Die zweite Begriffsbestimmung, die Stephan Goertz von der Autonomie gibt, behauptet “die Eigenständigkeit der ethischen Reflexion praktischer Vernunft über Gut und Böse gegenüber allen anderen Weisen menschlicher Erkenntnis”. “Eine Beschreibung ist noch keine Beurteilung, eine wissenschaftliche Erkenntnis noch keine sittliche Einsicht” (S. 165). Dem kann man nur zustimmen.

Allerdings bleibt rätselhaft, warum er an dieser Stelle ausgerechnet Aristoteles als Zeugen anführt. Aristoteles kennt eine eigenständige, von Erfahrung unabhängige Werterkenntnis und Sollenserfahrung gerade nicht, und zwar deshalb, weil sein Eudämonismus die ethischen Tugenden wenn nicht ausschließlich, so doch von seinem Ansatz her primär in ihrem instrumentellen Wert zur Erreichung einer hauptsächlich außermoralisch gedachten Vollendung des Menschen konzipiert. Das Gute wird von Aristoteles als das für den Menschen Zuträgliche gedacht, und dessen Erkenntnis ist Erfahrungssache. Dafür zuständig ist die Klugheit, die Phronesis. Tatsächlich verweist Goertz auf die Passage 1142a der Nikomachischen Ethik, wo die Tätigkeit der Klugheit beschrieben wird. Diese Tätigkeit ist ganz und gar abhängig von vielfacher theoretischer Erkenntnis, und zwar so sehr, dass sie sicheres Wissen gar nicht erreichen kann. Wissen gibt es für Aristoteles nur vom Allgemeinen, die Klugheit aber bezieht sich auf das Einzelne. Dieses Konzept ethischer Einsicht stellt geradezu den Antipoden zu Kants Auffassung dar, der um der strengen Allgemeingültigkeit moralischer Urteile willen die Erkenntnis des Sittengesetzes von aller Erfahrung unabhängig machen will. Deshalb haben für Kant “alle sittliche Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung” (GMS AA IV, 411). Moralische Urteile sind synthetische Urteile a priori, also das extreme Gegenteil der aristotelischen Klugheit. Deshalb hält Kant ja auch eine “Metaphysik der Sitten” für möglich. “Metaphysik”ist für Kant Erkenntnis aus reiner Vernunft. “Rein” heißt hier: ohne Beimischung von Empirie. Kants Idee der Autonomie, der Selbstgesetzgebung der Vernunft, dient nicht zuletzt der Sicherstellung dieser Apriorität: Sie geht aller Erfahrung voraus. Auf diesem Hintergrund vermehren sich die Zweifel, ob Goertz klare Begriffe von dem hat, worüber er schreibt.

Die Eigenständigkeit der ethischen Reflexion ist eine Konsequenz des Humeschen Gesetzes (siehe Folge 13), wie Goertz richtig erkennt, wenn er schreibt, dass “theoretisches Wissen über die Gesetzmäßigkeiten unseres Handelns” uns noch nicht sage, “wie wir handeln sollen.” Diese Erkenntnis scheint er an anderer Stelle (‘Nein’ zur Segnung? Der Vatikan wird nicht mit Gehorsam rechnen können, gemeinsam mit Magnus Striet) allerdings zu vergessen, wenn er der kirchlichen Morallehre vorwirft, Ergebnisse der Humanwissenschaften zu ignorieren. Zu diesen Ergebnissen zählt er die Tatsache, dass es “ein Spektrum von sexuellen Orientierungen” gebe. Die Rechtfertigung des der Kirche angesonnenen Sprungs von der theoretischen Erkenntnis dieser Tatsache zur Beurteilung ihrer Moralität bleibt er schuldig.

Die Eigenständigkeit der ethischen Reflexion liegt in der Eigenständigkeit der moralischen Wirklichkeit begründet, also genau in jenem Umstand, der den naturalistischen Schluss zu einem Fehlschluss macht (siehe Folge 12). Keine wie auch immer geartete theoretische Erkenntnis kann die Sollenserfahrung ersetzen.

Goertz bringt dazu schöne Zitate zweier bedeutender Zeugen, des Philosophen Leibniz und des Kirchenvaters Johannes Chrysostomus. Von Leibniz zitiert er diese Erkenntnis: “Denn warum soll man ihn [sc. Gott] dafür loben, daß er der Gerechtigkeit gemäß handelt, wenn der Begriff der Gerechtigkeit bei ihm nichts zu dem der Handlung hinzufügt? Sagte jemand : »Stat pro ratione voluntas!« mein bloßer Wille dient mir als Grund, so wäre dies geradezu der Wahlspruch eines Tyrannen. Außerdem ließe sich bei dieser Definition Gott kaum mehr vom Teufel unterscheiden” (Meditation sur la notion commune de la justice, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Teil II, hg. von Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 1996, 663. Goertz zitiert aus der Ausgabe von 1906).

Leibniz zeigt hier, dass der Begriff der Gerechtigkeit vom Gottesbegriff unabhängig ist. Wir wissen schon, was Gerechtigkeit ist, bevor wir erkennen, ob Gott existiert oder nicht, und damit auch schon, bevor wir erfahren, was Gott von uns will. Goertz paraphrasiert Leibniz deshalb korrekt, wenn er schreibt: “Wofür sollte man die Gerechtigkeit Gottes loben und wofür sollte man Gott lieben, wenn uns Gottes Gerechtigkeit nicht als Gerechtigkeit, seine Liebe nicht als Liebe begegnen würden.” Wenn aber eine vom Gottesbegriff unabhängige Werterkenntnis möglich ist, dann deshalb, weil der moralische Wert eine eigene Wirklichkeit ist, eine Wirklichkeit sui generis. Folglich ist auch das Urteil, Gottes Handeln sei gerecht, ein synthetisches. Daraus folgt, dass die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes nur dann als Grund unserer Moralität gelten kann, wenn dieser Wille schon zuvor als gerecht (und darüber hinaus als moralische Autorität) gedacht wird. Die Moralität einer Handlung kann folglich nicht definiert werden als Übereinstimmung mit einem göttlichen Willen. Der moralische Wert ist, was er ist, und kein anderes Ding. Das schließt aber nicht aus, dass die liebende Übereinstimmung mit dem Willen Gottes im Hinblick auf die Wertverwirklichung dieselbe Rolle spielt wie bei Kant die Achtung vor dem Sittengesetz: Bei Kant wird der Wille gut durch die Achtung vor dem Sittengesetz, im Christentum durch die Liebe zu Gott. Beide können gleichzeitig nur dann Recht haben, wenn Gott das Sittengesetz in Person ist. Das ist meiner Überzeugung nach der Fall.

Goertz macht also einen Fehler, wenn er aus der Eigenständigkeit der ethischen Reflexion auf die moralische Irrelevanz des geoffenbarten Willens Gottes schließt. Denn der von ihm zu Recht zurückgewiesene Versuch, den Begriff der Moralität allererst aus einem göttlichen Willen zu generieren, ist völlig verschieden von der Anerkennung der normativen Autorität eines göttlichen Willens aufgrund von dessen intrinsischen Heiligkeit. Denn es ist die Heiligkeit, die seinen Willen definiert, nicht umgekehrt.

Die Frage des Zusammenhangs zwischen Moralität und göttlichem Willen diskutierte bereits Platon. Leibniz erwähnt die Politeia, aber noch expliziter finden wir die Frage im Euthyphron: “Wird das Fromme von den Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es fromm, weil es geliebt wird?” Wäre das Fromme, also das Gute, von Gottes Wille abhängig, dann fiele, wie Leibniz oben bemerkt, das Kriterium hinweg, das uns erlauben würde, Gott von einem allmächtigen Teufel zu unterscheiden. Denn dieses Kriterium kann nur ein Gerechtigkeitsbegriff sein, der dem Begriff eines allmächtigen Willens noch etwas hinzufügt, also einer eigenen Realität entspricht. Das ist die Auffassung des Realismus im Gegensatz zum Nominalismus, der das Wesen des Guten auflöst. Mit den Worten von Leibniz lautet die Alternative, ob “die Gerechtigkeit oder die Güte etwas Willkürliches sind, oder ob sie in den notwendigen und ewigen Wahrheiten der Natur der Dinge ihren Bestand haben” (l.c. 663). Der nominalistische Gottesbegriff endet in der Vorstellung eines Willkürgottes, der zum Beispiel nach Belieben auserwählt und verdammt, weil er an kein Sittengesetz gebunden ist. Seine Gebote bestimmen, was der Mensch als gut und böse anzusehen hat. Würde Gott z.B. das Lügen gebieten, dann wäre Lügen eben gut. Historisch stellte dieser Nominalismus im Spätmittelalter eine Auflösungserscheinung der Scholastik dar und stand Pate für das Gottesbild der Reformatoren. Mit dem nominalistischen Gottesbild hat die katholische Lehre, dergemäß die Güte und Heiligkeit mit dem Wesen Gottes zusammenfällt, nichts zu tun. Es ist deshalb geradezu grotesk, wenn Goertz versucht, die Enzyklika Veritatis splendor in die Nähe eines solchen Nominalismus zu rücken, und ihr eine Auffassung ähnlich der von John Locke unterstellt, laut derer Atheisten keinen Grund hätten, moralisch zu sein, da moralische Gebote nur als göttliche Gesetze verpflichtend seien (172).

Trotz der geschilderten Übereinstimmung zwischen Leibniz und Goertz gibt es einen Punkt, in dem Leibniz’ Erkenntnis Goertz widerspricht: Gerechtigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Wird Gerechtigkeit als moralische Norm anerkannt, ist es um die den Goertzschen Autonomiebegriff bestimmende Monopolstellung der Freiheit geschehen. Goertz scheint dies zu bemerken. Deshalb bereitet er die Zitation Leibniz’ mit der Bemerkung vor: “Nur ein sich selbst als vollkommenes moralisches Wesen offenbarender Gott, also ein freier und befreiender Gott, kann als guter und gerechter Gott in menschlicher Autonomie anerkannt werden” (Hervorhebung von mir). Hier suggeriert Goertz, dass die moralische Gutheit darin besteht, frei zu sein und zu befreien, Moralität sich also in der Achtung vor der Freiheit erschöpft. Nur durch diese Engführung des Gerechtigkeitsbegriffs kann er die Erkenntnis Leibniz’ in den Dienst seiner Autonomie-Apologetik stellen, die Leibniz selber völlig fremd ist. Aus dem von Leibniz beschriebenen Sachverhalt geht hervor, dass die Gerechtigkeit (sei es die Gerechtigkeit im engeren Sinne als spezielle Tugend , sei es die Gerechtigkeit als Inbegriff der Moralität) nicht durch die Freiheit definiert wird, sondern jene Instanz ist, die sagt, wie Freiheit gebraucht werden soll. Sie ist die Norm für die Betätigung der Freiheit, und zwar eine Norm von solch strenger Allgemeingültigkeit, dass sie uns sogar das Handeln Gottes zu beurteilen erlaubt. Wenn das nun schon für die Freiheit Gottes gilt, um wie viel mehr für die des Menschen! Die Moralität ist nicht um der Freiheit willen, sondern die Freiheit um der Verwirklichung des Guten willen da. Mit Kant müssen wir die unverlierbare Würde des Menschen gerade in seiner Moralfähigkeit sehen, und seine Autonomie in verwirklichter Moralität, in jener Rechtschaffenheit, vor dem sich laut Kant der Geist bückt, er mag wollen oder nicht (KpV AA V, 77).

Die fatale Umkehrung des Verhältnisses zwischen Moralität und Freiheit wird auch deutlich in der Aussage von Goertz: “Moral setzt stattdessen an der Freiheitserfahrung des Menschen an und buchstabiert diese normativ aus” (166). Nach Kant steht dagegen am Anfang nicht die Freiheits-, sondern die Sollenserfahrung. Das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi der Freiheit, die Bedingung, “unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können” (KpV AA V, 4). Der Einzelne wird sich seiner Freiheit nur bewusst als einer aufgerufenen. Quelle dieses Rufes ist die Vernunft, deren Natur der Freiheit des Einzelnen vorgegeben ist (siehe Folge 25). Die Freiheit erfährt sich als eine solche, die dem Anspruch des Sittengesetzes ausgesetzt ist, ob sie will oder nicht. Und nur in dem Maße, wie sie diesem Anspruch entspricht, wird aus Willkürfreiheit Autonomiefreiheit.

Kommen wir zu Goertz’ zweitem Kronzeugen. Den hl. Johannes Chrysostomus zitiert Goertz nach Theo Kobusch: “Warum hat Gott den Geboten am Sinai keine Begründung beigefügt? Warum stehen in der Heiligen Schrift nackte Imperative? So fragt in der Spätantike der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus. Seine verblüffende Antwort: Eine Begründung ist überflüssig, wir Menschen wissen um den Sinn der Gebote, Gott antizipiert unser Gewissen.”

Das hier thematisierte Verhältnis der sittlichen Einsicht zum Gottesgedanken ist dasselbe wie bei Leibniz. Darüber hinaus hebt hier Goertz mit Chrysostomus besonders auf die unmittelbare Einsichtigkeit der grundlegenden moralischen Gebote ab. In Folge 5 hatten wir uns an dem von Bochenski angeführten Beispiel von der sich selbst genügenden Evidenz sittlicher Grundnormen überzeugen können. Diese Evidenz ist aber eine Folge der Selbstgegebenheit und damit der Vorgegebenheit dieser Gebote (vorgegeben der Erkenntnis und dem Willen des einzelnen Menschen mit all dessen kontingenten Interessen und Neigungen). Dann aber sind sie nicht das selbstgewählte Produkt einer individuellen Freiheit. Man muss sich schon entscheiden, ob man einem Dezisionismus oder einem Kognitivismus huldigt. Wenn Veritatis splendor auf die göttliche Autorität moralischer Gebote abhebt, spielt Goertz die kognitivistische Karte, indem er das Handeln aus sittlicher Einsicht gegen das Handeln aus Gehorsam ausspielt (172). Rekurriert die Enzyklika auf die Natur, um im Sinne des Naturrechts die Normen einsichtig zu machen, spielt Goertz die dezisionistische Karte, indem er die Vorgegebenheit der Gebote leugnet und der Enzyklika unterstellt, das Absolute in einzelnen normativen Sätzen gerinnen zu lassen (175). Diese Normen sind ihm vor allem im Bereich der Sexualethik ein Dorn im Auge. Wahrscheinlich ist ihm gar nicht bewusst, wie sehr er sich dadurch in Gegensatz zu seinem Kronzeugen setzt, der an der von ihm angeführten Stelle im Original sich so anhört: “Was ist nun wohl dieses natürliche Gesetz? Er hat uns das Gewissen gegeben und eine angeborene Erkenntnis des Guten und Bösen verliehen; denn wir brauchen es nicht erst zu lernen, daß die Hurerei etwas Böses und die Keuschheit etwas Gutes sei, sondern wir wissen dieses vom Anfange her” (Ad populum Antiochenum, homil. 12, 3, zitiert BKV, Kempten 1874).

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