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"Soll 'König Sex' jetzt endlich auch in der Kirche die Herrschaft übernehmen?"

Christus, der wahre König, mit musizierenden Engeln, gemalt von Hans Memling um 1480
Albert Christian Sellner

Herr Sellner, Kardinal Robert Sarah in Rom hat die Kritik am Aufsatz von Papst emeritus Benedikt XVI. als "intellektuelle Hysterie" bezeichnet und viele der negativen Reaktionen als "erbärmlich und dumm". Welche Reaktionen gab es auf den mächtigen Aufschlag Ihres Vorworts zum Schreiben des Papa emeritus, in dem Sie "Die Sexuelle Revolution und ihr Scheitern" einordnen?

In der Alt-68er Szene gab es einerseits die stolze Bestätigung: "Klar! Natürlich waren wir für die sexuelle Revolution verantwortlich. So what!" – meist mit einschlägig erinnerten Veteranengeschichten aus jener Zeit, die allerdings nur noch selten gute oder gar lustvolle oder auch nur lustige Erinnerungen weckten.  Andere grauhaarige Genossen zweifelten an meinem aktuellen Geisteszustand und warfen mir vor, ich wolle wohl die Verhältnisse und Verbote der 50er Jahre wieder einführen. Aus dem christlichen "progressiven" Milieu hingegen wurde ich mit Auffassungen konfrontiert, die zum Dauerprogramm dieses Lagers gehören: Modernisierung der Liturgie, ökumenisches Abendmahl, Frauenpriesterschaft, Ehesakrament für schwule Verbindungen, etc. etc. Papst Benedikt ist für diese Menschen immer noch kaum mehr als der große Verhinderer der lichten Zukunft. Eine traurige Gestalt. Und begreife ich denn eigentlich nicht, dass das Priestertum ein Beruf wie alle anderen ist?! Dass Frauen und Männer gleichen Zugang zu allen Berufen haben müssen, wie es unsere Verfassung vorsieht usw. usw.? In dieser Vorstellungswelt – in der es sich auch einige Bischöfe offensichtlich längst bequem gemacht haben -  sind die Kirchen kaum mehr als reine Sozialverbände. Eine Art frommer NGOs – wo es aber auch mit dem Frommsein nicht übertrieben werden soll.

Was mir aber bei fast allen Gesprächen begegnete, war die längst und mehrfach widerlegte Meinung, der Zölibat sei wesentliche Ursache der Missbrauchsfälle. Für diese irrige Überzeugung hat sich in vielen Köpfen die jahrhundertelange Polemik erst des Protestantismus, dann des Rationalismus, dann der Kulturkämpfer der Bismarckzeit, dann der Nazis und schließlich der progressistischen Medien zu einem kaum auflösbaren Ressentiment und Gemisch verfestigt.

Diese antikatholische und ultramontane Animosität  sitzt besonders in Deutschland ganz tief, wo sie verstärkt wird durch jahrhundertealte "schwarzen Legenden" und andere "Narrative", von denen ich hier nur die protestantischen und freidenkerischen Schauergeschichten über die Ohrenbeichte erwähnen will - oder die Diffamierung der Volksreligiosität als Obskurantismus oder Aberglaube.

Sie waren lange ein Genosse und enger Mitarbeiter Daniel Cohn-Bendits, der als "Dany le rouge" zu einer Symbolfigur des Pariser Frühlings im Jahr 1968 geworden war. Mit ihm haben Sie den "Pflasterstrand" in Frankfurt herausgegeben, der seinen Titel jener Revolte verdankte, in der es provokativ hieß: "Unter dem Pflaster liegt der Strand".  Nun haben Sie aus Ihrer Innensicht kühl das Scheitern der sexuellen Revolution analysiert, in der aber auch Daniel Cohn-Bendit als Leitfigur gelten kann. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Einordnung Benedikt XVI. und die Forderungen seiner Kritiker, die Kirche müsse endlich "mit der Zeit" gehen?

Die sexuelle Revolution der 60er Jahre hatte ja einige Väter und Mütter. Da gab es die Erfindung der Pille, den wachsenden Drogengebrauch und -missbrauch, die Konsum- und Werbekultur. Vieles kam aus den USA. Die Pornoindustrie florierte schon ab 1966 in Dänemark. Schweden und die Niederlande folgten. Die Legalisierung des Vertriebs von Kinderpornographie wurde in allen drei Ländern erst in den 1980er Jahren abgeschafft. Dies war die Schmuddelseite der Geschichte, die weniger eine "Revolution" war, sondern de facto eine kommerzialisierte Sexwelle, mit der vor allem Profit gemacht wurde.

Dany Cohn-Bendit war in Person eine Verbindung der französischen Boheme mit der deutschen Theorietradition. Er hatte in den Pariser Studentenprotest von 1968 das Thema Sexualität und Politik mit einigen witzigen Sottisen populär gemacht. Darauf flogen ihm die Herzen der traditionell auf ihre Kunstfreiheit stolzen französischen Elite zu. In Frankreich hatten Oberschicht und die Künstlerelite schon immer eine enge Beziehung, gesellschaftlich, und durchaus auch intim.

Der französische Film entwickelte sich in den 1970er Jahren zu einem Tabubrecher par excellence. Die Filme von Bernard Blier wurden oscarprämiert, sogar der Titel "Frau zu verschenken", in dem die ehelich frustrierte Betreuerin eines Kindercamps mit einem 13jährigen eine Affäre beginnt. Der offizielle katholische (!) "Filmdienst" pries das Werk damals als "geschmackvoll und liebevoll inszenierte erotische Komödie mit hohem Unterhaltungswert".

In Cannes wurde 1981 "Ausgerechnet der Stiefvater" uraufgeführt, der das "Liebesverhältnis" eines Delinquenten zu seiner 15jährigen Stieftochter schildert. Der katholische "Filmdienst" war auch hier sehr angetan von der "behutsamen Auseinandersetzung mit einem heiklen Thema, das sich ganz auf eine ruhige und liebevolle Betrachtung der Charaktere einlässt".

Louis Malle war vorausgeeilt und hatte mit "Herzflimmern" schon 1971, wie es hieß "eine ebenso zärtliche wie unsentimentale Studie über das Erwachsenwerden" komponiert, in der allerdings eine Mutter und ihr 15jähriger Sohn eine Liebesnacht zusammen verbringen. Die Kritik war damals noch gespalten, der Film in manchen Ländern verboten, aber die progressiven Cineasten feierten Louis Malle als ihren "Cultural Hero" und wagemutiges Genie. Oder in den Worten vom "Filmdienst": "Die Tabuverletzung wird  konsequent und nahezu selbstverständlich aus der Entwicklung und dem Lebensmilieu des jugendlichen Helden abgeleitet. In der glaubhaften und unaufdringlichen Gestaltung und vor allem in der Führung des jugendlichen Hauptdarstellers ist der Film durch außerordentliches Können gekennzeichnet."

Der allgemeine und von den Medien forcierte "Diskurs" über Sexualität glitt immer mehr ab in die Thematik von Inzest und die Erotik von Kindern und Jugendlichen. Ein weltweit gefeierter Fotograf und Filmemacher wie David Hamilton kaprizierte sich auf mädchenhafte Frauengestalten. In Filmen wie Bilitis 1977, Die Geschichte der Laura M 1979, Zärtliche Cousinen 1980 präsentierte er jugendliche Nackte in Weichzeichner. Hamilton verkehrte vielbeachtet im internationalen Jet Set – er hatte Bewunderer von Omar Sharif, Gunter Sachs und Leni Riefenstahl bis zum Sultan von Brunei und im dänischen Königshaus.

2006 erklärte die französische Fernsehmoderatorin Flavie Flament in einem Interview, Hamilton habe sie im Alter von 13 Jahren vergewaltigt. Drei weitere Frauen meldeten sich mit ähnlichen Vorwürfen. Eine Woche später wurde Hamilton tot in seiner Wohnung aufgefunden.

Mein Freund Dany [Cohn-Bendit] aber meinte, auch auf diesem Gebiet mit seinen zahlreichen Pariser Freundinnen und Freunden mithalten zu müssen, und schrieb – er war kein großer Stilist – eine Passage über die Erotik kleiner Mädchen. Dies wird ihm bis heute als "Geständnis" eines Missbrauchs unterstellt. Ich kenne persönlich alle Mitglieder des damaligen "Kinderladens", in dem er zeitweise aushalf. Auch die inzwischen ihm politisch unfreundlich Gesonnenen dementieren, dass dieser literarischen Entgleisung irgendeine reale Handlung zugrunde lag.

In den "Pflasterstrand"-Zeiten der 80er Jahre gehörten Dany und die gesamte Redaktion zu entschiedenen Gegnern der grünen Kindersex-Propagandisten. Und seine "französische Seite" brachte in unsere Zeitung auch immer wieder die antitotalitären Interventionen der Pariser Philosophen wie André Glucksman, Alain Finkielkraut, Michel Foucault, Bernard-Henri Levy und Julia Kristeva zur Sprache. Das hieß Polemik gegen Kommunismus, Guerillaromantik und Sektenexperimente wie den Bhagwan-Hype. Wie seine polnischen Freunde Adam Michnik und Jacek Kuron schätzte auch er die geistige Wirkung Karel Wojtylas. Was ihm sicher fehlt, ist ein Sinn für Spiritualität, da kann er aus seiner libertär-progressistischen Haut nicht heraus.

Ich verehre hingegen Papst Benedikt wie Johannes Paul II. wegen ihrer konsequenten Gegenposition zum Zeitgeist. Wo fast alle in dieselbe Richtung trabten oder im Gleichschritt marschierten, hielten beide unerschrocken das Prinzip des "schon immer Gültigen" dagegen. Es war gut, dass Johannes Paul II. und Benedikt XVI. dieser Zerstörung humaner Fundamente entgegentraten.

Wenn heute einer der Präzeptoren der "sexuellen Revolution", wie der führende Sexualforscher Volker Sigusch Bilanz zieht, dann kommt er zu Befunden wie: "Die Bruchstücke, die uns im Augenblick beschäftigen, heißen: das missbrauchte Kind, der Sextourist, der Pferdeschänder. Zu ihnen gesellt sich seit zwei Jahrzehnten ein gequältes und quälendes Diskurspersonal: die falsch liebende Mutter, der lüstern abwesende Vater, der sexistische Mann, die lustlose Frau, der medial Sexsüchtige, der elektronisch zerstreute Perverse, der medizinisch prothetisierte Impotente, der operativ beruhigte Geschlechtswechsler, vor allem aber das sozial ungleiche, emotional misstrauische, theoretisch und aporetisch heterosexuelle Paar." Und Sigusch widerspricht der Behauptung, freie Liebe werde freie Menschen und eine freie Gesellschaft produzieren: "Das hat nicht funktioniert. In Wahrheit wurde ein König Sex installiert. Und es wurde maßlos überschätzt, was man aus der sexuellen Sphäre herausziehen kann: Glück, unendlichen Spaß und das Ende des Kapitalismus. Die symbolische Überhöhung war geradezu unerträglich."

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Die Vordenker der "sexuellen Revolution merkten es schon früh. So stellte der SDS-Vorsitzende Reimut Reiche 1969 in seinem damaligen – im Übrigen durch den soziologisch-psychoanalytisch-marxistischen Jargon schwer lesbaren – Standardwerk "Sexualität und Klassenkampf" fest, dass die Sexwelle in Wahrheit ein Repressionsinstrument des Spätkapitalismus sei. Statt begeistert sich der Entsublimierung des Erotischen auszuliefern, empfahl er den Genossen mit den Worten Adornos: "Der Befehl zur Treue, den die Gesellschaft erteilt, ist Mittel zur Unfreiheit, aber nur durch Treue vollbringt Freiheit Insubordination gegen den Befehl der Gesellschaft."

Hatte die Kirche mit ihrer christlichen Lehre also etwa die ganze Zeit recht? Wieso bemühen sich dann Bischöfe in Deutschland, über einen "synodalen Weg" eine Abkehr von dieser Sexualmoral zu erreichen? 

Soll "König Sex" auf diesem Weg jetzt endlich auch in der Kirche die Herrschaft übernehmen? Ist das nur absurd? Oder tritt mich und einige Bischöfe da zusammen ein Pferd? Die Vernebelung und Manipulation aller sittlichen Normen führen in Dekadenz und zum Untergang unserer abendländischen Zivilisation und Kultur, die Europa so einzigartig und schön gemacht hat, auch wenn Kardinal Marx den Begriff "Abendland" kürzlich als "ausgrenzend" diskreditieren wollte. Wem will er aber damit dienen?

Über die Interpretation der christlichen Lehre gilt es theologisch, dogmatisch und mit Klugheit zu streiten. Zwischen den großen Kirchenlehrern gibt es über wichtige Fragen sehr unterschiedliche Nuancen. Es gibt aber auch den Unterschied von Staat und Kirche. Die Entkriminalisierung gewisser Formen der Sexualität kann man akzeptieren, ohne die kirchlichen Normen aufzugeben. Sünde ist nicht dasselbe wie Vergehen im strafrechtlichen Sinn.

Ich kenne aus der Geschichte der kirchlichen Sexualmoral die Unterscheidung von Sünden, die aus der Natur herrühren, und Sünden wider den Geist. Jene können den Reuigen vergeben werden, diese bekanntlich nicht. Als Menschen sind wir alle unausweichlich Sünder, wir streben nach Besserung und hoffen auf die Barmherzigkeit des Himmels. Der Kampf gegen die zeitgenössische totale Sexualisierung der Alltagskultur aber und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen ist kein Kampf gegen "triebbedingte" individuelle Verletzungen moralischer Normen, sondern gegen das tyrannische Regime von "König Sex", der jeden Geist und den Verstand verloren hat wie Iwan der Wahnsinnige. Es ist ein Überlebenskampf.

Ja, es gibt Sünde in der Kirche

Papst Benedikt XVI. em. "Ja, es gibt Sünde in der Kirche. 
Zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche" mit einem Vorwort von Albert Christian Sellner ist im Fe-Medienverlag erschienen. 

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