Im letzten Jahrhundert ist in Südamerika Folgendes passiert: Ein junger Mann ging in der Wildnis an Bahngeleisen entlang und entdeckte dabei, dass eine Brücke eingestürzt war. Um den nächsten herannahenden Zug vor einem furchtbaren Unglück zu bewahren, fällte er in verzweifelter Eile einen Baum, der auf die Geleise fiel. Und tatsächlich geschah dies keine Minute zu früh: Ein Personenzug kam dadurch zum Stehen und wurde vor dem Absturz bewahrt. Der junge Mann hatte unzählige Menschenleben gerettet. Die empörten Passagiere dagegen interpretierten die Situation ganz anders, hielten den gefällten Baum für einen Anschlag und prügelten den jungen Mann krankenhausreif. Erst danach entdeckten sie die eingestürzte Brücke. Erst jetzt konnten sie erkennen, dass die Tat, die sie für ein Verbrechen hielten, in Wirklichkeit eine Tat der Nächstenliebe war.

Einer Tat als solchen können wir ihre moralische Qualität nicht ansehen. Das bedeutet nicht, dass wir niemals ein gerechtes Urteil über eine menschliche Handlung fällen könnten. Gemeint ist vielmehr, dass es sich bei der moralischen Qualität nicht um eine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft handelt. Die Handlung nehmen wir wahr, insofern sie ein empirisches Geschehen ist, eine Erscheinung im Kantischen Sinne. Die moralische Qualität der Handlung gehört nicht zu ihrer Erscheinung. Das wird uns sofort klar, wenn wir bedenken, dass zur moralischen Qualität auch die Absicht des Handelnden gehört, also der gute Wille. Die Absicht ist uns aber stets verborgen. Es ist z. B. der Fall denkbar, dass jemand aus schlechter Absicht jemandem das Leben rettet, z. B. weil er ihn noch als Komplizen für ein Verbrechen braucht oder als Sklaven oder als Folteropfer. Angewandt auf unser Beispiel könnte man sagen: Es ist der Fall denkbar, dass der junge Mann tatsächlich das Richtige getan hat, nämlich ein Unglück zu verhüten, aber selbst das aus falscher Absicht. Und dann wäre die Empörung der Passagiere doch nicht so ganz unberechtigt gewesen, aber aus Gründen, die sie unmöglich wissen können.

Die klassische Moralphilosophie unterscheidet zwischen dem finis operis und dem finis operantis. Der finis operis, das Handlungsobjekt, entscheidet über die Richtigkeit (oder, wenn man so will, über die objektive Gutheit) der Handlung. Der finis operantis ist die subjektive Absicht, die der Handelnde mit seiner Handlung verfolgt. Zielt diese Absicht auf einen schlechten Zweck, wird die objektiv gute Handlung in ihrem moralischen Wert verdorben, sie wird zu einer Sünde. Man muss also zwischen der objektiven Richtigkeit der Handlung und ihrer moralischen Qualität unterscheiden. Über ihre Richtigkeit können wir uns dann ein Urteil bilden, wenn wir alle relevanten Umstände kennen: Sobald die Passagiere aus unserem Eingangsbeispiel die Vorgeschichte kannten, konnten sie erkennen, dass der junge Mann das Richtige getan hatte. Er hatte ihr Leben gerettet. Tatsächlich verwandelte sich dann ihre Empörung in Dankbarkeit und Reue. Einige besuchten ihn später im Krankenhaus und baten um Verzeihung.

Im Normalfall unterstellen wir, dass eine moralische Handlung mit der dazu passenden moralischen Gesinnung vollzogen wird. Warum sollte der junge Mann eine schlechte Absicht gehabt haben? Dass er sie hatte, kann man nicht ausschließen, aber jeder Versuch, diese Tat mit einer schlechten Absicht zusammenzudenken, wirkt konstruiert. Normalerweise schließen wir aus einer guten Handlung auf die gute Absicht. Das Kind, das die Liebe seiner Mutter erfährt, hat keinen Grund, an dieser Liebe zu zweifeln. Es erfährt diese Liebe durch Handlungen der Liebe. Handlungen sind Ausdruck unserer Gesinnung. Aber eine jede gute Handlung, isoliert für sich genommen, ist möglicherweise bloß die Vortäuschung einer guten Absicht. In Wirklichkeit ist dann die scheinbar gute Handlung ein Täuschungsmanöver. Liebe und Wohlwollen können simuliert werden, denken wir etwa an das biblische Beispiel des Almosengebens um des eitlen Ruhmes willen.

Daraus ergibt sich für die Erkenntnisfrage: Die moralische Qualität einer Handlung ist nicht etwas, das wir der Handlung als solcher, als Erscheinung, ansehen können. Insofern ist sie keine empirische Eigenschaft. Was wir aber sicher wissen, das ist: Wenn der junge Mann die richtige Absicht hatte, dann war seine Tat eine moralisch gute und verdienstliche. Das heißt: Was wir sicher wissen, ist der Zusammenhang zwischen gutem Willen und richtiger Tat. Wir können nicht wissen, ob jemand einen guten Willen hat. Das können wir ihm bloß glauben. Aber wir wissen, was ein guter Wille ist. Dieses Wissen ist unabhängig von der empirischen Einzelerkenntnis, es geht dieser voraus, es ist, wie Kant sagt, a priori.

Die Erkenntnis dessen, was ein guter Wille ist, verdanken wir dem Anruf des Sittengesetzes in unserem Gewissen. Das ist der Ort, wo die Metapher des Hörens, die bei Newman jene in der letzten Folge besprochene Rolle spielt, ihren Platz hat. Diese Erkenntnis kann durch keine bloß empirische Erkenntnis ersetzt werden. Die Hiatus zwischen der empirischen Handlungserkenntnis und der apriorischen Werterkenntnis ist nichts anderes als das Korrelat zum Humeschen Gesetz der Unmöglichkeit des Schlusses vom Sein auf das Sollen, vom Faktischen auf die Norm.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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