München - Freitag, 21. Januar 2022, 12:22 Uhr.
Nachdem die Anwaltskanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" gestern in München das Gutachten über den Umgang der Bistumsverantwortlichen der Erzdiözese München und Freising mit Missbrauchsfällen im Zeitraum von 1945 bis 2019 veröffentlicht hat, haben sich nun verschiedene Stimmen zu den neuen Erkenntnissen geäußert – und Interpretationen angeboten.
Das Gutachten wirft dem amtierenden Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, in zwei Fällen ein Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen vor. Zudem machten die Gutachter deutlich, dass ihres Erachtens bei Marx häufig kein Verantwortungsbewusstsein vorhanden war, wie die Befragungen ergeben hätten.
Im Mittelpunkt der Versuche, eine Art Deutungshoheit zu erlangen, steht dabei jedoch nicht Marx, sondern die Person des emeritierten Papstes, Benedikt XVI. Im Gutachten wurden auch der Umgang der früheren Erzbischöfe mit dieser Thematik beleuchtet. Dabei habe man bei Kardinal Joseph Ratzinger – mittlerweile Papst emeritus Benedikt XVI – in vier Fällen ein Fehlverhalten festgestellt, bei den ehemaligen Erzbischöfen und Kardinälen Friedrich Wetter sind es 21 Fälle, bei Michael von Faulhaber vier Fälle, bei Joseph Wendel acht und bei Julius Döpfner 14 Fälle.
Neben dem Fokus auf Benedikt ist der Versuch, den umstrittenen "Synodalen Weg" als "Lösung" zu beschreiben, Inhalt mehrerer Stellungnahmen.
Bischof Overbeck: "Synodaler Weg" kann Perspektiven öffnen
So sprach am Donnerstagabend der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck in einem "ZDF Spezial" davon, dass nun individuelle Verantwortung übernommen werden müsse. "Wir sehen heute deutlich, dass Verantwortung übernommen werden muss – und Verantwortung ist immer personal", so der Ruhrbischof. Nun gehe es darum, "dass sich auch der Vatikan, dass sich auch Papst Benedikt dazu verhält". Overbeck fuhr fort, dass seines Erachtens das Münchener Gutachten "Konsequenzen für den Alltag" haben müsste.
Wie CNA Deutsch berichtete, steht das Bistum Essen im Fall des ehemaligen Priesters "Peter H." selbst in der Kritik. Im ZDF sagte Overbeck, dass das Münchener Gutachen "eine große Aufgabe für uns" sei. Genau wie Kardinal Reinhard Marx, der sich in seiner gestern veröffentlichten Stellungnahme bislang nicht zum eigenen möglichen Fehlverhalten geäußert hat und stattdessen seine Überzeugung betonte, dass der umstrittene "Synodale Weg" bei der Aufarbeitung der Missbrauchskrise eine wichtige Rolle spiele, verwies auch Overbeck auf den "Synodalen Weg". Dessen "teilweise heftige Diskussionen" könnten seiner Ansicht nach ein erster Schritt sein, "um Perspektiven zu eröffnen", mutmaßte Overbeck.
In der Sendung "WDR5-Mittagsecho" ergänzte sein ebenfalls vom öffentlich-rechtlchen Rundfunk interviewter Generalvikar Klaus Pfeffer, dass "die Kirche" noch viel stärker als bisher "den Betroffenen zuhören und ihnen Glauben schenken" müsse. Ihn selbst hätten die Begegnungen mit Missbrauchsbetroffenen in den vergangenen Jahren sehr verändert. Pfeffer wörtlich: "Das geht schon sehr unter die Haut – und das lässt auch mich manchmal an meiner eigenen Kirche verzweifeln."
ZdK: "Schluss mit der organisierten Verantwortungslosigkeit!"
Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, erklärte gestern in einer Pressemitteilung, dass das Münchener Gutachten "zum wiederholten Mal" zeige, dass Verantwortliche in der Katholischen Kirche ihre Verantwortung nicht wahrnehmen.
Es sei deutlich geworden, "dass auf die Betroffenen bis 2010 keinerlei Rücksicht genommen wurde." Das "Ausbleiben überzeugender Strukturreformen" habe gezeigt, dass rechtswidrige Verhaltensweisen bis in die Gegenwart reichten. Die Funktionärin wörtlich:
"Auch im Jahr 2022 heißt die bittere Realität: Das System der Vertuschung, des Vergessens und der schnellen Vergebung ist nicht aufgebrochen worden."
Stetter-Karp sagte auch, sie glaube nicht mehr daran, dass die Kirche die Aufarbeitung allein schaffe. Es stelle sich die Frage, ob die Kirchenleitungen ohne politischen Druck ihrer persönlichen Verantwortung gerecht würden. "Im Gegenteil vermitteln Statements von Leitungspersönlichkeiten, dass sie zu keinem Zeitpunkt Entscheidungsgewalt innegehabt hätten", so die Funktionärin des Zentralkomitees.
Wie auch Kardinal Marx und Bischof Overbeck lenkte die Präsidentin des ZdK die Aufmerksamkeit auf den umstrittenen "Synodalen Weg". Dies deutsche Debattenveranstaltung stehe vor der dritten Synodalversammlung an einem Scheideweg, so die Funktionärin. In der Pressemitteilung wird Stetter-Karp mit den Worten – samt "Gendersternchen" – zitiert:
"Wir brauchen klare Voten für ein Ende des Machtmissbrauchs – gerade auch von Bischöfen. Entscheidungen sind zusammen mit der Basis der Katholik*innen zu finden. Und es ist höchste Zeit, dass Betroffene zu Beteiligten gemacht werden."
Schwere Vorwürfe machte die Amtsträgerin nicht Kardinal Marx oder dessen Vorgänger Wetter, sondern dem emeritierten Papst Benedikt. Das veröffentlichte Gutachten enthalte, so Stetter-Karp, "klare Hinweise darauf, dass dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising in vier Fällen ein Fehlverhalten nachzuweisen sei". Er habe "Missbrauchstäter im Priesteramt belassen und immer wieder versetzt", so die Funktionärin. Dass der emeritierte Papst in einer Stellungnahme vom 14. Dezember 2021 "nach wie vor kein Fehlverhalten einräume", bezeichnete die Funktionärin als "erschreckend". Aber ist diese Darstellung korrekt, oder werden hier Mutmaßungen als Vorwürfe in Anschlag gebracht?
Wie wahrscheinlich ist "überwiegend wahrscheinlich"?
Ulrich Wastl, der als einer der Köpfe der Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" maßgeblich an der Erarbeitung des Gutachtens beteiligt war, hatte bei der Vorstellung des Gutachtens eingeräumt, dass die Vermutung, Kardinal Ratzinger habe als Erzbischof von München und Freising in den geschilderten Fällen wissentlich rechtswidrig gehandelt, lediglich "überwiegend wahrscheinlich" sei. Der spätere Papst Benedikt war von 1978 bis 1982 Erzbischof von München und Freising.
Dabei beruft sich Wastl auf ein Sitzungsprotokoll des Münchner Ordinariats vom 15. Januar 1980, indem es um den Fall des Priesters H. geht. Ratzinger war trotz früherer gegenteiliger Beteuerungen bei diesem Gespräch anwesend, behauptet Wastl, ohne jedoch einen stichhaltigen Beweis liefern zu können. "Das müssen Sie mir äußerungsrechtlich glauben", so der Jurist.
Die Journalistin Regina Einig schreibt dazu in einem Beitrag der katholischen Wochenzeitung "Die Tagespost":
"Worüber in der Sitzung vom 15. Januar 1980 diskutiert wurde, kann Wastl nicht präzisieren und verweist auf 'die kreative Protokollierung' in katholischen Bistümern. Auf Nachfrage antwortet Wastl mit einer geballten Ladung Moral: 'Was für ein Amtsverständnis ist das eigentlich, wenn ich einen Priester übernehmen soll, von dem ich psychotherapeutisch behandelt wird, und dann frage ich mich noch nicht mal weshalb'. Dass das Stichwort 'Psychotherapie' in den 80er Jahren nicht automatisch den Verdacht auf Missbrauch hervorrief, soll scheinbar außen vor bleiben."
Der mittlerweile emeritierte Papst Benedikt beteuerte wiederholt, dass die Vertuschungsvorwürfe falsch seien und begrüßt die Aufklärung. Im Vorfeld der Untersuchung hatte er selbst einen 82-seitigen Bericht beigesteuert, der laut Rechtsanwalt Martin Pusch (Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl) einen "authentischen Einblick" gebe.
Die ZdK-Funktionärin Stetter-Karp geht auf diese Tatsache nicht ein, ebenso wie auf die Tatsache, dass Benedikt schon zuvor Vorwürfen in der "Zeit" kategorisch widersprechen ließ, er habe in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising von der Vorgeschichte des Priesters "Peter H." gewußt, als dieser in die Diözese im Jahr 1980 aufgenommen wurde.
"Die Behauptung, [Kardinal Joseph Ratzinger] hätte Kenntnis von der Vorgeschichte zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme des Priesters H. gehabt, ist falsch", so die kategorische Absage an die Aussagen in der "Zeit".
Der emeritierte Papst habe auch nicht bewusst auf die Sanktionierung von H. verzichtet, ließ Benedikt über seinen Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, mitteilen – "Er hatte von den Vorwürfen sexueller Übergriffe keine Kenntnis".
Gänswein: "Benedikt wird das Gutachten in den kommenden Tagen lesen"
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Gestern teilte Erzbischof Georg Gänswein außerdem mit, der emeritierte Papst werde die umfangreiche Untersuchung lesen. Bis gestern Nachmittag habe Benedikt XVI. "keinen Zugang zu dem mehr als 1.000 Seiten umfassenden Bericht der Anwaltskanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl" gehabt, in den kommenden Tagen werde er "den Text mit der nötigen Aufmerksamkeit prüfen".
Wörtlich sagte Gänswein außerdem:
"Der emeritierte Papst drückt, wie er es in den Jahren seines Pontifikats schon mehrfach getan hat, seine Erschütterung und Scham über den Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker aus und bringt seine persönliche Nähe und sein Gebet für alle Opfer zum Ausdruck, von denen er einige anlässlich seiner apostolischen Reisen getroffen hat."
Kardinal Marx schweigt bislang zu Vorwürfen
Für eine Überraschung sorgte das Fernbleiben des amtierenden Münchener Erzbischofs, Kardinal Reinhard Marx, bei der Vorstellung des Gutachtens. Anwältin Marion Westpfahl betonte, man habe Kardinal Reinhard Marx "ausdrücklich" eingeladen, zur Pressekonferenz zu erscheinen. Dieser Einladung sei er jedoch nicht gefolgt. "Wir bedauern sein Fernbleiben außerordentlich", so Westpfahl wörtlich.
Stattdessen hat der Erzbischof von München und Freising mit einer eigenen Stellungnahme auf die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens reagiert, das auch ihn in zwei Fällen belastet. Er sei "erschüttert und beschämt", so der Erzbischof.
Zu den Vorwürfe gegen seine Person durch die Gutachter – bis hin zu der Kritik, rechtswidrig gehandelt zu haben – äußerte sich Marx jedoch nicht. Stattdessen äußerte er die Ansicht, der umstrittene "Synodalen Weges" sei ein gutes Mittel der Aufarbeitung der Missbrauchskrise.
Marx, werfen die Gutachter insgesamt zwei Fälle von Fehlverhalten vor: Der Erzbischof habe dabei keine Maßnahmen ergriffen, um auf die Missbrauchsopfer zuzugehen und ihnen weitere Hilfen zukommen zu lassen. Zudem habe er rechtswidrig gehandelt: Marx habe die Fälle nicht der Glaubenskongregation in Rom gemeldet.
Allerdings habe Marx, so die Gutachter, in seiner Stellungnahme betont, dass die Hauptverantwortung für die Bearbeitung solcher Fälle seiner Meinung nach jedoch beim Ordinariat und dem Generalvikariat läge. Sollten diese ihren Pflichten nicht nachgekommen sei, empfinde er dafür lediglich eine "moralische Verantwortung".
Rechtsanwalt Pusch merkte dazu an, dass Marx betont habe, ihm als Erzbischof unterliege hauptsächlich die "Verkündigung des Wortes Gottes".
Diese Einschätzung werde von den Gutachtern jedoch "nicht uneingeschränkt geteilt". Marx' Argumentation greife zu kurz, so der Anwalt, wenn er die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit auf die ihm unterstellten Funktionsträger zuweise. Pusch wörtlich:
"Wann, wenn nicht im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist die Einordnung einer Thematik als 'Chefsache' zutreffen? Erst recht gilt dies, wenn die einschlägigen Regelwerke dem Diözesanbischof eine zentrale Rolle zuweisen. Dass Erzbischof Kardinal Marx diese wahrgenommen hätte, war für uns nicht festzustellen."
Vielmehr hätte es "gewisse Änderungen" im Umgang von Kardinal Marx mit Missbrauchsänderungen erst ab dem Jahr 2018 gegeben.
Wie CNA Deutsch berichtete, hatte Marx im Juni letzten Jahres dem Papst erfolglos seinen Rücktritt angeboten, und einen weiteren Versuch nicht ausgeschlossen.
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