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Um eine Philosophie des Guten: 31. Wo finden wir den unhintergehbaren Maßstab?

Jesus und der reiche junge Mann von Heinrich Hofmann (1889)

In den Psalmenauslegungen Robert Spaemanns finden wir einen interessanten Gedanken über das Verhältnis zwischen Gott und menschlicher Selbstbestimmung, den ich als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen nehmen möchte. Die Meditationen eines Christen. Über die Psalmen 1-51 (Stuttgart 2014) sind zwar kein philosophisches Werk; das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass in ihm keine philosophisch relevanten und nachvollziehbaren Erkenntnisse zu entdecken seien.

Die Antwort Jesu auf jenen reichen Mann, der ihn “guter Meister” nennt, dürfte den meisten von uns noch geläufig sein: “Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein” (Lk 18, 18 f). Diese Antwort erfreut sich unter jenen, denen es darum geht, den Anspruch Jesu herunterzuschrauben, großer Beliebtheit. Sie wird gerne als Ausdruck einer Bescheidenheit gedeutet, die göttliche Allüren von sich weist. Dass Spaemann sie gerade gegenläufig interpretiert, nämlich als Hinweis auf den notwendigen Zusammenhang zwischen Jesu vielfach tatsächlich beanspruchter Autorität (etwa auf unbedingte Nachfolge) und seiner Göttlichkeit, die allein solche Autorität rechtfertigen kann, sei hier nur am Rande vermerkt. Vielmehr geht es mir um die gerne übersehene Exklusivität, mit der in Jesu Antwort “gut” allein von Gott prädiziert wird. Man könnte demnach das schon zitierte Wort Kants “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille” abwandeln in die Aussage: “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein Gott.” Wenn beide Recht haben, dann deshalb, weil auch Gott Wille ist. Dann aber hätten wir eine nicht zu unterschätzende Präzisierung gegenüber Kant: Allein der göttliche Wille ist ursprünglich gut; jeder menschliche Wille ist nur gut kraft einer noch näher zu bestimmenden Partizipation an jener Gutheit.

Kant sieht dies anders: Göttlicher und menschlicher Wille sind nach ihm in ihrer Gutheit nur graduell unterschieden, nämlich insofern der göttliche Wille dem Sittengesetz vollkommen, der menschliche nur unvollkommen entspricht. Dagegen steht nun das Konzept, das Spaemann im Anschluss an Jesu Wort expliziert: “Nur wer Jesus als Mensch gewordenen Gott erkennt und bekennt, kann Ihn zum letzten, unhintergehbaren Maßstab des Guten machen, zum Maßstab, der nicht vor unseren Begriffen bestehen muss, sondern vor dem unsere Begriffe bestehen müssen. Die Unterwerfung unter einen bloßen Menschen als letzten Maßstab wäre immer ein unerlaubter Verzicht auf die Selbstbestimmung, die unsere von Gott gegebene Pflicht ist. Nur Gott gegenüber gibt es keine Selbstbestimmung, weil Gott der ist, durch den wir erst ein Selbst sind” (Meditationen eines Christen, Stuttgart 2014, S. 109). Es geht im Folgenden nicht um die theologische Frage nach der Identität Jesu, sondern allein um die philosophische Frage nach dem letzten Maßstab des Guten.

Nach Kant ist der einzige unhintergehbare Maßstab das Sittengesetz. Jeder reale Wille, sei es der göttliche, sei es der menschliche, muss an ihm gemessen werden. Kant zufolge gilt für schlechterdings jeden Willen, dass er seine Gutheit durch die Übereinstimmung mit dem Sittengesetz gewinnt. Das Sollen geht also dem Wert, dem Gutsein voraus. Sittlicher Wert existiert nur als verwirklichter Wert, als Verwirklichung des kategorischen Imperativs. Wenn Kant Recht hätte, dann hätten wir hier den einzigen Fall vor uns, der Moores These von der Undefinierbarkeit des Wortes “gut” widerlegt (siehe Folge 12), und zwar deshalb, weil dieser Fall es erlaubt, den Begriff des “Guten” auf den des “Gesetzes” oder “Sollens” zurückzuführen. Die ursprüngliche Wirklichkeit wäre das Sollen, das Gutsein hingegen nur eine von ihm abgeleitete Wirklichkeit. Aber diese ursprüngliche Wirklichkeit wäre in Wahrheit keine Wirklichkeit, sondern eine Potenzialität. Das Sollen ist eine Potenzialität, die ihrer Verwirklichung harrt. Das scholastische Axiom “Der Akt geht (aufs Ganze gesehen: simpliciter) der Potenz voraus” (cf. z. B. bei Thomas: S. Th. I q 3 a 1) wäre demnach auf den Kopf gestellt. Natürlich ist das noch keine Widerlegung der Kantischen Konzeption, denn die Wahrheit dieses Axioms dürfen wir nicht einfach voraussetzen. Aber wir haben hier einen Fall, der, wie ich hoffe zeigen zu können, das Axiom einleuchtend macht und es aus der Pattsituation herausführt, die durch die populäre Fragestellung: “Was war zuerst da: die Henne oder das Ei?” nahegelegt wird.

Selbstbestimmung ist unsere von Gott gegebene Pflicht, schreibt Spaemann. Damit ist jener Versuchung ein Riegel vorgeschoben, der wir angesichts des vielfachen Missbrauchs einer Berufung auf Selbstbestimmung und Autonomie erliegen könnten, der Versuchung, “Selbstbestimmung” ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Konkurrenzstellung zu Moralität und Unterwerfung unter das Sittengesetz zu betrachten und sie als notwendiges Übel, als ein geradezu gefährliches Recht anzusehen. Nein, “Selbstbestimmung” ist nicht ein mit Misstrauen zu beargwöhnendes Recht, sondern ein edles, gottgegebenes Vorrecht, das die ganze Würde des Vernunftwesens ausmacht. In diesem Punkt ist den Verfechtern der Autonomie ohne Umschweife zuzustimmen. Ja, sie ist nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht. Wir dürfen nicht auf sie verzichten und uns z.B. einem Menschen so hingeben und gefügig machen, dass wir unser Gewissen an ihn abtreten, uns unserer Verantwortlichkeit für unser Handeln entäußern und uns als sittliches Subjekt durchstreichen. Unbedingter Gehorsam ist unmoralisch. Es gibt nur eine Ausnahme: den Gehorsam gegenüber Gott. In dem Motto “Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen” wird die Identifizierung von Moralität mit jenem Gehorsam vorausgesetzt, so dass die Berufung auf Gott und die Berufung auf das eigene Gewissen auf dasselbe hinauslaufen. Wer sich mit Berufung auf Gott einem unmoralischen menschlichen Befehl verweigert, will sich als moralisch autonomes Handlungssubjekt gerade bewahren und behaupten.

Natürlich stellt sich uns nun in Bezug auf Gott und seinen Willen sofort das Erkenntnisproblem. Der strittige Punkt, um den es jetzt geht, liegt aber noch eine Stufe tiefer: Selbst wenn das Erkenntnisproblem gelöst wäre, ich also den göttlichen Willen kennte, stellt sich immer noch die Frage: Darf ich Gott bedingungslos gehorchen und insofern meine Selbstbestimmung ihm gegenüber aufgeben? Die extremen Verfechter des Autonomiegedankens sagen “nein”, und wenn sie sich dabei auf Kant berufen, haben sie ausnahmsweise nicht einmal Unrecht. Doch diese Position ist nur haltbar, solange man auf einem Reflexionsniveau verbleibt, in dem der Gottesbegriff nicht konsequent genug zu Ende gedacht wird.

Die Frage, um die es hier geht, lautet: Wie muss der letzte, unhintergehbare Maßstab des Guten gedacht werden, damit er mich als reales Vernunftwesen wirklich binden kann? Spaemanns Antwort, die er sowohl in seinem ethischen Hauptwerk Glück und Wohlwollen wie auch in seinem Personen-Buch in vielen Varianten durchspielt, lautet: Er kann nur gedacht werden als eine Wirklichkeit. Der moralische Imperativ, der vom Anderen ausgeht und sich z.B. im Kantischen Instrumentalisierungsverbot konkretisiert, erreicht mich genau dann, wenn der Andere mir wirklich wird. Solange ich diesen nur als ein Phänomen betrachte, dessen Bedeutung sich in seiner Bedeutung für mich erschöpft, ist er mir als Person, als Selbstsein im vollen Sinne, nicht wirklich geworden. Die Unbedingtheit des sittlichen Anspruchs kann als wirklich nur gedacht werden, wenn der Andere wirklich ist, und als unbedingt nur, wenn der Andere selber das Unbedingte oder dessen Repräsentation ist.

Kant dagegen denkt den kategorischen Imperativ als ein Faktum der Vernunft aus der Ich-Perspektive. Ich entdecke das Sittengesetz in mir selber. Der Andere, gegenüber dem ich Pflichten habe, ist nicht der Grund der Pflicht, sondern nur ihr Anwendungsfall. Der Grund liegt vielmehr in meiner Vernunft, in der allein mir das Sittengesetz eröffnet ist. Meine Vernunft als die des moralischen Akteurs ist mir selbstverständlich wirklich. Aber das Sittengesetz, so es denn für alle möglichen Vernunftwesen verbindlich sein soll, verdankt sich natürlich nicht meiner individuellen Vernunft als der meinigen, sondern der Natur der Vernunft, von der meine Vernunft nur ein Fall ist. Wenn nun das Sittengesetz ein Faktum der Vernunft ist, aber von allen Fällen, in denen Vernunft wirklich ist, also von allen ihren Instanziierungen unabhängig ist, dann bleibt als Ausweg nur noch der Gedanke, dass seine Verbindlichkeit im Begriff der Vernunft wurzelt. Der Gedanke aber, dass der bloße Begriff der Vernunft die Wirklichkeit des sittlichen Anspruchs zu verbürgen vermag, ist völlig unplausibel, es sei denn, dass die Erfahrung des moralischen Sollens uns einen Vernunftbegriff eröffnet, der nicht als bloßer Begriff gedacht werden kann, sondern so notwendig das Denken eines Selbstseins impliziert, wie das erfahrene Sollen die Wirklichkeit seiner Verbindlichkeit. Mit anderen Worten: Es muss eine absolute Vernunft jenseits aller kontingenten Vernunftwesen geben, so denn alle moralische Verbindlichkeit keine Chimäre sein soll.

Dem Kenner der Philosophie wird nicht entgehen, dass wir es hier mit einer Denkfigur zu tun haben, die exakt derjenigen entspricht, die Anselm von Canterbury im sog. ontologischen “Gottesbeweis” seines Proslogions entwickelt hat. In meiner Arbeit über ihn (Die ethische Struktur des Denkens von Anselm von Canterbury, Heidelberg 1998) habe ich zu zeigen versucht, dass diese Entsprechung nicht zufällig ist: Anselms Gedankengang will tatsächlich im Zusammenhang mit ethischer Werterfahrung verstanden sein und gewinnt in diesem seine ganze Durchschlagskraft.

Für unsere Frage nach dem unhintergehbaren Maßstab des Guten bedeutet dies: Letztlich stehe ich vor der Wahl, diesen Maßstab entweder in einer unbedingten Wirklichkeit zu verorten oder seine unbedingte Verbindlichkeit für alles vernunftbegabte Selbstsein aufzugeben.

Die Anerkennung Gottes als dieses Maßstabs bedeutet nun keinen Rückfall in Heteronomie. Denn Gott ist derjenige, durch den ich erst ein Selbst bin, wie Spaemann so schön schreibt. Gott ist die absolute Vernunft. Wenn nun, wie Kant meint, unser eigentliches Selbst die Vernunft ist, dann finden wir nur in dem Maße zu uns selbst, wie wir zu Gott finden. Gott ist uns innerlicher als wir selbst. Gott ist dadurch Schöpfer, dass er etwas von sich selbst, nämlich Vernunft, auf geschöpfliche Weise verwirklicht. Gleichzeitig ist er derjenige, dem ich als Vernunftwesen nicht nur mein Selbst, sondern auch die Empfänglichkeit für das Sittengesetz verdanke, also sowohl meine Vernunft wie auch das Faktum der Vernunft. Sein und Sollen haben denselben Ursprung. Es ist interessant zu sehen, wie bei Magnus Striet die Gegenprobe aufs Exempel beobachtet werden kann: Er leugnet Gott in beiderlei Hinsicht, sowohl als Grund der Moralität wie auch als Schöpfer unserer Freiheit. In beiden Hinsichten ist Gott kleiner als das, was gedacht werden kann. Einerseits ist er deshalb kleiner als wir, weil unsere Freiheit eine moralische Instanz ist, die ihm als moralisches Wesen vorgegeben ist, andererseits auch deshalb, weil unsere Existenz als Freiheitswesen etwas ist, von dem er sich hat müssen überraschen lassen. Autonomie des Menschen bedeutet bei Striet, allein dem Menschen die Deutungshoheit über das zuzuschreiben, was als “gut” und “böse” zu gelten hat, und Gott dieser Deutungshoheit zu unterwerfen. Gott muss vor unseren Begriffen bestehen können. Seine Aufgabe uns gegenüber reduziert sich darauf, unsere Freiheit zu achten und zu sichern. Seine Rolle wird auf die eines Nachtwächterstaates reduziert, der die Rahmenbedingungen unserer moralischen Existenz zu sichern hat, ansonsten aber keine Relevanz besitzt: weder für unsere moralische Erkenntnis noch für unser moralisches Handeln. Gott wird zu einem Fremden, sein Wille zu einer Zumutung, seine Autorität zu einer Bedrohung unserer Autonomie. Auf dem Hintergrund solcher Anschauungen erhält die Definition der “Sünde”, die Trutz Rendtoff vor über 40 Jahren vorgelegt hat, eine erschreckende Aktualität: Sünde sei “die im Selbstseinwollen der Freiheit des Menschen begründete Unmöglichkeit, Gott anzuerkennen” (Rendtorff, Emanzipation und christliche Freiheit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. 18, Freiburg i.Br. 1982, S. 149-179, hier 167).  

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle drei Wochen am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.  

(Die Geschichte geht unten weiter)

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