Karl-Heinz Ilting steht nicht allein. Auch der Philosoph Christoph Lumer wirft Immanuel Kant einen Fehlschluss vor. Lumer gilt als Experte für ethische Argumentationstechnik und hat in dem von namhaften Philosophen bearbeiteten Grundkurs Ethik, Band I: Grundlagen (Hgg. J. S. Ach, K. Bayertz, L. Siep; Münster, 3. Auflage 2014) das Kapitel Ethische Argumentationen (S. 121-143) übernommen. Kants These, deren Begründung er kritisiert, ist jene, die auch Ilting zurückweist, nämlich die vom „objektiven Wert der Vernunftwesen“. Lumer nimmt folgende Passage aus Kants Grundlegung aufs Korn: „Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip“ (GMS IV 429).

Wie sieht Lumers Kritik an dieser Passage aus? Er meint, Kant wolle beweisen, dass Menschen (als Vernunftwesen) „einen nichtinstrumentellen, intrinsischen Wert für alle Vernunftwesen“ haben. Aber in Wirklichkeit beweise er lediglich, dass jeder Mensch nur für sich selbst einen solchen Wert habe. Lumer schlüsselt den Gedankengang Kants in zwei Prämissen auf, die logisch „eigentlich identisch“ seien und die er folgendermaßen wiedergibt:

P1: Für ein beliebiges Vernunftwesen ist die eigene Existenz notwendigerweise ein intrinsischer Zweck.
P2: Dies gilt für alle Vernunftwesen gleichermaßen.

Daraus folge aber nichts anderes als eben dies: „Für alle Vernunftwesen x gilt: Die Existenz von x ist für x intrinsisch gut.“ Kant aber folgere irrtümlicherweise: „Für alle Vernunftwesen x und y gilt: Die Existenz von x ist für y intrinsisch gut“. Diese Folgerung sei falsch: „Die Argumentation enthält also ein klares non sequitur.“ (S. 130).

Was ist von dieser Kritik zu halten? Lumer behandelt den Begriff „intrinsisch gut“ wie einen relationalen, und zwar relational in Bezug auf einen Wertenden, für den etwas intrinsisch gut ist. Erst durch diese Transformation des Kantischen Begriffs des „Zwecks an sich“ bekommt die Aussage Kants einen Sinn, der die Lumersche Kritik ermöglicht. Wir können uns diese von Lumer unterstellte Argumentationsstruktur veranschaulichen anhand ihrer Anwendung auf ein Beispiel, das ich folgendermaßen beschreiben will: „Ich darf x küssen, weil x meine Ehefrau ist.“ Wenn wir diese Aussage verallgemeinern, dann ergibt sich die Folgerung: „Jeder Mensch darf seine Ehefrau küssen“, nicht aber die Folgerung: „Jeder Mensch darf alle Ehefrauen küssen.“ Es ist ein Fehlschluss solcher Art, den Lumer Kant vorwirft. Kant hätte nur folgern dürfen: Jeder Mensch sei nur für sich selbst Zweck, nicht aber jeder Mensch für jeden Menschen.

Schauen wir uns nun Kants Text noch einmal genauer an, um zu erkennen, wie verfehlt Lumers Interpretation dieses Textes ist. Wenn Kant schreibt: „So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor“, dann meint er damit die Ichperspektive des Selbstbewusstseins, in der allein der Mensch sich selbst als Vernunftwesen gegeben ist. In dieser Erkenntniseinstellung erfahre ich mich als Zweck an sich selbst, d.h. als ein Wesen, das Würde besitzt, die von jedem Anderen zu achten ist und es diesem verbietet, mich bloß als Mittel zu brauchen. Im nächsten Schritt verallgemeinert Kant diese Selbsterfahrung: „So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor“. Das bedeutet: Auch der Andere erfährt sich als Selbstzweck mit einer Würde, die von allen zu achten ist. Er erfährt sich als solchen auf dieselbe Weise wie ich, nämlich „zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt“, wie Kant deutlich schreibt.

Wie mir die Erkenntnis des Anderen und seiner Selbsterkenntnis möglich ist, wird von Kant nicht thematisiert. Das ist tatsächlich ein Schwachpunkt seiner Philosophie, weil er keine Interpersonalitätslehre entwickelt hat. Diese Lücke versuchte dann Fichte zu schließen. Aber das ist nicht der Kritikpunkt Lumers. Trotz dieser Schwäche wird Kants Gedankengang von Lumers Kritik nicht getroffen. Der springende Punkt betrifft vielmehr die Eigenart dessen, was in der je individuellen Selbsterkenntnis erkannt wird, nämlich die Selbstzwecklichkeit des Vernunftwesens, also dessen absoluter Wert, dessen Würde. Diese Selbstzwecklichkeit stellt einen Sachverhalt dar, der unabhängig davon existiert, ob es sich um mein eigenes Dasein handelt oder um ein fremdes. Wenn ich mich als ein Wesen erkenne, das aufgrund seiner vernünftigen Natur als Selbstzweck existiert, dann kommt dieser Charakter der Selbstzwecklichkeit jedem Wesen zu, das eine solche Natur besitzt. Der in der Ichperspektive erkannte Sachverhalt wird als ein nicht-relativer Sachverhalt erkannt, auch wenn der unmittelbare Erkenntniszugang zu ihm auf die Ichperspektive beschränkt ist. Die Einschränkung auf die Perspektive der ersten Person ist nicht gleichbedeutend mit der Relationalität des Erkannten. Auf unser veranschaulichendes Beispiel angewandt, bedeutet dies: Zwar darf ich x nur küssen, wenn sie meine eigene Frau und nicht die eines Anderen ist. Aber zu achten habe ich x, weil sie eine Frau ist (und deshalb Würde besitzt), und deshalb muss ich alle Frauen achten. Das würde selbst dann gelten, wenn ich – per impossibile et absurdum gesprochen – zur Erkenntnis dieser Würde nur durch das Eingehen einer Ehe gelangen könnte.

Es ist die vernünftige Natur der Menschheit, die in allen Frauen wie in allen Menschen überhaupt zu achten ist. Aus diesem Grund hat die Zweckformel des Kategorischen Imperativs bei Kant den Wortlaut: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS IV 429).

Wir ahnen, woran es liegen könnte, dass Lumer diesen entscheidenden Punkt in Kants Gedankengang übersieht. Er selbst vertritt eine Ethik, die Würde und absoluten Wert nicht kennt, sondern nur einen relationalen Begriff des Guten, also eines Guten, das im Dienst des Eigeninteresses steht. Er kennt nicht ein „in sich Gutes“ (auch wenn er den Begriff des Intrinsischen verwendet), sondern nur ein „gut sein für“. Sein Begriff des Guten ist der der Wünschbarkeit oder des Erwartungsnutzens. Intrinsisch gut ist dabei das, was einen intrinsischen Nutzen besitzt wie z.B. „das eigene Wohlsein“ (S. 133), was also um seiner selbst willen wünschbar ist. Damit ist das Rätsel gelöst, wie Lumer den Begriff „intrinsisch“ gebrauchen kann, ohne den relationalen Charakter des intrinsisch Guten aufzuheben. Seine Werturteilstheorie beschränkt sich auf diesen Nutzwert: „Wenn wir zwischen möglichen Handlungen wählen, entscheiden wir uns deshalb für diejenige mit der höheren Gesamtwünschbarkeit“ (ebd.).

Dementsprechend findet Lumer keinen Zugang zu einem Verständnis von Kants „Achtung für das Sittengesetz“. Achtung ist für ihn kein vernunftgewirktes Gefühl aufgrund der Erkenntnis eines absoluten Wertes, sondern als Handlungsmotiv Folge eines Achtungsaffekts, der wiederum die Folge einer Achtungserfahrung sei, die sich aus der Erkenntnis des Achtungsobjektes und dessen affektiver Bewertung ergebe. Achtung ist also „eine affektinduzierte Motivation“ und als solche „nicht zeitlich stabil“, so dass sie nicht „als Grundlage einer rationalen Moral“ in Frage kommt. Als solche Grundlage ist für Lumer nur das ausdrücklich hedonistisch konzipierte „Motiv der Achtungsoptimierung“ geeignet. Damit meint Lumer die Optimierung angenehmer Gefühle wie „Ehrfurcht, Bewunderung, Faszination, Ergriffenheit, Staunen“ (Lumer, Motive zu moralischem Handeln, in: Analyse und Kritik 24/2002). Er löst, ganz in den Spuren David Humes, alle Motivation in empirische Gefühle auf, so dass er gegen Kant festhält, dass ein „Handeln aus reiner praktischer Vernunft (…) analytisch unmöglich“ sei, und für die Vernunft nur noch die Rolle eines Sklaven der Leidenschaften übrigbleibt (Lumer, Quellen der Moral – Plädoyer für einen prudentiellen Altruismus, in: Conceptus 32, 1999).

Hier sehen wir, wie auf der Objektseite der Verkennung des Wertes als einer von jedem Werturteil unabhängigen Wirklichkeit auf der Subjektseite die Verkennung der Rationalität wertantwortender Affekte entspricht (siehe dazu meine Ausführungen in Warum mit dem Glauben auch die Vernunft gerettet wird, in meinem neuen Buch Wirklichkeitserschließendes Sollen, Alber 2023). Rational ist in solcher Theorie nur das Handeln aus Eigeninteresse. Folglich kann Moralität nur durch Rückführung auf das Eigeninteresse als rational gerechtfertigt werden. Außerhalb dessen bleibt nur irrationale Gefühlsverirrung übrig. Bei Kant ist es genau umgekehrt: Die für Lumer so mysteriöse „Achtung für das Sittengesetz“ ist bei Kant die Sittlichkeit selbst, und zwar in ihrer Rolle als Motivation (KpV V 76: „Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet“). Moral kann nur durch sich selbst motiviert und gerechtfertigt sein. Und nur durch sie wird Vernunft praktisch und verwirklicht der Mensch seine Bestimmung als Vernunftwesen.

Wir können Immanuel Kant nicht dankbar genug dafür sein, dass er das Wesen der Moralität so klar und präzise herausgearbeitet hat und für alle Zukunft der Philosophie Pflöcke eingerammt hat, die man nur um den Preis immenser Erkenntnisverluste ignorieren kann. Das sollten wir unbedingt anerkennen und im Hinterkopf behalten, wenn wir uns in den kommenden Folgen seinen Irrtümern zuwenden.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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