Große Unterschiede zwischen der Würzburger Synode (1971-1975) und dem Synodalen Prozess (ab 2019) in Deutschland gibt es nicht nur hinsichtlich der Nähe und Distanz zur Weltkirche, sondern auch im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft. Im aktuellen "Synodalen Weg" wird zum Beispiel das "Auseinanderdriften zwischen dem gesellschaftlichen und kirchlichen Leben" eher bedauernd festgestellt; auch im Umfeld ist immer wieder von der "Anschlussfähigkeit" an die moderne Gesellschaft die Rede. Im Ergebnis bedeutet das eine vermeintlich deterministische Annahme: Die Kirche muss sich gesellschaftlichen Trends anpassen. Diese Haltung wird vielfach in den Beschlussvorlagen deutlich.

LINK-TIPP: Teil Eins der Serie kann hier gelesen werden.

Die Würzburger Synode war gegenteiliger Meinung: Der Beschlusstext "Unsere Hoffnung – Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit" tritt der Gesellschaft offensiv gegenüber. Er arbeitet ihre Schwierigkeiten und Widersprüche heraus und antwortet auf Grundlage des christlichen Glaubens. 

Die innere Struktur dieses Grundlagentextes ist erkennbar:

  1. Ein Thema wird aufgegriffen, meist mit Worten des Neuen Testamentes (Jesus erlöst uns von Schuld und Sünde).
  2. Die gesellschaftliche "Gegenstimmung" als Kontrasterfahrung wird benannt (Unschuldswahn).
  3. Die Tragweite und Wichtigkeit der Glaubenswahrheit wird angesichts dieser konkreten gesellschaftlichen Situation dargestellt (mögliche Befreiung und Lösung durch Vergebung).
  4. Selbstkritik und Selbstmahnung greifen die eigene Verstrickung der Kirche in gesellschaftliche Entwicklungen auf.
  5. Das christliche Glaubenszeugnis wird als Hilfe und Ermutigung zur Bewältigung konkreter Lebenssituationen dargestellt (Schuldbekenntnis und Vergebung befreien von Daseinsangst).

Die Wirksamkeit des Textes liegt allein darin, den christlichen Glauben neu aufleuchten zu lassen und den Einzelnen auf den Weg der Jesus-Nachfolge zu locken.

Glaubenswahrheit statt Anschlussdenken

Auf direkt umsetzbare Empfehlungen oder Anordnungen wird in diesem Grundlagentext verzichtet. Prof. Dr. Theodor Schneider schreibt im Einleitungstext der damaligen Synoden-Dokumentation: "Bei allem nüchternen Ernstnehmen der Gegenwart und ihrer Schwierigkeiten, bei offenem Eingeständnis auch des eigenen Versagens und Ungenügens ist statt Verzagtheit und bloßer Klage ein ansteckender ‚Optimismus‘ zu finden, der sich gerade nicht von irgendwelchen positiven Zeiterscheinungen herleitet, sondern aus der freigelegten, ursprünglichen Kraft der Glaubenswahrheit selber" (Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung, Offizielle Gesamtausgabe I, S. 81). Allein der Titel "Unsere Hoffnung" bringt dies bereits zum Ausdruck.

"Der Gott unseres Glaubens ist der Grund unserer Hoffnung, nicht der Lückenbüßer für unsere Enttäuschungen", heißt es zum Beispiel. Und: "Die Gottesbotschaft unserer Hoffnung widersteht einer totalen Anpassung der Sehnsucht des Menschen an seine Bedürfniswelt."

Selbstbewusst stellt die Synode fest: "Gottes ewiges Wort ist Mensch geworden, einer von uns. In neuer Weise ist heute unter vielen Menschen das Interesse am Leben und Verhalten Jesu erwacht: das Interesse an seiner Menschenfreundlichkeit, an seiner selbstlosen Teilnahme an fremden, geächteten Schicksalen, an der Art, wie er seinen Zuhörern ein neues zukunftsreiches Verständnis ihres Daseins erschließt, wie er sie aus Angst und Verblendung befreit und ihnen zugleich die Augen öffnet für ihre menschenverachtenden Vorurteile, für ihre Selbstgerechtigkeit und Hartherzigkeit angesichts fremden Leids, und wie er sie in all dem immer wieder aus Hörern zu Tätern seiner Worte zu machen sucht."

Verkündung in dieser Welt

Der Synodentext konstatiert aber zugleich den "Zwiespalt nämlich zwischen der Lebensorientierung an Jesus und der Lebensorientierung an einer Kirche, deren öffentliches Erscheinungsbild nicht hinreichend geprägt ist vom Geist Jesu. Freilich kann dieser Zwiespalt nicht dadurch vermieden werden, dass wir das Gottgeheimnis in Jesus zugunsten seiner vermeintlich eingängigeren und praktischeren Liebesbotschaft zurücktreten oder verblassen lassen."

Die Würzburger Synode ist auch nicht zimperlich, auf unpopuläre Themen hinzuweisen, zum Beispiel auf die "christliche Hoffnung als Erwartung des endzeitlichen Gerichts Gottes über unsere Welt und ihre Geschichte, wenn der Menschensohn wiederkommt". Erneut folgt eine selbstkritische Passage: "Freilich: Haben wir in der Kirche diesen befreienden Sinn der Botschaft vom endzeitlichen Gericht Gottes nicht selbst oft verdunkelt, weil wir diese Gerichtsbotschaft zwar laut und eindringlich vor den Kleinen und Wehrlosen, aber häufig zu leise und zu halbherzig vor den Mächtigen dieser Erde verkündet haben?"

An anderer Stelle weist der Text auf "Jesus Christus, unseren Erlöser", hin. "Das Christentum widersteht mit seiner Rede von Sünde und Schuld jenem heimlichen Unschuldswahn, der sich in unserer Gesellschaft ausbreitet und mit dem wir Schuld und Versagen, wenn überhaupt, immer nur bei ‚den anderen‘ suchen, bei den Feinden und Gegnern, bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu." 

Umkehr und aktuelle Analysen

Die Würzburger Synode weist dann gesellschaftskritisch auf die Folgen hin: "Dieser heimliche Unschuldswahn betrifft auch unser zwischenmenschliches Verhalten. Er fördert nicht, er gefährdet immer mehr den verantwortlichen Umgang mit anderen Menschen. Denn er unterwirft die zwischenmenschlichen Verhältnisse dem fragwürdigen Ideal einer Freiheit, die auf die Unschuld eines naturhaften Egoismus pocht. Solche Freiheit aber macht nicht frei, sie verstärkt vielmehr die Einsamkeit und die Beziehungslosigkeit der Menschen untereinander." 

Und es folgt die Selbstermahnung: "Unsere christliche Predigt der Umkehr muss jedenfalls immer der Versuchung widerstehen, Menschen durch Angst zu entmündigen." Aber der Text hebt zugleich hervor: "Die durch Jesus angebotene Vergebung unterscheidet das Christentum aber auch von allen grauen Systemen eines rigorosen, selbstgerechten und freudlosen Moralismus."

Der damalige Synodentext bietet weitere Analysen, die auch 50 Jahre später noch aktuell erscheinen. So wird gefragt: "War unser öffentliches Bewusstsein nicht zu lange von einem naiven Entwicklungsoptimismus durchstimmt? Von der Bereitschaft, sich widerstandslos einem vermeintlichen Stufengang im Fortschritt von Aufklärung und technologischer Zivilisation zu überlassen und darin auch unsere Hoffnungen zu verbrauchen? Heute scheint der Traum von einer schrankenlosen Herrschaft über die Natur im Interesse einer ebenso unbegrenzt vermehrbaren Bedürfnisfindung wie Bedürfnisbefriedigung langsam ausgeträumt. Zugleich spüren wir deutlicher die Fragwürdigkeit und geheime Verheißungslosigkeit, die in einer rein technokratisch geplanten und gesteuerten Zukunft der Menschheit steckt."

Auch mit weiteren Zeiterscheinungen setzte sich die Würzburger Synode auseinander und analysierte: "Zeigt sich nicht auch immer deutlicher im Schicksal der einzelnen, dass diese ‚neue Welt‘ innere Leere, Angst und Flucht erzeugt? Müssen nicht Sexualisierung, Alkoholismus, Drogenkonsum als Signale verstanden werden? Deuten sie nicht eine Sehnsucht nach Zuwendung, ja einen Hunger nach Liebe an, die eben nicht durch Verheißungen der Technik und der Ökonomie gestillt werden können?"

Gesellschaftspolitisch betonte die Synode vor rund 50 Jahren: "Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber den Welthandelspreisen! Dennoch sind seine Verheißungen nicht etwa identisch mit dem Inhalt jener sozialen und politischen Utopien, die einen neuen Menschen und eine neue Erde, eine geglückte Vollendung der Menschheit als Resultat gesellschaftlich-geschichtlicher Kämpfe und Prozesse erwarten und anzielen. Unsere Hoffnung erwartet eine Vollendung der Menschheit aus der verwandelnden Macht Gottes. … Dieses christliche Hoffnungsbild von der Zukunft der Menschheit entrückt uns nicht illusionär den Kämpfen unserer menschlichen Geschichte.… Es ist nur von einem nüchternen Realismus über den Menschen und seine geschichtliche Selbstvollendung geprägt. Es zeigt den Menschen, der immer ein Fragender und Leidender bleibt."

Zu Jesus Christus bekennen

Das glaubensgetragene Selbstverständnis der Würzburger Synode kommt auch in der Aussage zum Ausdruck: "Das Bekenntnis zu Jesus Christus weist uns in seine Nachfolge. … sie allein kennzeichnet den Weg zur Erneuerung der Kirche. Unsere Identität als Christen und Kirche finden wir nicht in fremden Programmen und in Ideologien. Nachfolge genügt."

Der aktuelle Synodale Weg setzt sich sehr kritisch mit der eigenen Kirche auseinander; Kritik an Fehlentwicklungen in der Gesellschaft bleibt nahezu aus. Kreist die Kirche nur um sich selbst? Hatte nicht Papst Franziskus vor allzu viel kirchlicher Selbstbezogenheit gewarnt? Einen vergleichbaren Glaubensoptimismus, wie ihn die Würzburger Synode zum Ausdruck brachte, lässt der aktuellen Synodalen Weg vermissen.

In seinem Brief "An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland" vom Juni 2019 stellte Papst Franziskus fest: "Heute indes stelle ich gemeinsam mit euch schmerzlich die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was dies nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller Ebene einschließt. … Um dieser Situation zu begegnen, haben Eure Bischöfe einen synodalen Weg vorgeschlagen."

Nur: Kein einziges synodales Beratungsdokument erwähnt den vom Papst beschriebenen Glaubensverfall. Die angesprochene Erosion wird nur im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal erwähnt. Gibt es für die jahrzehntelange Glaubenserosion keine weiteren Ursachen?

Das Ausbleiben einer umfassenden Analyse und die Fixierung auf den Missbrauchsskandal als alleinige Problemquelle gibt zur Vermutung Anlass, das das Ergebnis des Synodalen Weges – zumindest in vielen Köpfen – bereits feststeht. 

Dann erscheint es logisch: Warum sich Gedanken machen über die zunehmende Säkularisierung unserer Gesellschaft, die in weiten Teilen Europas um sich greift und weniger ihre Ausgangsbasis in den Missbrauchsfällen hat – immerhin geht das religiöse Leben seit weit längerer Zeit stark zurück? Kritiker sprechen vom "Missbrauch mit dem Missbrauch".

Synodale Beiträge und eine Neuer Anfang

Kein Wunder, dass solche Einseitigkeit Reaktionen hervorruft. Das Bistum Regensburg hat zum Beispiel eine Seite "Synodaler Beiträge" eingerichtet, um Alternativtexte, Kommentare und vatikanische Stellungnahmen zu den Beschlussentwürfen des Synodalen Weges zu veröffentlichen und Presseberichte zur Verfügung zu stellen.

"Wir wissen uns im Einklang mit den römischen Stellungnahmen", schreibt Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg, in der Einführung, und teilt mit: "Wir gehen den Synodalen Weg mit, kommen aber mehr und mehr zu der Überzeugung, dass er in den bisher gefahrenen Gleisen nicht ans Ziel führen kann. … So gut es ging, wurden die hier vorgelegten Argumente in den Prozess des Synodalen Weges eingebracht. Aufgrund der dort herrschenden Mehrheitsverhältnisse wurden und werden sie aber bislang nicht berücksichtigt."

Die wichtigste Gegenbewegung dürfte vom "Arbeitskreis christlicher Anthropologie" und der damit verbundenen Initiative "Neuer Anfang" ausgehen, auf deren Homepage bereits knapp 6.000 Unterschriften gesammelt wurden. Ihre Zustimmung gilt einem Reform-Manifest, das neun Thesen aufstellt:

  1. Legitim sind Forderungen in der Kirche nur dann, wenn sie aus dem Evangelium begründet, in den Glauben aller eingebettet und von der universalen katholischen Kirche mitgetragen werden.
  2. Die Kirche bedarf einer Reform an Haupt und Gliedern, aber jede echte Reform in der Kirche beginnt mit Bekehrung und spiritueller Erneuerung. Die Kirche gewann noch nie Salz und Licht zurück durch Reduzierung der Ansprüche und strukturelle Anpassung an die Welt.  
  3. Wir sind Teil der "einen, heiligen, apostolischen und katholischen Kirche". "Dass alle eins sind", ist Jesu letzter Wunsch. Wir leiden schon heute genug unter den Spaltungen des Leibes Christi und wollen nicht noch einmal eine deutsche Sonderkirche.
  4. In der Kirche geht alle Macht vom Herrn aus. Macht in der Kirche ist immer nur geliehene Macht, und sie kann nur in demütigem Dienst an den Menschen bestehen. Ihre Ausübung muss legitim und transparent sein; falschen Machtgebrauch von Hirten aber mit der Herrschaft der Büros zu beantworten, ist kein Weg für die Kirche.
  5. Dem Beispiel Jesu folgend, muss das Charisma von Frauen in der Kirche noch tiefer erkannt werden. Es ist aber abwegig, die Zuweisung des priesterlichen Dienstamtes an Männer als Diskriminierung von Frauen zu deuten.
  6. Das Sakrament der Ehe ist der Bund einer Frau und eines Mannes mit Gott und das unvergleichliche Heilszeichen für die Treue Gottes zu seinem Volk; dieses Zeichen darf niemals in eine Reihe gestellt werden mit rein menschlichen Verbindungen welcher Art auch immer.
  7. Keinem Menschen darf der Segen Gottes vorenthalten werden. Die Kirche muss aber jeden Anschein vermeiden, als würde sie einen dem Ehesakrament vergleichbaren Segen zur "Ehe für alle" und zu gleichgeschlechtlichem Sex geben.
  8. Der Dienst der Kirche an der Welt ist Laien und Priestern gemeinsam und ohne Unterschied in den Zielen und der Würde anvertraut. Trotzdem sollten Laien tun, was nur Laien tun können und Priester den Dienst leisten, wozu sie durch die Kirche berufen und durch die Weihe befähigt wurden.
  9. Der sexuelle Missbrauch ist der Mühlstein um den Hals der Kirche. Amtsträger in der Kirche sind zu messen an der Transparenz, mit der sie Vergehen in der Vergangenheit aufarbeiten und Prävention für die Zukunft betreiben. Wir wenden uns aber gegen den Missbrauch mit dem Missbrauch.

Die Initiatoren haben angekündigt, dass sie die gesammelten Unterschriften an Papst Franziskus überreichen wollen. 

Bisher in der Serie von Martin Grünewald veröffentlicht:

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