Freitag, November 22, 2024 Spenden
Ein Dienst von EWTN News

Um eine Philosophie des Guten: 32. Mackie contra Newman

St. John Henry Newman

Es ist interessant zu sehen, wie Atheisten auf den der Reflexion sich erschließenden Zusammenhang zwischen Sittengesetz und Gott als dessen Ermöglichungsgrund reagieren. Schauen wir uns dazu die Ausführungen von John Leslie Mackie in dessen bekanntem Buch Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes an (Stuttgart 1985; das englische Original: The Miracle of Theism. Arguments for and against the Existence of God, Oxford 1982). Sie haben den Vorzug, den theistischen Standpunkt fairer als gewohnt darzustellen und ihn nicht auf eine platte Lohnethik zu reduzieren, ihm unterstellend, Gott auf die Rolle eines Vergelters zu beschränken, der dem Sittengesetz erst durch seine Strafandrohungen Verbindlichkeit verleihe. Im Gegenteil: Mackie gibt ausführlich die Gedankengänge John Henry Newmans wieder, der – wie wir schon in Folge 7 gesehen haben – in seinem Grammar of Assent einen “Gottesbeweis” aus dem Gewissen entwickelt hat (bei Mackie das Kapitel 6 (b): Newman: Das Gewissen als das schöpferische Prinzip der Religion, S. 164-169).

Die Stimme des Gewissens spricht nach Newman zu uns mit einer Autorität, die über das Gewissen hinausweist: “Wenn wir, wie es ja der Fall ist, uns verantwortlich fühlen, beschämt sind, erschreckt sind bei einer Verfehlung gegen die Stimme des Gewissens, so schließt das ein, dass hier Einer ist, dem wir verantwortlich sind, vor dem wir beschämt sind, dessen Ansprüche an uns wir fürchten” (Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz 1961, S. 77). Das bedeutet: Das im Gewissen erfahrene Sollen muss, wenn es ernst genommen werden soll, personal interpretiert werden.

Der australische Philosoph JL Mackie (1917–1981). (Wikimedia/Fair Use)

Mackie antwortet darauf mit der Eröffnung eines Dilemmas, in welches sich Newman hineinmanövriere. Ich formuliere es mit meinen Worten: Entweder nehmen wir den Gewissensspruch als einen solchen wahr, der einsichtigerweise verbindlich ist, oder eben nicht. Im ersten Fall ist ein weitergehender Rekurs auf Gott nicht nötig, im zweiten Fall nicht möglich. Er ist nicht nötig, weil sich die Verbindlichkeit des Gewissensurteils aus dem moralischen Sachverhalt ergibt, über den das Gewissen urteilt. Das Gewissen, so Mackie, schreibe “bestimmte Arten von Handlungen aufgrund der ihnen eigenen Qualität als vernünftig” vor. “Die Tatsache, daß sie von dieser oder jener Art sind, ist Grund genug, sie zu tun oder zu unterlassen. In der Art der Handlung selbst ist ein Tun- oder Unterlassen-Sollen eingeschlossen. Dann aber braucht man nicht jenseits des Gewissens nach einer übernatürlichen Person zu suchen, die eine solche Handlung befiehlt oder verbietet” (S. 167. Hervorhebung im Original).

Das ist genial und vollkommen richtig argumentiert. Dennoch greift die Argumentation zu kurz. Zunächst das Richtige: Die Gesolltheit der Handlung liegt in ihr selbst begründet. Damit hat Mackie übrigens recht gegen Immanuel Kant. Kant kann dies von seinem Ansatz her nicht zugeben, weil er dann den moralischen Imperativ - da eine Handlung ein Geschehen in der Erscheinungswelt ist - von empirischen Bedingungen abhängig machen müsste. Dann aber wäre der Imperativ nicht mehr kategorisch. Kant denkt das Verhältnis zwischen Imperativ und Handlung umgekehrt: Der kategorische Imperativ bezieht sich auf konkrete Handlungen nur über den Umweg von Maximen. Es ist das Sittengesetz, das den Handlungen die Bedingungen diktiert, unter denen allein sie einen moralischen Wert erhalten. Die Handlungen werden dadurch diesen Bedingungen unterworfen, dass ihre Maximen dem Test ihrer Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz ausgesetzt werden. Da der kategorische Imperativ ein Faktum der Vernunft ist, liegt nach Kant der Grund der Gesolltheit einer Handlung nicht in deren empirischen Eigenschaften, sondern allein in der Vernunft des moralischen Akteurs.

Wir brauchen die Kantische Vernunft nur durch das Newmansche Gewissen zu ersetzen, um eine verblüffende Parallele zu erkennen: In beiden Fällen wird die Gesolltheit der Handlung von ihren empirischen Eigenschaften abgekoppelt. Deshalb entspricht der von mir in der letzten Folge entwickelte Weg zur Gotteserkenntnis aus der Kantischen Vernunft seiner Struktur nach dem Newmanschen Gottesbeweis aus dem Gewissen. Dass übrigens jene Abkoppelung bei Newman über die erwähnte Parallele hinaus einen ganz anderen Charakter hat als bei Kant, sei hier nur nebenbei erläutert: Bei Newman ist sie nur eine Frage der Abstraktion, weil er den ‘sense of duty’, also die Empfänglichkeit für das moralische Sollen, das Pflichtgefühl, vom ‘moral sense’, der Erfassung der moralischen Qualität einer Handlung, unterscheidet. Es sind verschiedene Aspekte eines einzigen Gesamtphänomens. Bei Kant dagegen ist die Abkoppelung viel radikaler gedacht: Handlung und moralischer Imperativ gehören zwei verschiedenen Welten an, der phänomenalen Welt auf der einen, der noumenalen Welt auf der anderen Seite.

Wegen dieses Unterschieds wird Newman tatsächlich stärker vom Gegeneinwand Mackies getroffen als Kant. Denn es steht ihm nicht der Ausweg offen, die empirischen Eigenschaften der Handlung als irrelevant für die Erklärung ihrer Verbindlichkeit einfach abzutun.

Um noch einmal das Problem auf den Punkt zu bringen: Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Kann ich es einer Handlung aufgrund ihrer empirischen Eigenschaften ansehen, ob sie gesollt ist? Wenn ja, warum brauche ich dann noch Gott, um diese Gesolltheit zu erklären? Die Stimme des Gewissens scheint nichts anderes zu sein als die Erkenntnis dieser Gesolltheit.

Die Angreifbarkeit des Newmanschen Gedankengangs ergibt sich nicht zuletzt aus der Verwendung der Metapher des Hörens. Eine Stimme hört man. Eine unmoralische Tat ist eine “Verfehlung gegen die Stimme des Gewissens”, wie Newman schreibt. Unserem Sprachgebrauch gemäß hat das “Hören” im Vergleich zum “Sehen” häufig eine verminderte kognitive Potenz. Wenn ich davon höre, dass irgendwo ein Ereignis stattfindet, dann hat die Kenntnisnahme dieses Ereignisses den Charakter des Glaubens, nicht des Wissens. Ich glaube demjenigen, der es mir erzählt. Wenn ich mich davon überzeugen will, ob das Erzählte wirklich stimmt, gehe ich hin, um es mir vor Ort anzuschauen. Durch das Sehen wird das vom Hören her Geglaubte in ein Gewusstes überführt. Umgekehrt macht das Sehen das Hören überflüssig. Wenn ich selber Augenzeuge des Ereignisses bin, bin ich nicht mehr auf das Hören anderer Augenzeugen angewiesen. Das bedeutet, auf unser Thema angewandt: Das Sehen macht das Hören überflüssig. Wenn ich es einer Handlung ansehe, dass ich sie tun soll, brauche ich keine zusätzliche Stimme, die sie mir befiehlt und hinter der ich Gott vermuten muss.

Was also, so lautet die Frage, an der sich die Kontroverse zwischen Mackie und Newman anscheinend entscheidet, muss ich tun, um zu erkennen, ob eine Handlung gesollt ist? Mackie sagt: Schau hin! Du musst es der Handlung ansehen können. Newman sagt: Höre auf dein Gewissen! Die Stimme des Gewissens sagt es dir.

Natürlich handelt es sich um eine Scheinalternative. Aber um das zu erkennen, müssen wir tiefer in die Problematik einsteigen. Es handelt sich bei dieser Fragestellung um den Kreuzungspunkt mehrerer Problemlinien.

Was erkennen wir denn, wenn wir eine Handlung sehen? Was wir unmittelbar sehen, sind nur ihre empirischen Eigenschaften und gerade nicht ihre moralische Qualität. Für ethische Skeptiker und Relativisten wie Mackie ist dies ja gerade ein Grund, die Realität moralischer Werte zu leugnen. Ein anschauliches Beispiel liefert der Relativist Gilbert Harman: Wenn Sie, so meint er, zufällig beobachten, “wie eine Gruppe jugendlicher Rowdies eine Katze mit Benzin überschüttet und sie anzündet”, dann kommen Sie ohne Überlegungen so spontan zu einem moralischen Urteil, dass Sie sagen, Sie könnten “sehen, dass es falsch ist” (Das Wesen der Moral, Frankfurt a. M. 1981, S. 14, Hervorhebung im Original). Aber dieser Sprachgebrauch trügt: In Wirklichkeit, so Harman, wird die Falschheit nicht gesehen. Das moralische Urteil ist vielmehr der spontane Ausdruck unseres Entsetzens, also eines moralischen Gefühls, das seinerseits wiederum das Ergebnis unserer Erziehung ist. Diese wiederum fasst Harman im Sinne Freuds als die Verinnerlichung elterlicher Norm- und Wertvorstellungen auf, als die Ausbildung eines Über-Ichs. Da dieses Über-Ich eine “eine gesellschaftlich nützliche Fiktion” sei, kann man sagen: “Die Moral beruht auf Vortäuschung und Fiktion” (S. 76, im Original: “The superego is therefore a socially useful fiction. But it is a fiction - a pretense. That is the point. Morality rests on pretense and fiction”, S. 62). Das Original (The Nature of Morality) erschien 1977, im selben Jahr wie das noch einflussreichere Buch von Mackie Ethics. Inventing Right and Wrong, durch welches Mackie der Vater der sogenannten Irrtumstheorie wurde. Der Sache nach sagt er dasselbe wie Harman, nur dass er statt von “Fiktion” etwas zurückhaltender von “Irrtum” spricht. Der Irrtum besteht nach ihm darin, dass wir an objektive Werte glauben, deren Existenz wir in unseren moralischen Urteilen voraussetzen. Am Ende seines Buches nennt Mackie die “Objektivierung moralischer Werte und Pflichten” dann selber ausdrücklich eine Fiktion, “a useful fiction” (S. 239), vom Übersetzer Rudolf Ginters verharmlosend und verfälschend mit “nützliche Funktion” (S. 305) wiedergegeben (so wie Ginters übrigens bei der ersten Auflage im Titel des Buches auch das “Inventing” statt mit “Erfinden” falsch mit “Auf der Suche” nach dem Richtigen und Falschen, übersetzt hatte).

Eines seiner beiden Hauptargumente gegen die Annahme einer Existenz moralischer Werte besteht in der Unterstellung der Absonderlichkeit (queerness) solcher Werte. Warum sind sie absonderlich? Weil wir sie nicht sehen können. Das einzige, was wir sehen können, sind die empirischen Eigenschaften, die den moralischen Charakter einer Handlung begründen. Zum Beispiel: Weil eine Handlung die empirische Eigenschaft der Grausamkeit hat, nennen wir sie falsch oder böse. Aber, so Mackie, mit welchem Recht folgern wir aus einer deskriptiven Eigenschaft eine moralische Eigenschaft? Wir sagen zwar ganz unbekümmert, dass eine Handlung falsch sei, weil sie grausam sei, aber, so Mackie: “Doch was in aller Welt ist mit diesem 'weil' gemeint? Und woher wissen wir um die so charakterisierte Beziehung, wenn es sich dabei um mehr handeln sollte als um die Tatsache, daß solche Handlungen gesellschaftlich - und auch von uns selbst, vielleicht weil wir uns die Einstellungen unserer sozialen Umwelt zu eigen gemacht haben - verurteilt werden?" (S. 47 f).

Weil Mackie auf diese Frage keine Antwort weiß, hält er moralische Werte für eine Fiktion. Und warum kennt er keine Antwort darauf? Weil er nur die sinnliche Wahrnehmung als unmittelbaren Erkenntniszugang anerkennt. Er wirft dem “Objektivisten” vor, in der vorgeblichen Erkenntnis von Werten nicht auf “our ordinary accounts of sensory perception or introspection” (S. 39) und anschließende Operationen der Theoriebildung zurückzugreifen, sondern sich auf eine “eigenartige Eingebung” (S. 44., “some input of this distinctive sort”) zu berufen. Das Gewissen als exakt jenes gesuchte Erkenntnisvermögen, das uns die Wirklichkeit der Werte erschließt, bringt er hier nicht ins Spiel. Erst an späterer Stelle seines Buches führt er das Gewissen ein, aber nicht als Erkenntnisvermögen, sondern als Handlungsdisposition, und zwar dabei ganz die Auffassung Harmans teilend: Das Gewissen “gründet sich auf der Verinnerlichung moralischer Forderungen, die in der Kindheit von außen an uns herangetragen werden” (S. 156).

Weil Mackie das Gewissen als eine mögliche Option der gesuchten Antwort auf die Frage nach moralischer Erkenntnis ausblendet, werden moralische Tatsachen wie auch ihre Erkenntnis zu etwas Absonderlichem. Interessanterweise gesteht Mackie zu, dass unter theistischer Prämisse “eine Art objektiver moralischer Präskriptivität angenommen werden kann” (S. 57). Das ist nur folgerichtig, wenn man erkennt, dass die beklagte Absonderlichkeit eine Folge des Materialismus ist. In einem materialistischen Weltbild haben Werte keinen Platz; es kennt nur deskriptiv charakterisierbares Seiendes. Wo soll hier gemäß dem Humeschen Gesetz jemals ein Sollen herkommen? Dieses wird nur erklärlich, wenn es eine ursprüngliche Wirklichkeit widerspiegelt. Entweder gibt es Wert, in sich Wertvolles, normativ Gewichtiges, von Anfang an oder gar nicht.

(Die Geschichte geht unten weiter)

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

WhatsApp Telegram

Wenn wir nun Mackies Gedankengang aus seinen beiden Büchern zusammenschauen, entdecken wir einen interessanten Zirkelschluss: Nach Mackie macht der Atheismus die Erkenntnis moralischer Werte unmöglich, umgekehrt macht diese Erkenntnis den Gottesglauben überflüssig. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Ding an sich bei Kant: Ohne Gott komme ich nicht in den moralischen Realismus hinein, mit ihm kann ich nicht in ihm bleiben.

Doch schauen wir uns den zweiten Teil dieses von Mackie konstruierten Dilemmas genauer an: Mackies Argument gegen Newman lautete, dass “in der Art der Handlung selbst ist ein Tun- oder Unterlassen-Sollen eingeschlossen” sei. Dieses Eingeschlossensein ist genau jener angeblich mysteriöse Sachverhalt der Supervenienz, demgemäß einer deskriptiven Eigenschaft, z.B. der Grausamkeit, eine normative folgt: Weil es grausam ist, Kinder zu quälen, darf man es nicht tun. Diese Wahrheit ist uns allen deshalb vertraut, weil wir ein Gewissen haben. Die Verfremdung, die Mackie mit seinem Argument der Absonderlichkeit vornimmt, ist künstlich und lediglich seinem Atheismus geschuldet. Durch den Gottesglauben wird beides auf einen Schlag verständlich: der Wert und das Gewissen. Die lebensweltliche Vertrautheit mit beidem wird durch den Gottesgedanken nicht künstlich zu einer Absonderlichkeit verfremdet, sondern reflexiv eingeholt. Unser gesunder moralischer Sinn, der Grausamkeit für verwerflich hält, wird bestätigt. Der moralische Kognitivismus macht nicht, wie Mackie unterstellt, den Gottesglauben überflüssig, sondern rettet die Moral und eröffnet uns durch sie hindurch einen Weg zur Gotteserkenntnis, die wiederum den Kognitivismus plausibel macht.

Dennoch bleibt das Problem bestehen, wie in der moralischen Erkenntnis die Metaphern des Sehens und Hörens zusammenpassen. Die Antwort auf diese Frage müssen wir auf die kommenden Folgen vertagen.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint nach der Sommerpause wieder bei CNA Deutsch. 

Die bisherigen Folgen im Überblick:

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.  

Unsere Mission ist die Wahrheit. Schließen Sie sich uns an!

Ihre monatliche Spende wird unserem Team helfen, weiterhin die Wahrheit zu berichten, mit Fairness, Integrität und Treue zu Jesus Christus und seiner Kirche.

Spenden

Die Besten katholischen Nachrichten - direkt in Ihren Posteingang

Abonnieren Sie unseren kostenlosen CNA Deutsch-Newsletter.

Klicken Sie hier