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Um eine Philosophie des Guten: 24. Autonomie versus Funktionalisierung der Moral

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Das Phänomen der Moral ist ein Probierstein für jede Philosophie und Wissenschaft, die die Welt erklären wollen. Mit diesem Phänomen meine ich die moralische Sollens- und Werterfahrung. In einem atheistischen Weltbild hat sie keinen Platz. Da sie in ihm nicht erklärt werden kann, wird sie von Atheisten oft wegerklärt. Mannigfaltig sind die Versuche dazu. Für Psychologen wie Sigmund Freud ist die Moral das Ergebnis der Verinnerlichung der elterlichen Gebote und Verbote, für Biologen wie Dawkins ein Produkt der Evolution und unserer Gene, ein Trieb oder eine Art Beißhemmung im Ausleben egozentrischer Triebe. Weit verbreitet sind auch soziologische Deutungen: Werte werden nicht als Grund, sondern als Produkt menschlicher Wertungsakte angesehen. Moral wird funktionalisiert und auf ihre Funktion reduziert, z.B. als Ermöglichungsgrund von Kommunikation aufgrund von Normen, die gegenseitige Erwartungen kontrafaktisch stabilisieren, also zwischenmenschliches Verhalten in jenem Mindestmaß berechenbar machen, das für Kommunikation nötig ist (Luhmann).

Auf diese Weise wird die Geltung der Moral von ihrer Anerkennung abhängig gemacht. Sie ist vergleichbar der Geltung mancher Gesetze, die ihre Verbindlichkeit allein der staatlichen Legislative verdanken. Nehmen wir z.B. das Rechtsfahrgebot. Dieses “gilt” allein deshalb, weil der Staat es im Straßenverkehrsrecht in Geltung gesetzt hat. “Geltung” bedeutet hier nichts anderes, als dass der Staat das Rechtsfahren verbindlich vorschreibt. Wir sollen rechtsfahren, weil der Staat es will. Der Staat will es nicht deshalb, weil wir es sowieso schon sollen. Das Rechtsfahrgebot ist seine “Erfindung”. Natürlich ist diese Erfindung nützlich. Sie hat einen Wert. Aber es handelt sich um einen rein instrumentellen Wert im Hinblick auf ein gewünschtes Ziel, nämlich das Ziel der Verkehrssicherheit. Deshalb sind Äquivalente des Gebotes denkbar. Es könnte durch jede andere Vorschrift ersetzt werden, die für die Erreichung des Zieles denselben Wert hätte, z.B. durch ein Linksfahrgebot.

Ganz anders verhält es sich mit dem moralischen Sollen. Die moralische Norm, die den Mord verbietet, hat ihren Grund nicht in einem staatlichen Gesetz. Sie geht ihm voraus. Ihre Geltung ist unabhängig von jeder Anerkennung. Die Anerkennung ist vielmehr ihrerseits von dieser Norm moralisch gefordert. Die Norm gilt nicht, weil der Staat es will, sondern der Staat muss, wenn er gerecht sein will, diese Norm wollen, d.h. sie anerkennen und rechtlich durchsetzen. Dass Gesetze gerecht sein sollen, ist nicht ihrerseits das Produkt von Gesetzen.

Das moralische Sollen geht jedem Willen voraus, sei es dem Willen des Staates, sei es dem Willen des Einzelnen. Woher kommt es? Eine ernstzunehmende Antwort, die sich nicht damit begnügt, es hinwegzuerklären, sondern es in seiner vollen Geltung belässt, stammt von Immanuel Kant. Für ihn ist der kategorische Imperativ ein Faktum der Vernunft. Die Vernunft gibt das Gesetz. Kant drückt das so aus, dass die Vernunft “für sich selbst praktisch” (GMS AA IV, 461) wird. Was meint er damit? Das verstehen wir, wenn wir die Gegenposition betrachten, die wir bei David Hume finden. Hume hielt die Vernunft für eine Sklavin der Leidenschaften. Die einzige praktische Leistung der Vernunft besteht darin, uns die Mittel zu zeigen, die nötig sind, um jene Ziele zu erreichen, die uns die Leidenschaften vorgeben. Es sind allein die Leidenschaften, die uns zum Handeln motivieren. Die Vernunft steht in ihren Diensten. Kant entwirft nun von der Vernunft ein Gegenbild. Sie hat die Macht, für sich allein uns zum Handeln zu motivieren, oder in der Sprache Kants ausgedrückt: unseren Willen zu bestimmen. Damit die Vernunft praktisch wird, ist sie nicht auf die Motivationskraft der Leidenschaften angewiesen. Im Gegenteil: Wenn die Leidenschaften, oder in der Sprache Kants: die Neigung unseren Willen bestimmt, dann sind wir fremdbestimmt, heteronom. Wir folgen dann einem fremden Gesetz. Wir liefern uns der Kausalität empirischer Objekte aus, die Gegenstand unserer sinnlichen Neigung sind. Kausalität aus Freiheit kann es nur geben, wenn die Vernunft durch sich selbst praktisch wird, und das heißt: selber der Ursprung des Gesetzes ist, nach dem unser Wille kraft des Handelns in der Welt wirksam ist. Das Gesetz, das sich die Vernunft selber gibt, ist das Sittengesetz. Durch dieses wirken wir frei in die Welt der Erscheinungen hinein. Wenn wir dagegen nicht moralisch, sondern bloß aus Neigung handeln, dann wirken die Naturgesetze, d.h. die Gesetze sinnlicher Anziehung und Abstoßung aufgrund der “Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen” (KpV AA V, 24) auf uns. Nur auf diesem Hintergrund des Gegensatzes zwischen Pflicht und Neigung wird Kants Idee der Autonomie, der Selbstgesetzgebung, ganz verständlich. Wir handeln nach Kants Auffassung nur dann autonom, wenn wir sittlich handeln, d.h. in Unterordnung unter das Sittengesetz, das die Vernunft sich selber gibt. Deshalb kann Kant sagen, “ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen” sei einerlei (GMS AA IV, 447). In der Metaphysik der Sitten drückt er es noch drastischer aus:  “Je weniger der Mensch physisch, je mehr er da ge gen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er” (MST AA VI 380, Anmerkung). Hieran erkennen wir, wie sehr angeblich moderne Theologen Kants Autonomiebegriff missbrauchen, wenn sie diese Autonomie in einen Freibrief für ein Handeln nach sexueller Neigung verwandeln. Kant würde sich im Grabe umdrehen.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle drei Wochen am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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