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Um eine Philosophie des Guten: 43. Kants Pflichtbegriff

Immanuel Kant (Gemälde von Johann Gottlieb Becker)

Betrachten wir folgende Aussage Kants: „Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmals aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird“
(GMS 390, 4-8). In dieser Aussage ist die Möglichkeit einer moralischen Maxime, die bloß als einschränkende Bedingung, nicht aber als Triebfeder der Handlungen wirkt, ausgeschlossen, also genau das, was wir in der letzten Folge anhand des Beispiels der Maxime der Ehrlichkeit erläutert haben: Ich kann durchaus aus moralischen Gründen mein moralisch indifferentes Streben nach Reichtum der Bedingung der Ehrlichkeit unterwerfen. Triebfeder eines solchen Strebens ist die Neigung, deshalb hat es keinen moralischen Wert; dennoch ist es dem sittlichen Gesetz gemäß, und zwar nicht, wie Kant meint, zufällig, sondern aufgrund meiner Maxime der Ehrlichkeit. Das Zitat zeigt, dass Kant tatsächlich wie in der letzten Folge behauptet die beiden Funktionen des Gesetzes, die der Einschränkung und die der Triebfeder, nicht genügend unterscheidet. Und erst dieses Versäumnis ermöglicht es ihm, die moralische Gesinnung mit dem Maximengebrauch zu identifizieren. Diese Identifizierung bleibt nicht folgenlos: Sie erst macht den Formalismus möglich, der die moralische Gesinnung auf die Allgemeingültigkeit der handlungsleitenden Maximen reduziert und sie von allem Interesse an der Person des Anderen abtrennt. Und sie lässt Kant das Problem übersehen, wie das Sittengesetz kraft der Maximen überhaupt zur Triebfeder werden kann. Moralische Maximen zu haben, die mein Handeln auf die Bedingung moralischer Erlaubtheit einschränken, bedeutet, wie wir gesehen haben, noch lange nicht, dass sie als Triebfeder des Handelns selber wirken.

Handlungen, die moralisch bloß erlaubt sind, sind keine Handlungen, zu denen ich verpflichtet bin, und das bedeutet: Ich kann sie gar nicht aus Pflicht vollziehen. Der Ausdruck „dem sittlichen Gesetze gemäß“ ist deshalb nicht gleichbedeutend mit „pflichtgemäß“. Er ist weiter, denn er umfasst sowohl die Handlungen, die bloß erlaubt, als auch jene, die geboten, also Pflicht sind. Beide Arten von Handlungen stimmen mit der Autonomie des Willens zusammen, aber nur die pflichtmäßigen sind der moralischen Triebfeder fähig. Nur das, wozu ich auch wirklich verpflichtet bin, kann ich auch „aus Pflicht“ tun.

Ein Grund für Kants Versäumnis liegt in seinem Pflichtbegriff. Das zeigt sich in seinen Ausführungen im Anschluss an das Zitat, mit dem wir die letzte Folge begannen: „Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit bestehen kann, ist unerlaubt“ (GMS IV 439, 26-28). In dieser Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen kommt der Begriff der gebotenen Handlung, also der Pflichtbegriff, nicht vor. Kant führt ihn unmittelbar im Anschluss ein. Schauen wir uns an, wie er das tut: „Der Wille, dessen Maximen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille. Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung) ist Verbindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden. Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“ (GMS 439, 28-34).

Hier bringt Kant den Begriff eines heiligen Willens ins Spiel. Ein solcher Wille ist schlechterdings gut, damit ist gemeint: Seine Maximen stimmen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie, d. i. mit dem Sittengesetz überein. Ihm fehlt die Wahlfreiheit zwischen „gut“ und „böse“. Dass für Kant der Grund der Unfähigkeit zum Bösen in der reinen Geistigkeit eines solchen heiligen Wesens liegt, da demselben mit der sinnlichen Natur auch jede sinnliche Neigung und damit jede alternative Triebfeder zum eigenen Vernunftgesetz fehlt, ist eine weitere fragwürdige These Kants, die uns im gegenwärtigen Zusammenhang nicht zu interessieren braucht. Worauf es jetzt ankommt, ist die Rolle, die die Einführung der Idee eines heiligen Willens für Kants Fassung des Pflichtbegriffs spielt. Denn jetzt erhält dieser eine ganz andere Funktion: Er dient nicht mehr dazu, zwei Arten von Handlungen, nämlich gebotene und (bloß) erlaubte, zu unterscheiden, sondern zwei Arten von Willen, auf die sich das Sittengesetz bezieht. Deshalb gilt nun: Ein und dieselbe Handlung ist für den einen Willen Pflicht, für den anderen nicht. Sie ist nämlich für jenen Willen eine Pflicht, der nicht schon von sich aus mit dem Sittengesetz übereinstimmt. Das gilt für den menschlichen Willen. Denn dieser ist sinnlich affiziert. Diese Zugänglichkeit des Willens für die sinnliche Triebfeder, für empirische Interessen, ist dafür verantwortlich, dass er nicht von vorneherein mit dem Sittengesetz übereinstimmt, sondern vielmehr stets in einer Spannung steht zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, zwischen Neigung und Pflicht. Insofern er sinnlich affiziert ist, bedeutet für ihn deshalb das Sittengesetz ein Sollen; es hat die Form eines Imperativs, weil der Wille erst in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz gebracht werden muss. Der Pflichtbegriff setzt für Kant deshalb einen sinnlichen Widerstand, eine Gegenneigung gegen das Pflichtgemäße voraus. Wie aber kann der Wille mit dem Sittengesetz in Übereinstimmung gebracht werden? Er kann es nur selbst tun, indem er sich ihm unterwirft. Kant verknüpft den Pflichtbegriff mit diesem Unterwerfungsgestus. Der Wille eines heiligen Wesens, also z. B. Gottes, muss sich dem Gesetz nicht unterwerfen, weil er immer schon dort ist, wohin sich der menschliche Wille erst bringen muss, nämlich in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz. Für ihn hat deshalb das Gesetz nicht den Charakter eines Sollens, eines Imperativs, eines Gebotes, einer Pflicht. Er muss nicht moralisch genötigt werden. Dem Unterwerfungsgestus auf Seiten des Willens entspricht der Nötigungscharakter auf Seiten des Gesetzes. Kant spricht sogar von Zwang. So schreibt er z. B.: „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz“ (MST 379, 15 f). Es handelt sich dabei um einen Selbstzwang, vgl. z. B. KpV 83, 32 f.: „Selbstzwang, d. i. innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut.“ Das kann man sich leicht an einem Bild klarmachen: Wenn ich bergauf gehe, muss ich mich selber dazu zwingen, weil ich die in die entgegengesetzte Richtung wirkende Schwerkraft überwinden muss. Bergab dagegen geht es gleichsam von allein.

Wir merken sofort: Hier hat der Pflichtbegriff eine andere Funktion als jene, erlaubte von gebotenen Handlungen zu unterscheiden. Aus der „Pflicht“ als einem Eigenschaftsbegriff wird ein Relationsbegriff. Er dient nicht mehr der Unterscheidung verschiedener Arten von Handlungen, sondern bezeichnet „das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen“ (GMS 413, 13 f.), nämlich zu einem Willen, der nicht schlechterdings gut ist. Dadurch kommt Kant das Kriterium für jene Unterscheidung abhanden. Denn die Unterscheidung zwischen (bloß) erlaubten und gebotenen Handlungen ist gegenüber der Frage, was für ein Wille diese Handlung vollzieht, indifferent.

Nehmen wir als Beispiel die Mutter eines kleinen Kindes: Sie hat die Pflicht, für ihr Kind zu sorgen, nicht aber, ein schönes Hobby zu pflegen. Die eine Handlung ist geboten, die andere bloß erlaubt. Beide Handlungen bestehen, wie Kant es ausdrückt, mit der Autonomie des Willens zusammen, beide sind gesetzesmäßig. Aber nur die erste Handlung kann auch aus Pflicht vollzogen werden; die zweite nicht, weil sie gar keine Pflicht ist. Sie stimmt mit dem Sittengesetz als einem Erlaubnisgesetz überein. Das sicherste Erkennungsmerkmal, um gebotene von bloß erlaubten Handlungen zu unterscheiden, besteht in der Frage: Ist die Unterlassung erlaubt? Bei einer bloß erlaubten Handlung ist sie erlaubt, bei einer gebotenen Handlung unerlaubt. Wenn die Mutter es versäumt, für ihr Kind zu sorgen, missachtet sie das Sittengesetz; wenn sie ihr Hobby aufgibt, missachtet sie es nicht. Diese Unterscheidung betrifft den Charakter der Handlung selbst und hat nichts mit der Kantischen Unterscheidung ihrer Beziehung zu einem sinnlich affizierbaren Willen einerseits, zu einem heiligen Willen andererseits zu tun. In beiden Fällen geht es ja um den sinnlich affizierbaren Willen der Mutter. Es ist eine Unterscheidung innerhalb des Falles, der die Beziehung des Gesetzes zu einem nichtheiligen Willen betrifft.

Umgekehrt hebt die Beziehung zu einem heiligen Willen diese Unterscheidung nicht auf. Selbst wenn die Mutter einen heiligen Willen hätte, wäre für sie die Sorge um das Kind eine Pflicht, und zwar gemäß dem Pflichtbegriff, der diese Handlung von einer bloß erlaubten unterscheidet. Auch für eine heilige Mutter wäre die Unterlassung der Handlung unerlaubt. Dass diese Unterlassung für einen heiligen Willen nicht in Frage kommt, ändert nichts an diesem Sachverhalt. Die Frage, ob eine Handlung vom Sittengesetz in einer Weise gefordert ist, dass ihre Unterlassung moralisch verwerflich ist, hat nichts mit der Frage zu tun, ob der Wille, mit dem die Handlung vollzogen wird, heilig ist oder nicht. Diese Unterscheidung eines heiligen von einem nicht-heiligen Willens sagt nur etwas über dessen Verhältnis zum Gesetz aus, nicht aber etwas über die Handlung selbst und die moralische Qualität ihrer Unterlassung. Sie berührt deshalb nicht die Unterscheidung zwischen gebotenen und bloß erlaubten Handlungen. Man kann zum Beispiel sagen: Eine Mutter hat die Pflicht, für ihr kleines Kind zu sorgen – unabhängig davon, ob ihr Wille heilig ist oder nicht. Wenn ihr Wille heilig ist, entfällt bloß der Nötigungscharakter der Pflicht, ohne aber jenen Handlungsunterschied aufzuheben. Auch für eine heilige Mutter gilt: Sie darf ihr Hobby aufgeben, nicht aber die Sorge für ihr Kind. Indem Kant den Pflichtbegriff an den Nötigungscharakter bindet, wird sein Pflichtbegriff untauglich zu jener Unterscheidung, und diese fällt infolgedessen bei Kant unter den Tisch.

Es ist ja auch interessant zu sehen, dass Kant den aristotelischen Gedanken einer zweiten Natur, die durch die Tugend erreicht wird, nirgends entfaltet – wiewohl es manchmal scheint, dass er ihn in den Blick bekommt. Eine gute, tugendhafte Mutter sorgt für ihr Kind von selbst, mit Neigung, ohne durch den Pflichtgedanken dazu genötigt werden zu müssen. Insofern könnte man ihren Willen partiell heilig nennen: Er muss sich nicht erst dem Gebot unterwerfen. Denn es gehört zur zweiten Natur einer tugendhaften Mutter, in dieser Beziehung das Gute zu tun. Ihr Wille kommt gewissermaßen der Forderung des Gesetzes zuvor. Er bedarf nicht der Nötigung durch das Gesetz. Friedrich Schiller schon hatte diesen Einwand gegen Kant erhoben, ohne dass dieser etwas substanziell Neues darauf geantwortet hätte. Aber durch die Tugend der Mutter verwandelt sich ihre Pflicht, für das Kind zu sorgen, nicht in eine fakultative Handlung. Sie hat diese Pflicht, egal ob sie es gerne tut oder nicht, egal ob mit, ohne oder gegen Neigung, egal ob aufgrund mühsamen Selbstzwanges oder mühelos aufgrund ihrer zweiten Natur.

Wir sehen also: Infolge der Verwandlung des Pflichtbegriffs in einen Relationsbegriff fehlt Kant nun das adäquate Kriterium, um gebotene und bloß erlaubte Handlungen zu unterscheiden. Damit zusammen hängt sein besprochener Mangel an Unterscheidung zwischen den beiden erwähnten Funktionen des Sittengesetzes, der einschränkenden und der den Willen bestimmenden Funktion – mit allen Konsequenzen.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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