Trotz hartnäckiger und anhaltender Kritik: Kardinal Donald Wuerl ist es in den vergangenen sechs Monaten gelungen, sich über Wasser zu halten. Es gelang ihm, sich vom Papst Lob einzuholen, während gleichzeitig seine Priester wie Laien forderten, ihn aus Washington zu entfernen – und es gelang ihm, weiter eine Führungsposition im Erzbistum Washington inne zu haben, trotz wachsender Sorge, ob er überhaupt dazu in der Lage ist, ein Bistum zu leiten.

Was auch immer für eine Kombination aus Glück und Geschick Wuerl auf den Beinen gehalten hat: Damit ist nun offenbar Schluss.

Es scheint jetzt klar zu sein, dass von Wuerls Ansehen als Entscheidungsträger, und was auch immer von seinem Vermächtnis als Reformer noch übriggeblieben war, nun nichts mehr übrig ist. Jetzt steht nur noch aus, dass der Papst seinen Nachfolger ankündigt und Wuerl seinen stillen Ausstieg aus dem öffentlichen Leben vollzieht.

CNA Deutsch meldete vor vier Tagen, am 11. Januar 2019, dass Wuerl im Jahr 2004 darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Erzbischof Theodore McCarrick beschuldigt stand, sich unangemessen gegenüber Seminaristen zu verhalten. Die Nachricht war für viele überraschend, da Wuerl seit Monaten bestritten hat, jemals auch nur von Gerüchten über das McCarrick zur Last gelegte Sexualverhalten gehört zu haben.

Vor dem Hintergrund dieser Enthüllungen drohen die – sieben Monate lang aufrecht erhaltenen – Behauptungen des Kardinals, nichts gewusst zu haben, eine jahrzehntelange Karriere aufzureiben, die geprägt war vom Ruf der Kompetenz und Zuverlässigkeit des Kirchenmannes.

Nach Monaten wiederholter Dementis, deren Argumentation immer enger und enger wurde, ist für viele die Nachricht, dass Wuerl vor 14 Jahren eine direkte Anschuldigung gegen McCarrick an Rom weitergeleitet hat, ein letzter Schlag für die Glaubwürdigkeit des Kardinals.

Nun fungiert Wuerl seit der Annahme seines Rücktritts vom Amt des Erzbischofs als der Apostolische Administrator von Washington. Mit anderen Worten, er ist eine Art "kommissarischer Leiter" bis zur Bekanntgabe des Nachfolgers. Papst Franziskus hat seinen Rücktritt im Oktober 2018 angenommen, wie CNA Deutsch berichtete.

Der Schritt galt damals als Konsequenz des Drucks, den zwei Skandale aufbauten: Die Enthüllungen im Fall McCarrick sowie der Bericht der Grand Jury von Pennsylvania über sexuellen Missbrauch, in dem Wuerl mehr als 200 Mal namentlich genannt wurde.

Papst Franziskus akzeptierte Wuerls Rücktritt als Erzbischof nur sehr zögerlich, verteidigte und lobte ihn ausdrücklich in seiner Annahme.

"Du hättest genügend Möglichkeiten, Dein Handeln zu 'rechtfertigen' und zu differenzieren, was der Unterschied ist zwischen der Vertuschung von Verbrechen, oder nicht mit einem Problem umzugehen, und einige Fehler zu machen", so der Papst wörtlich. Weil Wuerl jedoch "vornehm" sei, habe er sich dazu entschieden, sich nicht so zu verteidigen, fuhr Franziskus fort und betonte: "Darauf bin ich stolz und danke dir."

Im Lichte der Enthüllungen der letzten Tage sieht dieses Lob für viele Katholiken jetzt so aus, als wäre es ernsthaft fehl am Platz gewesen.

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Als im Juni vergangenen Jahres der erste Vorwurf gegen McCarrick öffentlich gemacht wurde, der den sexuellen Missbrauch eines Minderjährigen betraf, reagierte Wuerl mit "Schock und Traurigkeit".

In den darauffolgenden Wochen wurden zahlreiche weitere Vorwürfe gegen McCarricks bekannt, darunter was seinen Umgang mit jungen Seminaristen im inzwischen berüchtigten Strandhaus betraf, sowie dem Domhaus von Newark.

Wuerl wurde wiederholt gefragt, was er über McCarricks mutmaßliches Fehlverhalten mit Minderjährigen, Priestern und Seminaristen wisse. Der Kardinal antwortete vor laufender Kamera, dass er noch nie auch nur Gerüchte über seinen Vorgänger gehört habe.

In einer nicht-öffentlichen Ansprache an die Priester Washingtons zum Fall scherzte Wuerl im vergangenen Sommer noch, dass Bischöfe "oft die letzten sind, die von weitverbreiteten Gerüchten erfahren".

Sein Tonfall änderte sich, nachdem bekannt wurde, dass er seit mehr als einem Jahrzehnt wusste, dass McCarrick beschuldigt wurde, Seminaristen sexuell genötigt zu haben.

In einem Brief an die Priester von Washington, der am vergangenen Samstag verschickt wurde, schreibt Wuerl, dass, seine öffentliche Aussage, "nie von einer solchen Anschuldigung oder Gerüchten gewusst zu haben, sich nur auf den Vorwurf "des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen" bezogen habe. Dieser habe damals im Mittelpunkt der öffentlichen wie medialen Aufmerksamkeit gestanden.

Wuerl weiter: Man könne seine Aussage zwar "in einem anderen Kontext interpretieren". Aber die "Diskussion und Beurteilung von Erzbischof McCarricks Verhalten betrifft seinen [mutmaßlichen, Anm.d.R.] Missbrauch von Minderjährigen."

Im vergangenen Jahr hat ein Sprecher Wuerls wiederholt gegenüber CNA betont, dass der Kardinal "kein besonderes Interesse" daran habe, wo McCarrick nach seiner Pensionierung lebte oder als Seelsorger diente – besonders, was seinen Kontakt mit Seminaristen betreffe. CNA wurde gesagt, Wuerl sei sich über keinen Grund im Klaren, warum er sich Sorgen darüber machen sollte, dass McCarrick als Ruhestandsdomizil ein Priesterseminar gewählt hatte.

In seinem Schreiben vom Wochenende teilt Wuerl den Priestern mit, seine Worte seien in einen "anderen Kontext" gestellt worden als er es vorgezogen hätte.

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Im August 2018 veröffentlichte der ehemalige Nuntius des Vatikans in Washington, Erzbischof Carlo Maria Vigano, seine erste "Zeugenaussage": Ein Schreiben, in dem - neben vielen anderen Anschuldigungen - behauptet wurde, dass Papst Benedikt XVI. gegen McCarrick Sanktionen verhängt habe – ähnlich derer, die im August 2018 auch Franziskus verhängte.

Vigano schrieb, dass McCarrick des Seminars verwiesen worden sei, in dem er zum damaligen Zeitpunkt bereits im Ruhestand lebte, und dass Wuerl – als Erzbischof – über sowohl die Situation seines Vorgängers wie auch das Vorgehens Roms im Bild war. Wuerl widersprach Viganos Angaben und bestritt, jemals spezifische "Dokumente oder Informationen" über solche Sanktionen erhalten zu haben – obwohl er einräumte, dass er intervenierte hatte, um eine Veranstaltung zu verhindern, bei der McCarrick vor angehenden Seminaristen sprechen sollte (CNA Deutsch berichtete).

In den Wochen und Monaten nach Viganos Intervention, in denen einige der Behauptungen Viganos bestätigt wurden, wurden die Dementis von Kardinal Wuerl deutlich enger und sorgfältiger formuliert.

CNA recherchierte auch, dass Wuerl, selbst nachdem er über die New Yorker Vorwürfe gegen McCarrick im Jahr 2017 informiert worden war, das Institut nicht davon in Kenntnis setzte, das McCarrick Seminaristen als persönliche Mitarbeiter zur Verfügung stellte, die zum Teil auch bei ihn wohnten – sehr zu deren häufigen Unbehagen.

Trotzdem waren Wuerls Unterstützer bereit zu glauben, dass seine offensichtliche Untätigkeit in Washington das Ergebnis eines Missverständnisses sein musste.

Noch vor wenigen Monaten genoss Wuerl die Unterstützung derer, die meinten, er werde zu Unrecht ausgesondert, zumal er eine gewichtige Rolle als Unterstützer von Reformen in Rom spielen konnte.

Angesichts der Nachrichten der vergangenen Woche sind sich die meisten einig: Wuerls Versäumnis, mit dem angemessen umzugehen, was er – wie er nun einräumt – bereits 2004 wusste, kostet ihn den letzten Rest seines Rufs als glaubwürdiger Reformer in der Bekämpfung sexuellen Missbrauchs.

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Als sich die Bischöfe der Vereinigten Staaten Anfang des Monats im Mundelein-Priesterseminar in Chicago zu Besinnungstagen trafen, erhielten sie einen Brief von Papst Franziskus, in dem dieser die "Glaubwürdigkeitskrise" als Herausforderung für die US-amerikanischen Bischöfe beschrieb.

Während des Treffens der US-Bischofskonferenz 2018 in Baltimore im vergangenen November sprach Wuerl von der Rednertribüne und erinnerte daran, dass der heilige Johannes Paul II. 2002 die US-Bischöfe eingeladen hatte, "eine Zeit der tiefen Läuterung [wörtlich 'profound purification'] zu beginnen, nicht nur persönlich, sondern auch institutionell".

"Dieser Bezugsrahmen muss heute der unsere sein", sagte er den Bischöfen.

"Transparenz auf der Ebene einer Diözese, aber auch Transparenz auf der Ebene der Zusammenarbeit von uns allen: Ich denke, das wird ein sehr wichtiger Faktor sein", sagte er.

"Wir haben seit 2002 einen langen Weg zurückgelegt, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns."

"Ein Teil der Läuterung ist, dass wir manchmal einfach nur persönliche Verantwortung übernehmen müssen", sagte Wuerl den Bischöfen.

Viele ziehen daraus nun die Schlussfolgerung, dass Wuerl, nach den von ihm selbst angelegten Maßstäben, auch nicht als Verwalter der Erzdiözese weitermachen kann, die er einst leitete.

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Wuerl war jahrzehntelang dafür bekannt, Maßnahmen und Richtlinien zu entwickeln, die schnell und effizient mit Vorwürfen des Missbrauchs gegen Priester umgehen. Aber als er im Juni 2018 nach McCarrick gefragt wurde, war sein erster Instinkt – ob nun bewusst oder nicht - zu täuschen. Insofern scheint er – meinen manche – nun die Ursache, der vom Papst identifizierten "Glaubwürdigkeitskrise" zu verkörpern, nicht deren Lösung.

Wuerl wird Washington früher oder später verlassen, soviel ist klar. Aber die bloße Ernennung eines Nachfolgers an sich wird nicht diejenigen beruhigen, die empört sind darüber, was in den vergangenen Tagen an das Licht der Öffentlichkeit gekommen ist.

Viele befürchten, dass Wuerl mit seiner "sprachlichen Präzision " in den vergangenen Monaten verbrannte Erde hinterlässt.

Der übereinstimmende Eindruck: Wuerls Umgang mit dem Fall McCarrick verweist auf eine Kultur der Ausflüchte, selbst unter den Bischöfen, die als die stärksten Reformer gelten.

Wuerls Beispiel scheint auch zu zeigen, dass kein Bischof, der nur kirchenpolitische Ziele verfolgt, einen echten Kulturwandel unter Bischöfen bewirken kann, die sich angesichts harter Wahrheiten nach innen wenden. Wie Papst Franziskus den US-Bischöfen ans Herz gelegt hat, muss allen Maßnahmen die Integrität einzelner Personen vorausgehen, wenn das Vorgehen wirklich etwas bewirken soll.

Der Nachfolger von Wuerl wird angesichts der Situation fast heroische Reserven der Aufrichtigkeit und Demut brauchen. Washingtoner Katholiken sagen, sie wollen einen Bischof mit dem Mut, Entscheidungen zu treffen, die aus dem Anliegen der Wahrheit und Gerechtigkeit gefällt werden, nicht aus politischen Motiven oder vermeintlichen Sachzwängen. Ein Bischof, der den Verstand und das Herz hat, so gefällte Entscheidungen auch geduldig und ohne Vorbehalte einer Welt zu erklären, die diese vielleicht weder versteht oder akzeptiert.

Sie beten, dass sie einen solchen Hirten bekommen, und zwar bald.

Ed Condon ist Kirchenrechtler und Leiter des CNA-Büros in Washington. Übersetzt aus dem englischen Original.

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