Münster, 07 November, 2019 / 12:56 AM
Der emeritierte Erzbischof von Hamburg, Werner Thissen, hat im Interview mit der Münsteraner Kirchenzeitung "Kirche und Leben" schwere Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch aus seiner Zeit als Verantwortungsträger im Bistum Münster eingeräumt.
Vor seiner Einführung als Erzbischof von Hamburg im Januar 2003 war Thissen mehr als 20 Jahre lang für das Personal im Bistum Münster zuständig.
"Es fehlten jegliche Standards professioneller Personalführung", gibt Thissen heute zu. Das habe dazu beigetragen, dass auf Missbrauchsvorfälle häufig "falsch reagiert" wurde.
Damals sei er der Überzeugung gewesen, dass überführte Missbrauchstäter mithilfe der Medizin therapierbar und dann wieder einsetzbar seien. Ein "schwerer Fehler", wie Thissen einräumt. Sein Vertrauen in die medizinischen und therapeutischen Möglichkeiten bezeichnet er heute als "überzogen und unrealistisch": Man sei davon ausgegangen, dass der Täter durch die Arbeit mit dem Arzt und Therapeuten, nach einer Zwischenzeit wieder eine Aufgabe in der Seelsorge übernehmen könne.
Im Rückblick sei er "verwundert", dass damals die entsprechenden Gemeinden nicht informiert wurden und er sich auf das Urteil des Therapeuten verließ, sobald dieser grünes Licht für einen erneuten Einsatz des Täters in der Seelsorge gegeben hatte:
"Im Nachhinein muss ich sagen: Wir haben ihn (den Therapeuten; Anm.d.Red.) ausgenutzt. Wir haben das von uns weggeschoben auf ihn und dort, wo er sich zu viel drum kümmern musste, haben wir zu wenig getan."
Auch das Ausmaß und die Folgen sexueller Gewalt habe er unterschätzt. Der Kontakt mit Betroffenen sei "minimal" gewesen. Dies sei sein "zweiter großer Fehler". Er habe damals keine Vorstellung davon gehabt, welchen Schaden auch und gerade bei einem jungen Menschen durch Missbrauch angerichtet werde, so Thissen.
Darum sei es ihm heute umso mehr ein Anliegen, den Betroffenen zuzuhören und die Missbrauchsverbrechen offenzulegen.
"Wichtig finde ich auch, um Entschuldigung zu bitten", sagt Thissen. "Notwendig finde ich ebenso finanzielle und medizinische, therapeutische Hilfen. Dass das jetzt erst im Nachhinein möglich ist, nach Jahrzehnten, belastet mich sehr. Es nimmt mich aber auch in die Pflicht, das zu tun, was ich jetzt tun kann."
Gleichzeitig sagt der emeritierte Erzbischof, aufh ein Mangel an Fachleuten sei für fehlerhaften Umgang mit den Vorfällen verantwortlich. Die damalige Personalkonferenz in Münster habe aus dem Bischof, dem Generalvikar, fünf Weihbischöfen, einem Personalreferenten und dem Regens des Priesterseminars bestanden. "Es hätte auch einer größeren Distanz zu den Tätern bedurft", sagt er. Warum? Weil "die des Missbrauchs beschuldigt wurden, waren ja Priester, die wir gut kannten." Aus diesem Grund, fährt Thissen fort, komme "sehr schnell" ein "Mitleidseffekt" auf:
"In einer Personalkonferenz fragte mal jemand: 'Muss der Täter denn nicht bestraft werden?' Die übereinstimmende Meinung war: Der hat sich doch durch sein Vergehen am meisten schon selbst bestraft."
Warum die persönliche Kenntnis einer Person aus seiner Sicht automatisch zu Fehlentscheidungen bei Vorgesetzten führen sollte, erklärt Thissen dem diözesanen Medium offenbar nicht. Thissen war von 1978 bis 1986 als Leiter der "Hauptabteilung Seelsorge-Personal" im Bischöflichen Generalvikariat in Münster für Priester zuständig. Von 1986 bis 1999 war er dann selber Generalvikar des Bistums Münster. 1999 wurde er zum Weihbischof ernannt.
Das vollständige Interview wird in der kommenden Ausgabe der Kirchenzeitung am 10. November erscheinen.
Der heutige Bischof von Münster, Felix Genn, dankt dem emeritierten Erzbischof in einer Stellungnahme für seine Äußerungen: Er hoffe, "dass eine solche Verantwortungsübernahme für Betroffene hilfreich und ein wichtiges Signal sein kann".
Genn wörtlich weiter: "Betroffene sagen uns immer wieder, wie wichtig es für sie ist, zu erfahren, wer von den damaligen Verantwortungsträgern dafür zuständig war".
"Werner Thissen wirft ein ungeschminktes Licht darauf, wie die Verantwortungsträger im Bistum Münster damals entschieden haben. Dass dabei, wie es Werner Thissen selbst sagt, die Betroffenen nicht im Blick waren, bleibt für uns heute unverständlich. Meine Form der Entschuldigung bei den Betroffenen sexuellen Missbrauchs kann nur die sein, dass ich zusage, die Vergangenheit, soweit das überhaupt möglich ist, unabhängig von kirchlichen Instanzen aufarbeiten zu lassen."
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Um Präventionsmaßnahmen zu haben, müsse es aber, so Genn weiter, "zu neuen Formen der Partizipation und zu einer Umverteilung von Macht und Einfluss in unserer Kirche kommen".
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