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Um eine Philosophie des Guten: 42. Erlaubte und gebotene Handlungen

Immanuel Kant

Kant schreibt dem Sittengesetz zwei verschiedene Funktionen zu, die er nicht immer genügend unterscheidet: die Funktion als einschränkende Bedingung und die Funktion als Triebfeder.

In den Fällen, in denen sich seine Funktion auf die erste Funktion beschränkt, hat es die Form eines bloßen Erlaubnisgesetzes. Schauen wir uns diese Aussage Kants an: „Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit bestehen kann, ist unerlaubt.“ (GMS IV 439, 26-28). Was Kant unter „Autonomie des Willens“ versteht, hat er im Satz zuvor erklärt, nämlich die „mögliche allgemeine Gesetzgebung durch die Maximen“. Das bedeutet mit anderen Worten: Die Handlung, die mit dem Kategorischen Imperativ (der die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime fordert) vereinbar ist, ist erlaubt. Jene Handlungen, bei denen das nicht der Fall ist, sind unerlaubt. Hier haben wir also lediglich die Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen. Gebotene Handlungen, also Handlungen, die Pflicht sind, kommen hier nicht vor. Aber nur gebotene Handlungen haben moralischen Wert, und zwar dann, wenn sie aus Pflicht, also aus Achtung fürs Sittengesetz vollzogen werden. Es ist nach Kant ausschließlich die „Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder […], die der Handlung einen moralischen Wert geben kann“ (GMS 440, 6 f).

Nehmen wir als Beispiel die Tätigkeit eines Kaufmanns. Er ist zur Ehrlichkeit verpflichtet, und zwar so sehr, „daß ein Kind eben so gut bei ihm kauft, als jeder andere“, wie Kant sehr schön ausführt (GMS 397, 24 f). Doch warum ist er ehrlich? Hier unterscheidet Kant ganz richtig zwei Möglichkeiten: Er ist es entweder „in eigennütziger Absicht“, weil sein Vorteil diese Ehrlichkeit erfordert (also aus Klugheitsgründen), oder aber „aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit“ (GMS 397, 27).

Kant übersieht aber, dass die Pflicht zur Ehrlichkeit nicht identisch ist mit der Pflicht zur Handlung, die auf ehrliche Weise ausgeführt wird. Es ist durchaus der Fall denkbar, dass ein Kaufmann aus Neigung reich werden will, dies aber aus moralischer Überzeugung nur auf ehrliche Weise. In diesem Fall treibt der Kaufmann seinen Handel nicht aus Pflicht. Es ist nicht die Ehrlichkeit, die ihn zur Handlung verpflichtet oder gar antreibt. Die Handlung ist moralisch freiwillig, aber wenn sie geschieht, muss sie ehrlich vollzogen werden. Triebfeder ist hier nicht das Sittengesetz, sondern die Aussicht auf Wohlstand. Deshalb hat nach kantischen Voraussetzungen die Handlung dieses Kaufmanns keinen moralischen Wert. Die Ehrlichkeit, zu der er verpflichtet ist und die er aus Achtung fürs Sittengesetz beachtet, bestimmt nur die Art und Weise seines Handelns: Er betrügt nicht. Die Handlung selbst aber geschieht nicht aus Pflicht. Das Sittengesetz hat hier nur die Funktion einer einschränkenden Bedingung: Es unterwirft das Handeln der Bedingung der Ehrlichkeit.

Man könnte sich höchstens den Fall vorstellen, dass sich dem Kaufmann eine günstige Gelegenheit zu einem Betrug bietet und er die Versuchung verspürt, ihn zu begehen, um dadurch um so schneller sein Ziel (den Wohlstand) zu erreichen. In diesem Fall könnte man sagen: Insofern er der Versuchung zur Unehrlichkeit widersteht, handelt er aus Pflicht. In diesem Fall hat seine Handlung den Charakter einer Entscheidung gegen die Versuchung zur Unehrlichkeit und für die Ehrlichkeit. Aber auch dieser Fall ändert nichts an der Tatsache, dass sein Handeln abseits von solchen Versuchungen ein Handeln ist, das erlaubt ist, das nach Maximen der Ehrlichkeit sich vollzieht, also mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, und das trotzdem nicht aus Pflicht geschieht und deshalb keinen moralischen Wert hat. Es hat in diesen Fällen den Charakter einer (erlaubten, aber moralisch wertneutralen) Entscheidung für den Reichtum, den er durch seinen Handel erwerben will.

Allgemein ausgedrückt: Auch ein ehrlicher Mensch kann geldgierig oder z.B. auch unmäßig sein. Ich kann trinken und schlemmen und trotzdem aus Grundsätzen ehrlich sein. Nachdem ich in einem teuren Restaurant meinen Gaumenfreuden gefrönt habe, kann ich der Bedienung sogar ein großzügiges Trinkgeld geben. Die Maximen der Ehrlichkeit, die mich in all meinem Tun begleiten, machen dieses Tun noch lange nicht zu einem tugendhaften, sondern erst dann, wenn sie die Gelegenheit haben, als Triebfeder zu wirken. Und das können sie nur in bestimmten Situationen, nämlich dann, wenn sich mir eine konkrete Alternative zwischen ehrlichem und unehrlichem Tun eröffnet, die mich zu einer Entscheidung zwingt. Die Entscheidung des ehrlichen Kaufmanns dagegen, der reich werden will, ist motiviert von dem Verlangen nach Reichtum, aber so, dass er sein Tun der moralischen Bedingung der Ehrlichkeit unterwirft.

Dies eingesehen, muss die Kantische Identifizierung von Gesinnung und Maximen kritisch hinterfragt werden. Diese Identifizierung finden wir bei Kant z.B. an dieser Stelle: „ […] ihr Wert besteht […] in den Gesinnungen, d.i. den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte“ (GMS 435, 13-17). Hier wird die Gesinnung geradezu durch die Maximen definiert. Wenn wir uns den Zusammenhang anschauen, leuchtet diese Definition sofort ein. Wessen Wert meint Kant mit „ihr Wert“? Die Antwort: „Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt)“. Sie „haben einen innern Wert“ (GMS 435, 11 f). Hier denken wir sofort an Menschen, die aus „Treue im Versprechen“ ihr Versprechen erfüllen oder aus Wohlwollen einem anderen Menschen helfen. Wir denken also an Fälle, in denen diese Gesinnungen als Triebfeder wirken. In diesen Fällen beschreiben die Maximen tatsächlich die Gesinnung, da sie als moralische Triebfeder wirken und auf diese Weise dem Handeln ihren moralischen Charakter einprägen. Die Maxime „Ich will meine Versprechen treu halten“ wirkt als Triebfeder, sobald ich in die Situation komme, ein gegebenes Versprechen zu erfüllen. Sie geht über die bloß einschränkende Funktion hinaus. Dagegen beschreibt die Maxime „Ich will in all meinem Tun ehrlich sein“ bloß die einschränkende Bedingung, nicht aber die Triebfeder jenes Tuns. Die Gesinnung des ehrlichen Kaufmanns, der reich werden will, ist durch die Maxime der Ehrlichkeit nicht vollständig beschrieben. Man kann und muss also jene Maximen, die gebotene Handlungen betreffen, von jenen unterscheiden, die bloß erlaubte Handlungen betreffen. Der moralische Charakter der Handlung wird durch jene Maximen vollständig, durch diese nur unvollständig beschrieben. Doch genau diese Unterscheidung unterlässt Kant.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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