Wenn Kinder "modern sterben" dürfen sollen: Sterbehilfe und Euthanasie auf Vormarsch

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Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt werden können: Wenige Tage, bevor die Niederlande ankündigten, nun auch "Sterbehilfe" für Kinder einführen zu wollen, fand am 10. Oktober eine Tagung des Salzburger Ärzteforums für das Leben statt. 

Interessierte Kreise und eine Provokation

Dabei ist die Euthanasie nicht nur in den Niederlanden und Belgien virulentes Thema. In Österreich will sich das höchste österreichische Gericht in naher Zukunft mit dem Thema beschäftigen. Nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht im Februar das Verbot des gewerbsmäßigen Suizids als nicht verfassungsgemäß beurteilt und die Menschenwürde als "Autonomie", vor allem um aus dem Leben zu scheiden, ausdefiniert hatte, sahen finanziell interessierte Kreise in der Schweiz – ohne Rücksicht auf die angespannte Corona-Situation in der Medizin – den Zeitpunkt für gekommen, nun auch das höchste österreichische Gericht in dieser Frage anzugehen.

"Modernes Sterben - Aufgaben und Grenzen der Medizin am Lebensende" war das Motto der Veranstaltung, bei der Landeshauptmann Wilfried Haslauer denn auch erklärte, schon der Begriff "modern" in Verbindung mit "Sterben" sei eine Provokation. Wenn "modern" das Unterlassen von Pflege, Beistand, Nahrung und medizinisch notwendiger Behandlung bedeute, könne das kein Zukunftsweg sein.

Aus katholischer Sicht ist ohnehin die ambulante Palliativ-Pflege die klare, würdigere, bessere Lösung. Warum also "aktive Sterbehilfe"? 

Dammbruch ist eingetreten

Der niederländische Gesundheitsethiker Prof. Theo A. Boer aus Groningen, Mitglied des Niederländischen Gesundheitsrates und jahrelanges Mitglied einer von fünf regionalen "Kontrollkommissionen für Sterbehilfe" analysierte die Situation in seinem Heimatland so, dass der befürchtete "Dammbruch" tatsächlich eingetreten sei.

Die Inanspruchnahme von Euthanasie und Sterbehilfeoptionen sei in den Niederlanden seit 2002 deutlich angestiegen. Boer war bei der Einführung der Sterbehilfe noch Fürsprecher für die Gesetzesänderung. Die Fakten ließen ihn im Laufe der Jahre kritisch werden, wie er sagte. Von den etwa 70.000 Euthanasie-Fällen in den vergangenen 17 Jahren, die in den Niederlanden einer Evaluation durch die Kontrollkommissionen unterlagen, seien lediglich elf abgelehnt worden, was bedeutet, dass sie der Staatsanwaltschaft überstellt wurden – das müsse nachdenklich stimmen.

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50 Jahre Sterbehilfe – gibt es noch ein Zurück?

Historisch lagen die jährlichen Fallzahlen in den Jahren 2000 bis 2007 bei etwa 2.000 (1,6% der Sterbefälle). Dann kam es zu einem kontinuierlichen Anstieg auf etwa 7.000 Todesfälle bis zum Jahr 2019 (4,2% der Sterbefälle, ein Anstieg um 162%). Aber auch außerhalb des etablierten Systems, das von den Kontrollkommissionen evaluiert wird, kommt es zum Suizid. Eine Kultur des Todes habe sich ausgebreitet. Diese Dunkelziffer wird auf weit mehr als 1.000 Fälle pro Jahr geschätzt. In einer Auswertung der regionalen Verteilung der offiziell registrierten Ereignisse zeigte sich, dass der Anteil von assistierten Suiziden in der Region Amsterdam und manchen nahegelegenen Bezirken (mehr als 10 Prozent der Todesfälle) höher ist als im niederländischen "Bible Belt" mit hohem protestantischem Bevölkerungsanteil (weniger als 2,5 Prozent der Todesfälle). "In Amsterdam wird gefeiert, in Rotterdam wird gearbeitet", kommentierte Boer. Eine Veröffentlichung dieser Zahlen ist in naher Zukunft im "British Medical Journal" geplant.

Welche Erkrankungen hatten die Menschen mit assistiertem Suizid?

Auch die Pathologie der Patienten, die sich haben töten lassen, hat sich geändert. Waren es im Jahr 2002 mit einem Anteil von 90 Prozent Krebspatienten (1.883 Fälle), die mit einem assistierten Suizid aus dem Leben schieden, waren es im Jahr 2019 (6.331 Fälle) nur noch zu etwa 70 Prozent Krebspatienten. Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall oder Parkinson, Demenz und Alterserscheinungen oder eine Kombination aus allem tauchen nun in der Statistik von Erkrankungen der Suizidierten auf und – was sehr bedenklich sei – auch psychiatrische Patienten.

Wenig Verständnis zeigte Boer über das kürzlich erfolgte Statement seines Kollegen Steven Pleiter vom "Expertenzentrum für Euthanasie", der bei seinem Abschied im September 2020 der freudigen Erwartung Ausdruck gab: "Bei den nationalen Zahlen erwarte ich in den kommenden Jahren eine weitere Verdopplung". Es sei nicht zu verstehen, so Boer, wie man bei solch desaströsen Euthanasie-Statistiken etwas Gutes an einem weiteren Anstieg der Zahlen finden könne. 

Argumente für die Einführung der Sterbehilfe haben sich als falsch herausgestellt

Die immer wieder für den assistierten Suizid vorgebrachten Argumente haben sich nach seiner Einschätzung als realitätsfern erwiesen. Dazu gehört: 1. Die Euthanasie hilft den Menschen als reine Möglichkeit des Notausstiegs dann letztlich doch weiterzuleben. 2. Ein gewaltsamer Suizid ist für alle Beteiligten stark traumatisierend, weshalb der assistierte Suizid die schonende Methode sei. Gezeigt habe sich etwas ganz anderes: Es gibt in der Gesellschaft einen starken Werther-Effekt der Nachahmung, was gegen das erste Argument spricht. Dies habe Jan Latten von der Zentralbehörde für Statistik im Jahr 2017 bestätigt. Öffentliche Diskussionen über das selbstgewollte Sterben führen in der Regel dazu, dass einige Zuhörer im Anschluss daran Ernst machen. Und bei den gewaltsamen Suiziden sei in den vergangenen Jahren kein Rückgang zu verzeichnen, was der Argument 2 als falsch entlarvt.

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Was ist mit den Ärzten in den Niederlanden?

Nach Auffassung von Boer stieg die Zahl der Ärzte, die grundsätzlich keine Sterbehilfe mehr leisten wollen, von 11 Prozent in 2002 auf 19 Prozent im Jahr 2015 (Gesetzliche Evaluierung 2017). 70 Prozent der Ärzte spüren Druck, an dem System der aktiven Sterbehilfe mitwirken zu müssen, obwohl sie es eigentlich nicht wollen. 88 Prozent der Ärzte geben an, dass die Mitwirkung an "Euthanasie", wie sie in den Niederlanden praktiziert wird, einen starken emotionalen Stress verursacht, der von der Öffentlichkeit völlig unterschätzt wird.

Warum die Menschen ihren Tod hergeführt sehen wollen

Bedeutungsverlust der eigenen Persönlichkeit und Kontrollverlust über das eigene Leben wurden in einer Untersuchung als Hauptgrund für aktive Sterbehilfe genannt. Der bisherige Höhepunkt der unheilvollen Entwicklung in den Niederlanden sei die kürzliche Ankündigung der Regierungspartei gewesen, den assistieren Suizid auch für ein "vollendetes Leben" zu ermöglichen. Darunter versteht man die Einführung der Sterbehilfe für ältere Menschen ab dem 75. Lebensjahr mit nicht-medizinisch bedingtem Leiden. Auch für Ehepaare ist dies nun möglich. Mittlerweile werde sogar die Sterbehilfe für Kinder auch unter 12 Jahren diskutiert. Problematisch nannte Boer diese Entwicklung, "da es in der Sterbehilfe immer mehr die Tendenz gibt, nicht-medizinische Probleme mit medizinischen Mitteln zu lösen". Liebeskummer sei zum Beispiel kein medizinisches Problem. Eine zentrale These seines Vortrages: "Bei Sterbehilfe geht es derzeit nicht mehr - wie zu Beginn der Diskussion in den 1980er-Jahren - um Schmerzlinderung."  Es sei eine Entsolidarisierung im Gange, bei der einfach zugeschaut werde.

Auch eine Statistik des Sterbehilfevereins "Dignitas" in der Schweiz wurde von ihm präsentiert. Hier kam der größte Teil der Suizidierten aus der Schweiz, aus Deutschland und den USA, aber kaum jemand aus dem nahegelegenen Österreich. 

"Ich will sterben!" heißt nicht: "Töte mich!"

Die Geschäftsführerin des Ethikinstitutes IMABE, Susanne Kummer, plädierte dafür, wieder mehr Argumente der Solidarität mit alten und kranken Menschen in die Debatte einfließen zu lassen. Es gehe darum, die Würde des ganzen Lebens und des Menschen anstatt nur einer Momentaufnahme im Blick zu haben. Eine Sprache der Solidarität zu finden, hilft laut Kummer auch gegen die Sprachlosigkeit in Pflege und Medizin. "Ich will sterben!" heiße nicht: "Töte mich!", betonte die Ethikerin. 

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