Bei Kant können wir die merkwürdige Idee entdecken, dass nach seiner Auffassung der Gegenstand der Pflicht nicht der Grund der Pflicht ist. Das widerspricht unserer Alltagsintuition.

Nehmen wir wieder unser klassisches Beispiel der Rettung eines ertrinkenden Menschen. Der Ertrinkende ist derjenige, dem gegenüber ich die Pflicht habe, ihn zu retten, und in diesem Sinne ist er der Gegenstand der Pflicht. Gleichzeitig liegt in ihm auch der Grund dieser Pflicht. Warum ist er der Grund? Weil es um den absoluten Wert eines Menschenlebens geht. Lasse ich einen Menschen mutwillig ertrinken, mache ich mich ihm gegenüber schuldig. Er ist Gegenstand der Pflicht, weil er in Not ist, und er ist Grund der Pflicht, weil von ihm aufgrund seiner Würde der Ruf der Pflicht ausgeht. Ich darf mich gegenüber einem Menschenleben nicht gleichgültig verhalten. Es ist der Mensch, der der Situation ihre moralische Bedeutung verleiht und den moralischen Imperativ, den ich im Gewissen als Stimme der moralischen Vernunft vernehme, begründet. Es darf mir nicht egal sein, ob da vor meinen Augen ein Mensch, dem ich helfen könnte, ertrinkt oder nicht. Das Interesse am moralischen Gesetz kann ich vom Interesse an diesem Menschenleben nicht trennen. Wäre es bloß ein ertrinkender Käfer, würde diese Situation nicht an mein Gewissen appellieren, jedenfalls nicht in gleicher Weise. Es könnte sein, dass ich mich trotzdem angesprochen fühle und aus Mitleid selbst einem Käfer aus einer Notlage helfe. Albert Schweitzer sprach von der Ehrfurcht, die wir vor dem Leben überhaupt haben sollten, also auch vor den Tieren. Die Sensibilität gegenüber dem Wert des nichtmenschlichen Lebens von Tieren und Pflanzen ist lobenswert, und es ist an dieser Stelle müßig, darüber zu spekulieren, ob und wann diese Sensibilität schon als moralisch oder bloß als moralaffin zu qualifizieren ist. Fest steht: Je geringer der Wert ist, der auf dem Spiel steht, umso geringer ist der normative Anspruch, unter den wir gestellt sind, wenn wir mit dem Wert konfrontiert werden. Diese Idee einer gestuften Normativität unterstützt gerade unsere Intuition, dass der Gegenstand unserer Pflicht dafür verantwortlich ist, ob und in welchem Maß wir vom moralischen Imperativ getroffen werden. Je höherwertiger der Gegenstand ist, um so verpflichtender ist der Anspruch, der von ihm ausgeht. Spätestens beim Menschen handelt es sich um einen moralischen Anspruch im strengen Sinne. Der moralische Imperativ geht vom Objekt aus.

Kant sieht das anders. Er trennt Gegenstand und Grund der Pflicht. Bei einer moralischen Handlung „ist nicht der Gegenstand, sondern das Gesetz des Willens der Bestimmungsgrund derselben“ (KpV V 58, 4 f). „Aus Pflicht“ handeln bedeutet: „aus Achtung für das Sittengesetz“. Das Sittengesetz ist uns in unserem Bewusstsein als ein Faktum der Vernunft gegeben, nicht – wie der ertrinkende Mensch – als ein empirisches Faktum der Sinnenwelt. Der moralische Wert unseres Willens hängt nach Kant allein davon ab, dass der Wille durch den Sollenscharakter, „durch die bloße Form des Gesetzes“ (KpV V 31, 12; cf. 28, 31 - 29, 9) bestimmt wird. Moralisch handeln wir, wenn wir „aus Pflicht“ handeln. Den Imperativ der Pflicht aber denkt Kant kategorisch. Er kann ihn nur dann kategorisch denken, wenn er ihn denkt als unabhängig von einem empirischen Objekt. Folglich kann dieses Objekt nicht der Grund der Pflicht sein. Eine solche Beziehung der Bedingtheit würde den kategorischen Charakter, also den Charakter der Unbedingtheit, der dem moralischen Imperativ eigen ist, aufheben. Diese Trennung des Pflichtcharakters der Handlung vom Handlungsobjekt macht den Formalismus von Kants Ethik aus. Kant sucht den Grund der Pflicht ausschließlich in der Vernunft des moralischen Akteurs. Die Vernunft aber gebietet unbedingt, und das heißt: Sie selbst, nicht das Objekt, ist der Rechtfertigungsgrund der gebotenen Handlung. Sie gebietet also nach dem Motto: „sic volo, sic iubeo“ – so Kant ausdrücklich in KpV V 31, 31-34: „Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo,) ankündigt.“ Das heißt: Die Vernunft ist ihr eigener Grund: Sie braucht für ihren Imperativ keinen Rechtfertigungsgrund im Objekt der gebotenen Handlung: stat pro ratione voluntas.

Demgemäß trennt Kant das Interesse an der Pflichterfüllung strikt vom Interesse am Handlungsobjekt. Jenes allein ist moralisch, dieses ist empirisch. Wenn deshalb das moralische Gesetz mir die Förderung der Glückseligkeit des Nächsten gebietet, dann darf ich mir dieses Gebot nicht so zu eigen machen, als ob mir am Glück des Nächsten tatsächlich etwas liegen würde. „So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, nicht als wenn mir an deren Existenz was gelegen wäre (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgend ein Wohlgefallen indirect durch Vernunft), sondern bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als allgemeinen Gesetz, begriffen werden kann“ (GMS IV, 441, 19-24). Der Grund dieser merkwürdigen Abkoppelung des Interesses an der Moralität meiner Hilfe vom Interesse am Gegenstand meiner Hilfe liegt darin, dass Kant sich jedes empirische Interesse nur als ein pathologisches denken kann, also als ein solches, das durch eine Neigung bedingt ist. Für Kant kann ein rationaler Bestimmungsgrund nicht empirisch sein, ein empirischer nicht rational (cf. KpV V 92, 4 f). Dementsprechend kann sich Kant ein rationales, also ein vernunftgewirktes, also ein moralisches Interesse an einem empirischen Gegenstand (und auch der Andere, der mir in der Erfahrungswelt begegnet, ist ein solcher) nicht vorstellen. Es ist deshalb auch ganz folgerichtig, wenn Kant die Achtung für die Person auf das Sittengesetz bezieht, wovon die Person das Beispiel abgibt: “Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz (…) Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel giebt” (GMS IV 401, Anmerkung). Das moralische Interesse ist eine Folge dieser Achtung in ihrer Eigenschaft als Triebfeder moralischen Handelns: „Aus dem Begriffe einer Triebfeder entspringt der eines Interesse, welches niemals einem Wesen, als was Vernunft hat, beigelegt wird und eine Triebfeder des Willens bedeutet, sofern sie durch Vernunft vorgestellt wird. Da das Gesetz selbst in einem moralisch guten Willen die Triebfeder sein muß, so ist das moralische Interesse ein reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft“ (KpV V 79, 19-24). In der Fähigkeit, an der Befolgung des Gesetzes ein Interesse zu nehmen, besteht nach Kant das einzige moralische Gefühl, das es gibt, nämlich die Achtung für das Sittengesetz, und dieses Gefühl hängt dem Gesetz „lediglich seiner Form nach, nicht irgend eines Objects desselben wegen“ an (KpV V 80, 12 f). Wenn also meine Hilfe einen moralischen Wert haben soll, dann helfe ich nach Kant dem Nächsten nicht um des Nächsten willen, sondern um des Sittengesetzes willen, dessen Imperativ wiederum nicht im Nächsten, sondern in meiner Vernunft ihren Grund hat (siehe dazu noch ausführlicher meinen Aufsatz Kants Irrtum: Die Person geht dem Sittengesetz voraus, in: Vatican Magazin, Dezember 2021, S. 38-41).

Nun gibt es zahlreiche Aussagen im Werke Kants, die eine Überwindung des Formalismus solcherart indizieren, dass ein Kantkenner wie Bernward Grünewald über Kants Ethik urteilen kann: „von Formalismus keine Spur“ (Grünewald, Form und Materie der reinen praktischen Vernunft. Über die Haltlosigkeit von Formalismus- und Solipsismus-Vorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs zu seinen Erläuterungsformeln, in: S. Doyé u.a. (Hgg.), Metaphysik und Kritik, FS für Manfred Baum, Würzburg 2004, S. 183-201, hier 199). Er meint, man könne „bei manchem Kritiker der Kantischen Moralphilosophie den Verdacht nicht unterdrücken, dass ihm sogar die Existenz der Metaphysik der Sitten unbekannt“ sei (ebd. 192, Anm. 26). Doch, so füge ich hinzu, nicht nur in der Metaphysik der Sitten (die 1797 erschien), sondern sogar schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) gibt es Ansätze, die zur Überwindung des Formalismus geeignet sind. Dennoch halte ich den Formalismusvorwurf nicht für haltlos, weil Kant eine befriedigende Vermittlung beider Ansätze vermissen lässt. Lassen sie sich überhaupt vermitteln? Bedeuten Kants antiformalistische Aussagen, die wir kennenlernen werden, eine Korrektur seines eigenen Formalismus oder bloß eine Interpretationshilfe, die seinen Vernunftmonismus vom Formalismusvorwurf freispricht? Diese Frage, der wir in den kommenden Folgen nachgehen wollen, gehört zu den spannendsten der Kant-Exegese. Ihre Klärung ist nicht nur von historischem, sondern von eminent philosophischem Interesse.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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