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Um eine Philosophie des Guten: 40. Handeln aus Pflicht oder aus Einsicht?

Gewundene Pfade (Symbolbild)

Nach Kant handle ich moralisch nur dann, wenn ich aus Achtung für das Sittengesetz handle. Achtung ist für Kant zwar ein Gefühl, trotzdem ist die Moral keine Gefühlssache. Denn Achtung ist für ihn das einzige Gefühl, das nicht pathologisch, also nicht durch unsere sinnliche Neigung bedingt, sondern moralisch, weil vernunftgewirkt ist. Es ist vernunftgewirkt, weil das Sittengesetz Achtung nicht nur fordert, sondern „einflößt“ (KpV V 80, 22), und zwar aufgrund seiner Heiligkeit. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zeigt Kant, „wie weder Furcht, noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Werth geben kann” (GMS IV 440, 5-7). Nun meint Otfried Höffe: „Diese Triebfeder der reinen praktischen Vernunft, die rein vernünftige Achtung, ist zudem von der Aufgabe entlastet, das Sittliche zu erkennen, so daß die Motivationskraft übrig bleibt“ (Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, S. 192).

Dass die Achtung vor dem Sittengesetz uns von der Erkenntnis des Sittlichen entlastet, ist eine starke Aussage! Damit stellt Höffe das Handeln aus Pflicht und das Handeln aus sittlicher Einsicht einander gegenüber. Die moralische Gesinnung ersetzt die moralische Einsicht: Auf diese These läuft hinaus, was Höffe Kant unterstellt. Wird er ihm damit gerecht? Diese Kritik hängt eng mit dem Formalismusvorwurf zusammen. Denn dieser rekurriert, wie wir in der letzten Folge gesehen haben, auf den Umstand, dass nach Kant allein die Form des Gesetzes unabhängig von dessen Materie der Bestimmungsgrund des moralisch guten Willens sei. Und da das Gesetz a priori gebietet, muss es von der Empirie unabhängig sein, darf seine Verpflichtungskraft also nicht aus der Materie des Gesetzes, also aus dem Handlungsobjekt beziehen. Diese Abkoppelung der Verpflichtungskraft vom Objekt zieht den Gedanken der Abkoppelung der Achtung fürs Gesetz von der Objekterkenntnis nach sich. Wenn ich aus Achtung für das Sittengesetz handle und dieses dem Objekt vorausgeht (und es muss ihm vorausgehen, wenn es unbedingt und a priori, also nicht durch das Objekt bedingt, soll gebieten können), dann bin ich tatsächlich von der Erkenntnis des Objekts entlastet. Denn wenn das Gesetz dem Objekt vorausgeht, dann geht auch der Gesetzesgehorsam der Objekterkenntnis voraus.

Eine solche Auffassung erinnert uns an die verbreitete Gewohnheit, sich auf das eigene Gewissen zu berufen, um den ethischen Diskurs abzubrechen und sich der Begründungspflicht zu entziehen. Das Gewissen als oberste Norminstanz wird gegen rationale Argumentation ausgespielt. Wenn dann noch der alte Grundsatz in Anspruch genommen wird, dass selbst das irrige Gewissen verpflichte, ist man fein raus und hat seine Moralität vollends gegen jeden Einwand immunisiert. In solchem Kontext verkommt das Gewissen zu einem irrationalen Orakel, das seinen Spruch kraft eigener Autorität jeder Infragestellung durch sachliche Einwände entzieht. Aber wenn dieses Orakel, wie bei Kant, die Vernunft selbst ist, kann ihm dann noch Irrationalität vorgeworfen werden? Gerade das scheint ja der Clou bei Kant zu sein, dass es bei ihm eben die Vernunft ist, die kraft eigener Autorität das Gesetz gibt. Sie ist gesetzgebend und fungiert als solche wie eine „himmlische Stimme“ (KpV V 35, 17), gegenüber der wir nicht taub sein dürfen. Da die Vernunft ursprünglich gesetzgebend ist, hängt die Verbindlichkeit des Gesetzes allein von der Autorität der Vernunft ab, die nach dem Motto gebietet: „sic volo, sic jubeo“ (KpV 31, 34). Die Verbindlichkeit hat ihren Grund in ihrem Ursprung, welcher die Vernunft ist, und nicht in Gründen, die in einer Weise außerhalb der Vernunft liegen, dass sie von dieser erst noch gesucht und gefunden werden müssen. Daraus folgt dann ganz im Sinne der Höffeschen Unterstellung: Die Achtung fürs Sittengesetz ist deshalb vernünftig, weil das Gesetz von der Vernunft selbst gegeben ist, ohne dass es weiterer Gründe bedarf, auf die das Vernunfturteil rekurrieren müsste. Die einzige Einsicht, die zum moralischen Handeln nötig ist, scheint diese Einsicht in den Vernunftursprung des Gesetzes zu sein, nicht aber jene objektbezogene Einsicht des Sittlichen, die in Höffes Zitat der Achtung fürs Sittengesetz entgegengestellt wird.

Wir wollen anhand zweier Beispiele herauszufinden versuchen, wie es sich nun wirklich verhält und was Kant wohl tatsächlich gemeint hat.

Im ersten Beispiel stellen wir uns die Szene vor, dass während der Coronazeit zwei Menschen darüber diskutieren, ob es moralisch geboten sei, sich impfen zu lassen. Es geht dabei um Fragen des Eigenschutzes und Fremdschutzes von Risikogruppen, der Höhe des Risikos, der tatsächlichen Wirksamkeit der Impfung, der Frage ihrer Nebenwirkungen, der Verhältnismäßigkeit usw. Wenn nun einer von beiden (gleichgültig, ob nun der Befürworter oder der Gegner der These) sich plötzlich auf sein Gewissen berufen und damit alle Gegenargumente abblocken würde, dann würden wir eine solche Berufung als irrationalen Abbruch der Diskussion beurteilen. Denn das Urteil des Gewissens kann nur das Ergebnis einer möglichst adäquaten Einschätzung der Situation sein, nicht aber an die Stelle solcher Einschätzung treten. Dabei ist es gleichgültig, ob der Diskursverweigerer sich auf die Stimme seines Gewissens oder die der Vernunft beruft. Denn eine berechtigte Berufung auf die „Vernunft“ könnte nur in der Angabe rationaler Gründe bestehen, um die es in der Diskussion gerade geht. Sich aber der Kraft der Argumente unter Berufung auf die Vernunft zu entziehen, läuft auf die Abdankung der Vernunft im Namen der Vernunft hinaus. So hat Kant die Gesetzgebung der Vernunft sicherlich nicht gemeint.

Zweites Beispiel: Uns wird ein unmoralisches Angebot gemacht, das uns instand setzt, risikolos und ausschließlich zum eigenen Vorteil einen missliebigen Menschen aus dem Weg zu räumen. Es hat im Laufe der Zeit immer wieder Gedankenexperimente gegeben, um ein Szenarium zu entwerfen, in dem jeder letzte Rest des Risikos, entdeckt zu werden, getilgt wird, so dass es keine Interessenserwägungen mehr gibt, die uns vom bösen Tun abhalten könnten – denken wir z. B. an den Ring des Gyges aus Platons Politeia oder an den Mordknopf aus der gleichnamigen Erzählung von Ida Friederike Görres. Wenn wir in solcher Situation allen Gründen, mit denen der Verführer uns zum Mord zu unserem eigenen Vorteil bewegen will, entgegenschleudern: „Aber das geht gegen mein Gewissen!“, dann ist diese Berufung auf das Gewissen nicht irrational, sondern höchst berechtigt. Sie bedeutet die Anerkennung der unbedingten Geltung des Sittengesetzes, das uns ein solches Unrecht verbietet, unabhängig von sonstigen Folgen dieser Tat. Genau das ist es, was Kant meint, wenn er sagt, dass das Sittengesetz kategorisch gebietet unter Abbruch aller Neigungen, die ihm widerstreiten, und dass ich dieses Gesetz nicht aus der Beobachtung dessen lerne, wie Menschen sich verhalten, sondern es vielmehr a priori aufgrund meiner moralischen Vernunft kenne und es als Maßstab an die menschlichen Handlungen anlege, um sie nach der Übereinstimmung mit ihm zu beurteilen. In der Beurteilung des Faktischen geht das Sollen dem Faktischen voraus.

Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Beispielen? Es ist der Unterschied zwischen der Kenntnis der grundlegenden Gebote und ihrer Anwendung. Dass ich kein Unrecht begehen darf, weiß ich a priori. Ob aber eine konkrete Handlung ein Unrecht ist, hängt im Einzelfall von vielen Umständen ab, die mir nur aufgrund kontingenten Erfahrungswissens (eigenen oder fremden Erfahrungswissens: Ich bin u. U. etwa auf die vertrauenswürdige Auskunft der Wissenschaft angewiesen) zugänglich sind. In der Zurückweisung eines offenkundig unmoralischen Angebots, das mir keinerlei Nachteile, nur Vorteile in Aussicht stellt, bin ich auf die reine, nackte Moral zurückgeworfen. Da brauche ich kein Expertenwissen, sondern nur ein intaktes Gewissen und einen starken Charakter. Es ist allein meine moralische Gesinnung, die mich am „Nein“ gegenüber dem Angebot festhalten lässt. Hier ist tatsächlich allein die moralische Gesinnung entscheidend. Dies aber nicht deshalb, weil sie die moralische Erkenntnis ersetzt, sondern weil sie das in klarer Evidenz gegebene moralische Sollen anerkennt.

Dennoch hat auch diese Evidenz es nicht nur mit dem reinen Sollen, sondern auch mit einer Handlung zu tun, nämlich mit der Zurückweisung eines Mordes, der mir angemutet wird. In diesem Fall konkretisiert sich die Moralität in einer Entscheidung gegen die Handlung.

Diese Evidenz ist nur möglich, weil es Handlungen gibt, die mit der moralischen Gesinnung in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen. Anders formuliert: Nicht jede Handlung ist mit jeder Gesinnung vereinbar. Die Erkenntnis dieser Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit ist aber mit der Erkenntnis der Gesolltheit einer moralischen Gesinnung nicht identisch. Das sind zwei Paar Schuhe. Wenn Duns Scotus allein die Gottesliebe als Inbegriff der moralischen Gesinnung der freien Disposition göttlicher Allmacht im Sinne des Euthyphron-Dilemmas entzieht, nicht aber die Gebote der zweiten Tafel des Dekalogs, dann hängt das nicht zuletzt mit diesem Problem des Zusammenhangs zwischen Gesinnung und Handlung zusammen. Die Gesinnung ist Sache des freien Willens und gehört der intelligiblen Welt an, die Handlung ist eine Erscheinung in der Sinnenwelt. Was ist dafür verantwortlich, dass nur bestimmte Erscheinungen Darstellungen des moralischen Werts meines Willens, nur bestimmte Taten Ausdruck meiner Gesinnung sein können? Gibt es hier überhaupt eine eineindeutige Beziehung? Um die Antwort, die wir in der nächsten Folge suchen wollen, vorwegzunehmen: Es gibt keine eineindeutige Beziehung, sondern nur eine eindeutige zwischen einer Teilmenge der Handlungen zur Gesinnung.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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