19. Januar 2021
Worin besteht die höchste Vollkommenheit des Menschen? Als Christen würden wir vielleicht sagen: in der Heiligkeit oder in der vollendeten Gottes- und Nächstenliebe. Thomas von Aquin sagt: im Glück, in der beatitudo. Um genauer zu sein, muss ich mich aber sofort korrigieren: Bei ihm läuft die Identifizierung in die umgekehrte Richtung. Es ist das Glück, von dem er aussagt, dass es die höchste Vollkommenheit sei: "Est enim beatitudo ultima hominis perfectio" (I–II 3, 2).
So formuliert, können wir den Gedanken schon eher nachvollziehen. Wenn der Sinn sein soll: "In der Vollkommenheit liegt unser Glück", also: "Die Vollkommenheit ist der Garant unseres Glücks, sie macht uns glücklich", dann haben wir es zwar mit einer optimistischen These zu tun, die noch der überzeugenden Begründung harrt, aber wir können sie immerhin als eine sinnvolle Antwort auf die Frage verstehen, worin unser Glück besteht. Die umgekehrte Identifizierung, nämlich dass die Vollkommenheit im Glück bestehe, ist dagegen kontraintuitiv. Diese These würden wohl die wenigsten von uns unterschreiben. Dies zeigt, dass der Satz des hl. Thomas nicht im Sinne einer strengen Identität gelesen werden darf. "Glück" und "Vollkommenheit" sind keine austauschbaren Begriffe. Das "Glück" begrifflich mit der "Vollkommenheit" zu identifizieren, wäre in Bezug auf den Begriff des "Glücks" ein vergleichbarer Fehler wie der naturalistische Fehlschluss in Bezug auf den Begriff des Guten.
Aber die Sache ist nun doch noch etwas komplizierter. Denn das über das "Glück" Gesagte gilt für die Bedeutung, die das Wort "Glück" im Deutschen hat. Denn im Deutschen fassen wir "Glück" als einen psychischen Zustand der Freude und Zufriedenheit auf, als ein Gefühl. Dem entspricht im Lateinischen der Begriff der delectatio. Diese delectatio (Freude) ist für Thomas eine Frucht der beatitudo (Glück), nicht diese selbst. Die beatitudo besteht ihrerseits nicht in einem Gefühl, sondern in einer operatio, in einer Tätigkeit, und zwar in jener Tätigkeit, wodurch das höchste Vermögen des Menschen, nämlich der intellectus, zur Vollendung kommt, also vervollkommnet wird. Dieses Konzept hat Thomas von Aristoteles übernommen. Bei Aristoteles besteht diese Tätigkeit des Intellekts in der theoria, in der Betrachtung der Wahrheit, wie sie der Philosoph hier auf Erden pflegt, bei Thomas in der visio beatifica, in der Schau Gottes im Himmel.
Wir haben schon in Folge 3 gesehen, dass durch diese Objektivierung, also durch die Entpsychologisierung des Begriffs der eudaimonia (im Lateinischen der beatitudo), es leichter fällt, diesen Begriff normativ aufzuladen. Dass man nicht nur de facto nach dem Glück strebt, sondern dieses Streben auch als etwas Wertvolles, Gutes und Gesolltes empfindet, wird dann verständlich, wenn man mit dem Glücksbegriff den der Vervollkommnung, zu der wir, sei es von Natur, sei es von Gott, gerufen sind, konnotiert. Vertreter dessen, was ich einen aufgeklärten Eudämonismus genannt habe, wie z.B. Spaemann, der deshalb "eudaimonia" lieber mit "gelungenes Leben" statt mit "Glück" übersetzt, sind sich dessen bewusst. In dem Moment, in dem man dagegen von einem nicht normativen Begriff des Glücks ausgeht, um aus ihm erst die Normativität zu generieren, verfällt man dem naturalistischen Fehlschluss.
Das Problem ist, dass sowohl Aristoteles wie auch Thomas von dem streng universellen Urteil ausgehen: Alle Menschen streben nach Glück. Dieses Urteil kann nur dann richtig sein, wenn in ihm der Begriff des Glücks wertneutral ist. Nur so können auch moralisch schlechte Handlungen darunter fallen. Die nachträgliche unreflektierte Identifizierung des Glücks mit normativen Gehalten, wie sie z.B. im Begriff der perfectio konnotiert sind, bedeutet die Erschleichung einer normativen Aufladung, die das Kennzeichen eines unaufgeklärten Eudämonismus ist, der sich dann über die eigene Verfehlung des Moralischen hinwegtäuscht. Spaemann schreibt zurecht, dass der Eudämonismus "immer nur zu hypothetischen Klugheitsregeln [führt], welche die Unbedingtheit des Sittlichen verschwinden lassen" (Glück und Wohlwollen, Vorwort). Viele Thomisten haben dieses Problem erkannt und auf verschiedene Weisen versucht, dem eudämonistischen Ansatz des Aquinaten zu Hilfe zu kommen, um ihn vor dem Vorwurf des Eudämonismus zu schützen.
Es gibt aber auch Thomisten, die von diesem Problem unbeeindruckt sind, so etwa der berühmte A. D. Sertillanges 1863-1948), der – in seinem großen Thomasbuch S. Thomas d'Aquin, 1910) – ganz auf der beschriebenen Linie die intellektualistisch gefasste beatitude (von Robert Grosche mit Seligkeit übersetzt) mit dem höchsten Gut des Menschen und seiner Vollendung identifiziert und trotz aller Auseinandersetzung mit der kantischen Kritik derart zum sittlichen Prinzip macht, dass er sich den Vorwurf des Eudämonismus von Seiten Hans Reiners (1896-1991) gefallen lassen muss (1963 im Sammelband Sein und Ethos, hg. von Paulus Engelhardt), meines Erachtens zu Recht. Ein Beispiel aus der Gegenwart, auf das ich näher eingehen will, ist das Buch Natürliche Ethik von Rafael Hüntelmann (Editiones Scholasticae 2017). Ganz ungeniert formuliert er die Fragestellung, mit der es die Ethik zu tun habe, eudämonistisch: "Was muss ich tun, um wahrhaft glücklich zu werden?" (S. 7): also Ethik als eine Art Glücksratgeber auf philosophischem Niveau.
Dementsprechend operiert er mit einem Begriff des Guten, der relational auf das Glück des Menschen bezogen und beschränkt bleibt: Es geht um das, "was gut für uns ist" (S. 11). Und das wiederum hängt von der Natur des Menschen ab. Diese "bildet den ontologischen Hintergrund" (S. 22) der Ethik, wie Hüntelmann sie versteht und die er deshalb "natürliche Ethik" nennt. Zur Natur des Menschen gehört seine teleologische Struktur. Das sind die Pieperschen Seinsneigungen, oder in den Worten Hüntelmanns: "innere Vermögen, Kräfte, Neigungen, Dispositionen oder wie wir dies auch immer bezeichnen wollen" (S. 28). Thomas spricht von inclinationes (S. 28). Sie sind auf "inhärente Finalursachen" (S. 23) ausgerichtet. Die Bestimmung, welches diese Finalursachen sind, liegt nicht in unserem Ermessen, sondern ist durch die Natur des Menschen vorgegeben. Hüntelmann wird nicht müde, auf diese Weise den objektiven Charakter des Guten herauszustellen. Aber es ist und bleibt natürlich nur ein "Gut für uns". "Nach aristotelisch-thomistischer Auffassung kann das, was wirklich gut für uns ist, in einer objektiven (...) Perspektive festgestellt werden" (S. 29). Damit glaubt er, "einen moralischen Begriff des Guten" (S. 17) gewinnen zu können. Eine Handlung ist demzufolge moralisch gut, wenn sie "dem Wesen des Menschen entspricht", sie ist "schlecht oder böse", wenn sie "dem Wesen des Menschen widerspricht" (S. 23).
Hier können wir beobachten, dass der moralische Wert als solcher nicht in den Blick kommt. Gemäß dieser Konzeption ist der Begriff des Guten an den der menschlichen Natur gebunden, so dass es folglich unmöglich wird, ihn von Gott auszusagen. Dass Gott gut ist und gut handelt, wird zu einer unsinnigen Aussage, wenn die Übereinstimmung mit der menschlichen Natur zur Bedeutung des Begriffs "gut" gehört. Ja nicht einmal in einem analogen Sinne könnte man von Gott die Gutheit aussagen, da es in Gott, der actus purus ist, keinerlei Potenzialität gibt, also auch keine teleologisch strukturierte Natur, die auf irgend etwas als ihr Gut aus ist. In Gott gibt es keine Seinsneigungen und kein Streben. Wenn Gott handelt, dann nicht, um ein Gut zu erreichen, nach dem er strebt. Der Begriff des bonum, den die Strebensethik kennt, hat hier keinen Platz. Gott will und braucht keine Selbstverwirklichung, wie das beim Menschen der Fall ist, wenn er nach dem Guten strebt.
Zurecht nennt Hüntelmann "die Vervollkommnung des Menschen als Menschen" "eine recht verstandene Selbstverwirklichung" (S. 30), und das höchste Gut ist eben jenes, das seine rationale Natur vervollkommnet. Das ist ganz und gar aristotelisch. Aber wenn wir sagen, dass Gott gut ist und gut handelt, dann geht es in keiner Weise um eine Vervollkommnung Gottes. Der Begriff des "Guten", den Hüntelmann etabliert, kann in keiner Weise auf Gott angewandt werden.
Schon um die vorletzte Jahrhundertwende gab es eine innerscholastische Kontroverse über diesen Punkt. Victor Cathrein (1845-1931) definierte wie Hüntelmann die sittliche Güte als "convenientia ad naturam humanam", was Joseph Mausbach (1861-1931), der die Problematik eines solchen Begriffs des Guten im Hinblick auf Gott erkannte, so erfolgreich bestritt, dass sein Standpunkt nach seinen eigenen Angaben "wohl auch bei den meisten Fachgenossen Anerkennung" fand (zitiert in: Rupert Grill, Wegbereiter einer erneuerten Moraltheologie, 2008). Davon erfährt man bei Hüntelmann nichts.
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