ob ich soll, sondern nur, ob ich dem Sollen entspreche oder nicht.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Ilting: „Die Forderung, die in dem Imperativ ausgedrückt ist, bedarf in jedem Fall der Zustimmung; damit sie wirksam werden kann, muss sie ‚anerkannt‘ werden. Der Akt der Anerkennung (in diesem besonderen Sinne) hat als sein Objekt nicht eine Tatsache oder einen behaupteten Sachverhalt, sondern einen Sachverhalt, der nach der Meinung eines Proponenten der Fall sein soll.“

Das ist falsch. Die „Anerkennung“ gilt nicht dem Sachverhalt, dass die Wand grün sein soll, sondern dem Wunsch des Proponenten. Zudem wird hier das Wort „Anerkennung“ in einem schwachen Sinn verwendet. Es bedeutet lediglich die freiwillige Akzeptanz eines Wunsches. Diese Akzeptanz ist keine Anerkennung im starken Sinne, nämlich die Anerkennung einer Norm oder einer Verpflichtung. Wenn ich den Wunsch des Proponenten annehme, dann anerkenne ich keine Norm, die von mir die Anerkennung fordert. Ich kann höchstens sagen: Ich anerkenne die Berechtigung dieses Wunsches, ohne dass diese Anerkennung mir die moralische Freiheit nimmt, den Wunsch auch abzulehnen. Der Grund dieser Anerkennung ist die Tatsache, dass der Proponent der Eigentümer ist und deshalb das Recht hat, die Farbe der Wand zu bestimmen. Er hat aber nicht das Recht, von einem Maler die Erfüllung seines Wunsches zu verlangen, solange dieser nicht freiwillig in eine bindende Geschäftsbeziehung zu ihm eingetreten ist. Die Farbe selbst ist beliebig. Der Satz „Diese Wand soll grün sein“ hat mit dieser Anerkennung nichts zu tun. Er drückt kein Sollen aus, das Gegenstand einer Anerkennung wäre.

Anders wäre der Fall, wenn der Wunsch des Proponenten selbst den Charakter einer Anerkennung dessen wäre, was der Inhalt seines Wunsches ist. Nehmen wir an, die Wand hätte eine bestimmte Funktion, die sie nur erfüllen könnte, wenn sie grün wäre, und der Proponent selbst wäre nur der Beauftragte zur Verwirklichung eines vom Eigentümer verantworteten Projektes, zu dessen Bestandteilen die Funktionssicherung jener Wand gehörte. In diesem Fall könnte der Maler aufgrund eines inneren Mitvollzugs sagen: „Ja, ich anerkenne, dass die Wand grün sein soll, weil sie sonst ihre Funktion nicht erfüllen könnte.“ In diesem Fall bedeutet die Anerkennung nicht nur die Akzeptanz des Wunsches des Proponenten. Sie bezieht sich nicht nur auf den Wunsch als Wunsch, sondern auch auf den Gegenstand des Wunsches, weil in diesem Fall die Gesolltheit der grünen Farbe nicht nur im Gewünschtwerden, sondern auch in ihrer Funktionalität innerhalb des Projektes bestehen würde. Auch diese Funktionalität begründet als solche noch kein moralisches Sollen. Trotzdem kann in solchem Zusammenhang dem Verhalten und dem Anerkennungsakt des Malers moralische Bedeutung zukommen, insofern der Maler „mitdenkt“. Er könnte sogar gegebenenfalls den Proponenten vor Fehlern bewahren. Es ist z. B. denkbar, dass der Proponent ein bestimmtes Grün wünscht, das weniger zweckdienlich wäre. Wenn der Maler nun aufgrund seiner Kenntnis der Funktion der grünen Farbe seinerseits den Proponenten berät und ihm hilft, das richtige Grün zu finden, dann hat er in diesem Kontext moralisch gehandelt, weil er ihm geholfen hat, seine Pflicht besser zu erfüllen. Er hat nicht nur „blind gehorcht“, sondern hat mitgedacht und mitgeholfen. In diesem Fall war die Farbe tatsächlich Gegenstand eines Aktes, den man als Anerkennung bezeichnen kann: Sie wurde erkannt und anerkannt als jene, die am besten die beabsichtigte Funktion der Wand erfüllt. In diesem Fall aber ist sie Gegenstand sowohl der Anerkennung durch den Maler als auch der durch den Proponenten. Ihre Zweckdienlichkeit begründet die Anerkennung, verdankt sich ihr aber nicht.

Ilting: „Aus elementaren Imperativen, die sich an ein Individuum richten und elementare Sachverhalte mitteilen, ist es nun möglich, universale Imperative mit einer unbegrenzten Anzahl von Personen als Adressaten zu konstruieren, die universale Sachverhalte mitteilen. Solche universalen Imperative können ‚Normen‘ genannt werden. Da sie allein mit den Mitteln der Quantorenlogik aus elementaren Imperativen konstruiert werden können, gilt von Normen abermals, daß sie weder wahr noch falsch sind, sondern ihre Gültigkeit allein durch einen Akt der Anerkennung erhalten.“ (120 f).

Hier wird das Scheitern dieses Ansatzes offensichtlich: Aus nichtmoralischen Imperativen können durch Mitteln der Quantorenlogik nur nichtmoralische Imperative konstruiert werden. Diese haben mit moralischen Normen nichts zu tun. Es ist interessant zu sehen, dass Ilting die Universalisierung nicht nur auf die Adressaten, sondern auch auf die Sachverhalte bezieht. In Wirklichkeit sind dies zwei voneinander unabhängige Operationen. Bezogen auf unser Beispiel bedeutet die Universalisierung des Adressatenkreises: „Jeder soll dem Wunsch des Proponenten gehorchen, diese Wand grün zu malen.“ Die Universalisierung des Sachverhaltes würde bedeuten: „Alle Wände sollen grün sein.“ Nichts davon hat etwas mit dem zu tun, wovon Kant spricht. Die Universalisierung eines Wunsches bleibt ein Wunsch.

Darüber hinaus bleibt Ilting eine Erklärung schuldig, welche Bedeutung das Wort „Gültigkeit“ hier haben soll. Wenn jemand einen Wunsch äußert, dass seine Wand grün gemalt werde, dann ist dieser Wunsch weder vor noch nach einer Anerkennung „gültig“. Erst recht wäre es unsinnig, zu sagen: „Der Satz ‚Diese Wand soll grün sein‘ ist gültig.“ Er ist keine Norm, sondern Ausdruck eines Wunsches, der seinerseits keine Norm darstellt. Der Begriff der Gültigkeit hat seinen Sinn in Verbindung mit Normen und drückt deren rechtliche oder moralische Verbindlichkeit aus.

Ilting: „‚Allgemeingültig‘ kann eine Norm genannt werden, die von allen Normadressaten anerkannt wird“ (121).

Hier sehen wir, dass Ilting nicht von moralischen Normen spricht, obwohl er, wie der weitere Verlauf seiner Überlegungen zeigt, meint, von ihnen zu sprechen. Allgemeingültige moralische Normen sind solche, die ihre Anerkennung nicht voraussetzen, sondern fordern. Die Norm, dass Menschen nicht ausgebeutet, versklavt, gefoltert oder getötet werden dürfen, ist eine Norm, die unabhängig davon gültig ist, wie viele Menschen sie anerkennen. Sonst wäre es möglich, allein durch Entzug dieser Anerkennung seitens eines Teils der Gesellschaft diese Norm aufzuheben und so die Ausbeutung, Versklavung oder Ausrottung des anderen Teils moralisch rechtens zu machen.

„Die Allgemeingültigkeit einer Norm hat daher mit der Allgemeingültigkeit theoretischer Sätze, das heißt mit ihrer Wahrheit, wenig gemeinsam. Die einen wie die anderen sind allgemein, und wahre theoretische Sätze sollten allgemein für wahr gehalten werden. Das ist alles.“

Hier gibt uns Ilting Gelegenheit, seine Theorie auf seine eigenen Aussagen anzuwenden. Ist seine Sollaussage, dass wahre theoretische Sätze allgemein für wahr gehalten werden sollten, bloß Ausdruck seines Wunsches, dass alle Menschen dies tun? Oder sagt dieses Sollen etwas aus, das allem Wunsch und auch aller Anerkennung vorausgeht?

Das „Das ist alles“ signalisiert Iltings Überzeugung, dass es nichts mehr gibt, was über die von ihm gewonnene Verallgemeinerung nichtmoralischer Sollenssätze hinausgeht. Moralische Normen sind nichts anderes als das. Damit ist das Phänomen moralischer Normativität eliminiert, und zwar durch seine Identifizierung mit einem nichtmoralischen Sollen. Das ist eine Spielart des naturalistischen Fehlschlusses.

Im folgenden Absatz stellt Ilting in der Beschreibung der Auffassung Kants den Sachverhalt wieder vom Kopf auf die Füße, indem er die Normgültigkeit nicht an die faktische Anerkennung, sondern an die Berechtigung der Forderung dieser Anerkennung knüpft: „Objektiv gültig sind dann diejenigen Normen, in Beziehung auf welche man den Anspruch zu erheben berechtigt ist, dass jeder Normadressat sie anerkennen sollte.“ Gelingt Ilting hier jetzt doch noch der Durchbruch zur Erfassung des moralischen Sollens? Seine Antwort ernüchtert: „Diese Bedingung ist immer dann erfüllt, wenn eine Norm aus einer anderen Norm, die tatsächlich von allen Normadressaten dieser Norm anerkannt wird, abgeleitet werden kann. In diesem Fall beruht die objektive Gültigkeit der Norm auf der vorgängigen Anerkennung einer fundamentaleren Norm.“

Angewandt auf unser Beispiel bedeutet das: Aus dem allgemeinen Wunsch nach grünen Wänden wird gefolgert, dass alle Handlungsnotwendigkeiten zur Verwirklichung dieses Wunsches den Charakter einer Norm erhalten, die anzuerkennen von allen zurecht gefordert werden kann. Das bedeutet, dass nur abgeleitete, also hypothetische Imperative moralischen Charakter haben, nicht aber kategorische Imperative, von denen sie abhängen, mit anderen Worten: Moral wird zur Folge einer allgemein gewordenen Modeerscheinung. Denn mehr als eine Mode ist es nicht, wenn Sollenssätze wie „Diese Wand soll grün sein“ von allen Hauseigentümern übernommen werden.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Genau so wenig wie man aus der Anhäufung von Sand jemals auch nur ein einziges Gramm Gold gewinnen kann, kann man aus der Universalisierung nichtmoralischer Sollenssätze moralische Normen gewinnen. Ein leicht zu handhabendes Unterscheidungskriterium für moralische und nichtmoralische Sollenssätze ist ihre Relevanz für unseren moralischen Charakter. Erinnern wir uns an Kants Satz: “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.” Unser Wille wird nicht gut durch den Wunsch nach grünen Wänden, sondern durch die Unterwerfung unter das Sittengesetz. Das ist es, wovon Kant spricht und was von Ilting nicht einmal gestreift wird.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.

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