Lässt die Kirche jene Menschen allein, die meinen, im „falschen Köper“ gefangen zu sein?

Nach scharfer Kritik von Papst Franziskus an „Gender-Ideologie“: Was tut die Kirche, um Betroffene zu helfen?

Regenbogen-Flagge
Nata Sha / Shutterstock

Anfang März hatte Papst Franziskus die Medienwelt mal wieder in Schnappatmung versetzt. Bei einer Konferenz in Rom zum Thema „Mann-Frau-Gottesbild “ warnte der Pontifex vor der „schlimmsten Gefahr“ und nannte sie zugleich beim Namen: die „Gender-Ideologie“.

Es war nicht das erste Mal, dass sich der Heilige Vater in die Genderdebatte einmischte und dabei deutliche Worte wählte.

Bereits 2015 stellte er während einer Generalaudienz auf dem Petersplatz die Frage, ob die Gender-Theorie nicht nur ein „Ausdruck von Frustration und Resignation“ sei und darauf abziele, „den Unterschied zwischen den Geschlechtern auszulöschen, weil sie sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen versteht“. 

2016 drückte Franziskus seine Sorge über französische Schulbücher aus, in der die Gender-Theorie gelehrt werde. „So etwas nenne ich ideologische Kolonialisierungen“, schimpfte der Papst auf dem Rückflug von seiner Reise nach Baku.

Ein Jahr später verurteilte Franziskus die Gender-Ideologie erneut scharf und warnte, sie mit Gleichberechtigung zu verwechseln.

Und nun vor etwa vier Monaten die päpstlichen Warnungen vor der „hässlichen Ideologie unserer Zeit“. Es stellt sich also die Frage: Wie lautet die offizielle Position der Kirche zur Gender-Theorie? 

Theorie – oder Ideologie?

Auffällig ist zunächst, dass Papst Franziskus meist den Terminus „Gender-Ideologie“ verwendet anstelle von „Gender-Theorie“. Diese Feststellung machte auch Markus Graulich SDB, der als Untersekretär des Dikasteriums für die Gesetzestexte an der römischen Kurie arbeitet. Auch in Dignitas Infinita, dem jüngsten Dokument des Glaubensdikasteriums, sei am Anfang zum Beispiel noch von „Theorie“ die Rede, „aber dann ändert es sich und das Ganze wird als ‚Gender-Ideologie’ bezeichnet“, so Graulich im Interview mit EWTN News

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Für den Kurienmitarbeiter liegen die Gründe dafür auf der Hand. „Wenn ich eine Theorie vorstelle, bin ich offen für eine Diskussion. Aber diejenigen, die ‚Gender’ als Konzept zum Verständnis der Menschheit vorschlagen, sind nicht diskussionsfähig. Das ist ein Kennzeichen für eine Ideologie.“

Ein zentraler Punkt der Gender-Theorie ist die Behauptung, dass das Geschlecht eines Menschen ein soziales Konstrukt sei. Nach katholischer Lehre gibt es allerdings nur zwei Geschlechter, männlich und weiblich, betont Graulich und ergänzt: „Papst Franziskus unterstreicht immer wieder, dass die beiden Geschlechter in einer Gegenseitigkeit geschaffen sind. Sie haben ihre eigenen Gaben, ihre eigenen Talente, die sich gegenseitig ergänzen, um das Ebenbild Gottes zu formen. Denn das Ebenbild Gottes ist nicht nur männlich oder weiblich, sondern es ist beides.“

In Dignitas Infinita sei wiederum „sehr schön ausgedrückt“, dass „dieses Herumspielen an der eigenen Geschlechtlichkeit der Würde des Menschen widerstrebt, weil es ein Herumspielen am Geschenk unseres Schöpfers wäre“.

Papst Franziskus geht sogar soweit, die Gender-Theorie einen „Rückschritt“ zu nennen. „Die Beseitigung des Unterschieds ist das Problem, nicht die Lösung“, so der Papst in seiner Ansprache an die Gläubigen während der Generalaudienz am 15. April 2015. „Um ihre Beziehungsprobleme zu lösen, müssen Mann und Frau vielmehr miteinander sprechen, einander besser zuhören, einander besser kennenlernen, einander mehr lieben.“ Franziskus wörtlich: „Ich frage mich, ob die sogenannte Gender-Theorie nicht auch Ausdruck von Frustration und Resignation ist, die darauf abzielt, den Unterschied zwischen den Geschlechtern auszulöschen, weil sie sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen versteht.“

Verbot von sogenannten „Geschlechtsumwandlungen“

Mit der Veröffentlichung von Dignitas Infinita am 8. April 2024 verurteilt die Kirche zwar ganz deutlich jegliche Form von Diskriminierung von sogenannten „Transgender-Personen“, verurteilt aber gleichzeitig auch chirurgische „Geschlechtsumwandlungen“. „Zugleich sind wir berufen, unser Menschsein zu behüten, und das bedeutet vor allem, es so zu akzeptieren und zu respektieren, wie es erschaffen worden ist“, heißt es im Vatikan-Schreiben. „Daraus folgt, dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an besitzt“.

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„Das bedeutet, dass die Kirche gegen solche Operationen ist, wenn es darum geht, jenes Geschlecht zu ‚ändern‘, das ich phänotypisch oder aufgrund meiner Chromosomen habe“, so Kurienmitarbeiter Markus Graulich auf Nachfrage. Er weist aber auch darauf hin, dass Dignitas Infinita jene Operationen erlaube, durch die eventuelle Anomalien an den Genitalien korrigiert werden. „Das ist aber keine ‚Geschlechtsumwandlung‘“, betont Graulich, „die Würde des Menschen besteht ja darin, dass man sich nicht selbst erschaffen kann; man kann sich nicht selbst zum Leben erwecken. Und so kann man auch sein Geschlecht nicht selbst bestimmen oder ändern. Es wird einem zugewiesen und es ist Teil meiner Würde, dass ich damit lebe.“

Experten warnen schon länger vor allem vor irreversiblen operativen Eingriffen. Franz-Josef Bormann, Professor an der Universität Tübingen für Moraltheologie, zudem Mitglied des Deutschen Ethikrats (DER) und bis 2022 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO), sagte im Interview mit EWTN News dazu:

„Die Empirie zeigt, dass viele von diesen vermeintlich transgeschlechtlichen Personen nicht in dieser Problematik verharren, sondern die meisten versöhnen sich danach mit ihrem Geburtsgeschlecht. Wenn jedoch frühzeitig eine Hormonbehandlung stattfindet, dann führt das fast immer dazu, dass am Ende auch chirurgische Anpassungsoperationen vorgenommen werden, ohne dass dadurch sichergestellt wäre, dass die Probleme hinterher dadurch alle gelöst wären.“

Katholische Hilfe für Betroffene

Um die Menschen in ihren seelischen Nöten nicht alleine zu lassen, versucht die katholische Initiative „Courage International“ daher einen ganzheitlichen Ansatz. Der katholische Priester Colin Blatchford ist Stellvertretender Direktor von „Courage International“ und sagt im Interview mit EWTN News: „Heiligkeit definieren wir als Erfolg unserer Arbeit.“

„Courage International“ bietet nicht nur Homosexuellen Hilfe an, sondern auch jenen, die sich bezüglich ihres Geschlechtes unsicher sind. Gegründet wurde die Initiative im Jahr 1980 von Kardinal Terrence Cook mit dem Ziel, Menschen mit homosexuellen Neigungen dazu einzuladen, „die Liebe Christi für sie in der Kirche zu erfahren und ihnen ganz praktisch beizustehen, die Fülle des Evangeliums zu leben“, wie die Vereinigung 2016 gegenüber CNA Deutsch erklärte. Besonderen Wert legen die Mitarbeiter auf die Zusammenarbeit mit den Familien der Betroffenen. Auch aus Deutschland gäbe es immer wieder Anfragen von Hilfesuchenden, bestätigt Blatchford.

„Unser Ziel ist es, den Leuten dabei zu helfen in der persönlichen Begegnung schließlich auch Gott zu begegnen“, erläutert der US-Priester gegenüber EWTN News das Konzept von „Courage International“. „Wir müssen ihnen zunächst dabei helfen die Liebe Gottes zu erfahren, bevor wir mit der moralischen Schiene kommen. Wir machen es so, wie es Papst Franziskus mehrfach gesagt hat: Bringt die Leute erst zu Christus und dann könnt ihr mit ihnen auch über die moralischen Konsequenzen sprechen.“

Fingerspitzengefühl und das richtige Timing sind entscheidend, weiß Blatchford. „Mein Rat ist immer: bedingungslose Liebe“, so der Priester. „Wir können anderen Menschen sagen, dass wir sie lieben – auch wenn wir mit ihnen nicht einer Meinung sind. Wir müssen aber nicht jedes Mal, wenn wir jemanden treffen, sagen, dass wir anderer Meinung sind.“ Wahrheit und Nächstenliebe dürften dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden, betont der Seelsorger: „Ich darf ihnen weder die Barmherzigkeit, noch die Wahrheit vorenthalten.“ 

Keine Sonderpastoral für Homo- und Transsexuelle

Der deutsche Moraltheologe Franz-Josef Bormann schlägt in die gleiche Kerbe und betont: „Der Glaube hat keine Vorbedingungen, sondern den gibt es gratis als Gnadengeschenk für jeden − unabhängig von seiner sexuellen Orientierung.“ Gleichzeitig sei der Glaube „kein Freibrief, um unmoralisch zu handeln“. „Grundsätzlich ist jeder willkommen, weil wir als Glaubende hoffen dürfen, dass Gott uns selber annimmt“, erklärt der Tübinger Moraltheologe im EWTN-Interview. „Und diese Botschaft gilt unterschiedslos für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung. Wenn die Kirche das glaubwürdig vermittelt und wenn das auch in der Gemeinde erfahrbar wird, weil es vorgelebt wird, dann relativieren sich viele der sehr aufgeregten Debatten ganz von selbst.“

Bormann warnt davor, eine „homosexuelle oder transgeschlechtliche Sonderpastoral“ zu entwickeln. Stattdessen sollte die Kirche „die Botschaft aussenden, dass das, worum es im Glauben geht, die viel wesentlichere und konstitutivere Bestimmung ihrer Identität ist als die jeweiligen Probleme, mit denen sie möglicherweise gegenwärtig gerade selber hadern“.

Am meisten helfe man den Betroffenen mit einer „authentischen, liebevollen Begleitung“, ergänzt Colin Blatchford von „Courage International“. Diese Begleitung lasse sich in drei Sätzen zusammenfassen, die ein jeder Christ im Umgang mit Betroffenen nutzen könne: „Ich liebe dich“; „Ich glaube, Gott hat einen Plan für dich“ und „Ich möchte deine Geschichte hören“.

Blatchford weiter: „Wenn wir das konsequent durchziehen, dann werden sie letztlich auch die Wahrheit finden. Sie werden zu Christus geführt werden, weil sie ihn − wenn sie mit uns über diese Dinge sprechen – ohnehin schon suchen.“