8. Juni 2021
Ein Kennzeichen von Genialität ist die Kunst, scheinbar mühelos mit wenigen Pinselstrichen ein Gemälde hinzuzaubern, wozu der gewöhnliche Künstler ein Vielfaches an Zeit und Schweiß aufwendet. So finden wir bei Robert Spaemann Sätze, die blitzartig Sachverhalte auf den Punkt bringen, die darzulegen andere Philosophen viele Seiten brauchen. Einer dieser Sätze ist: “‘Wir brauchen Werte’, heißt es. Aber solange Werte etwas sind, was man braucht, und nicht etwas, was darüber entscheidet, was man braucht, ist in Wirklichkeit von etwas anderem die Rede als von dem, wovon Scheler sprach” (Daseinsrelativität der Werte, in: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, S. 147).
Aber natürlich lebt die Erleuchtungs- und Überzeugungskraft solcher Sätze auch von der Kraft der Reflexion, die den Gedanken vorbereitet und geboren hat. Ohne deren Nachvollzug geraten wir allzu schnell in die Gefahr, sie misszuverstehen. Ein Missverständnis bezüglich des zitierten Satzes könnte in der trivialen Meinung bestehen, dass doch einfach unsere elementaren Lebensbedürfnisse darüber entscheiden, was wir brauchen und demzufolge als wertvoll empfinden. Dies würde jener psychologistischen Fassung des Wertbegriffs entsprechen, die wir bei Schweppenhäuser und Schlüter kritisiert haben (siehe Folge 17) - und die Spaemann selber kritisiert als Folge einer materialistischen Naturauffassung, die für Werte nur noch Platz lässt in Form von menschlichen Wertschätzungen, die der Natur von außen übergestülpt werden. Die Rede von Werten dient gemäß Spaemann in diesem Fall der Kompensation der “neuzeitlichen Reduktion des Seins auf bloßes Vorhandensein” (S. 146). Werte sind dann, so könnte man hinzufügen, der hilflose Versuch, den Verlust wettzumachen, den jener Prozess verursachte, den Max Weber die Entzauberung der Welt nannte.
Doch Spaemann sieht klar, dass dieser heute gängige Wertbegriff nicht derjenige Max Schelers ist. Dieser ermöglichte vielmehr im Gegenteil “eine gedankliche und begriffliche Ausdifferenzierung mit theoretisch bedeutendem Gewinn” (S. 146), indem er jene Qualität thematisiert, die ein “ens” (Seiendes) zu einem “bonum” (Gut) macht und damit “die klassische Formel ‘omne ens est bonum’ über den Status einer Leerformel” erhebt. Die Schelerschen “Werte können nicht gleichgesetzt werden mit Gütern, weil sie die Formalobjekte sind, unter denen allererst Dinge als Güter erscheinen können” (S. 146). Schelers Wertethik bedeutet somit nicht nur die Überwindung von Kants Formalismus, sondern hebt die klassische Güterethik auf ein neues Reflexionsniveau. Die Güterethik kann keine streng allgemeingültigen Moralprinzipien etablieren, weil sie dieselben von empirischen Gütern und damit von kontingenten Sachverhalten abhängig macht. Kants Verdienst der Widerlegung einer jeden Güterethik wird von Scheler anerkannt. Der Unterschied liegt in der Fassung des die Universalität ermöglichenden Apriori: bei Kant ist es “die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß” (KpV AA V 33), bei Scheler sind es die apriorischen Wertsachverhalte. Die Werte werden nach Scheler nicht a posteriori aus Gütern abstrahiert, sondern sind einer phänomenologischen Wesenseinsicht in Form eines Wertfühlens zugänglich, die das ermöglicht, was Kant synthetische Urteile a priori nennt. Die in diesem Sinne apriorische Werterkenntis erlaubt uns die moralische Beurteilung empirischer Güter und unserer Handlungen in Bezug auf sie. Dass z.B. Ehrlichkeit etwas moralisch Gutes ist, lernen wir nicht empirisch aus der Beobachtung und Verallgemeinerung moralischen Verhaltens. Im Prinzip sah Kant es ebenso wie Scheler, wenn er meint, dass wir zum moralischen Urteil über empirisches menschliches Verhalten dadurch gelangen, dass wir Letzteres mit der moralischen Vernunftidee vergleichen, d.h. mit dem in unserer Vernunft liegenden Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (RGV AA VI 119). Insofern die Rede vom Urbild material mehr impliziert als die bloße formale “Tauglichkeit” einer Maxime “zum allgemeinen Gesetze” (MS AA VI 214), darf sie als ein Indiz dafür gewertet werden, dass Kant selber seinen Formalismus nicht konsequent durchhalten kann. Denn über ein solches Urbild zu verfügen, mit dem wir tatsächliches Verhalten zum Behuf von dessen moralischer Beurteilung vergleichen, bedeutet anderes und mehr als die bloße Anwendung des kategorischen Imperativs zur Erprobung der Gesetzestauglichkeit einer Maxime. Auch unabhängig von solcher Erprobung sind wir uns moralischer Werte gewiss. Dass Kant sie voraussetzt, an entscheidenden Stellen erwähnt, ihnen aber nirgends explizit den ihnen zustehenden systematischen Ort in seiner Philosophie zuweist, hat ihm den Vorwurf eines “naiven Wertglaubens” eingebracht: “Dieser Gebrauch des Wertbegriffs (und er könnte durch eine Fülle von Stellen weiter belegt werden) ist bei Kant im strikten Sinne ‘naiv’, d.h. einer Sphäre des vorphilosophischen, noch durch nichts erschütterten und zur Reflexion veranlaßten personalen Existenzvollzuges entstammend” (Balduin Schwarz, Die Wertphilosophie Dietrich von Hildebrands, in: Die Münchener Phänomenologie, Den Haag 1975, S. 126). Eine der Stellen, die Schwarz als Beleg anführt, ist Kants Rede vom absoluten Wert als Grund des kategorischen Imperativs (GMS AA IV 428). Von absolutem Wert kann, wie Kant richtig sieht, nur etwas sein, das als Zweck an sich selbst existiert, im Gegensatz zum bloß bedingten Wert alles dessen, was Gegenstand unserer Neigungen ist und nur aufgrund dieser Neigungen von uns als Zweck unserer Handlungen gewählt wird. Alles, was wir nur deshalb brauchen, weil wir eine Neigung dazu haben, kann nur bedingten Wert haben.
Damit kommen wir auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, auf das Zitat Spaemanns. Schelers Werte sind das Gegenteil von dem, was bloß instrumentellen Wert zur Befriedigung unserer Bedürfnisse hat. In diesem Sinne “brauchen” wir sie nicht. Vielmehr schaffen sie in uns neue Bedürfnisse, wenn wir mehr wollen als das, was wir von Natur aus sowieso schon brauchen. Die vollständige Reduktion unserer Bedürfnisse auf unsere natürlichen würde uns, so sie denn möglich wäre, den Tieren gleich machen. Tiere brauchen Nahrung, Menschen auch. Deshalb hat Brot für uns einen Wert, der aber, weil in unserem Bedürfnis gründend, nur ein bedingter ist. Absolute Werte sind das, was Zwecke sichtbar macht, die wir nicht einfach schon von Natur aus haben, sondern die sich unserer Freiheit darbieten als Ermöglichungsgrund unserer Erhebung über die Tierheit in uns. Sie sind das, was wir brauchen, wenn wir mehr sein wollen als Tiere. Sie befriedigen nicht unsere Instinkte, sondern begründen unsere Würde. Eine Ahnung von dem, was damit gemeint sein könnte, gibt uns das berühmte Bekenntnis des im Nazigefängnis hungernden Alfred Delp: “Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.”
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Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch.
Die bisherigen Folgen im Überblick:
- Um eine Philosophie des Guten: 1. Zieldualismus statt Zielmonismus
- Um eine Philosophie des Guten: 2. Der Begriff des Guten im Eudämonismus
- Um eine Philosophie des Guten: 3. Aufgeklärter Eudämonismus
- Um eine Philosophie des Guten: 4. Zwei Arten des Guten und wie sie uns gegeben sind
- Um eine Philosophie des Guten: 5. Die Evidenz des Urgewissens
- Um eine Philosophie des Guten: 6. Die Rolle der moralischen Werte
- Um eine Philosophie des Guten: 7. Neigung als Quelle des Imperativs?
- Um eine Philosophie des Guten: 8. Umstrittene Strebensethik bei Thomas
- Um eine Philosophie des Guten: 9. Gut für den Menschen
- Um eine Philosophie des Guten: 10. Wert und objektives Gut für die Person
- Um eine Philosophie des Guten: 11. Von Hildebrands Wertethik
- Um eine Philosophie des Guten: 12. Die Nichtreduzierbarkeit des Guten
- Um eine Philosophie des Guten: 13. Moore und das Humesche Gesetz
- Um eine Philosophie des Guten: 14. Der naturalistische Fehlschluss
- Um eine Philosophie des Guten: 15. Das Argument der offenen Frage
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- Um eine Philosophie des Guten: 17. Gibt es Werte?
- Um eine Philosophie des Guten: 18. Die Erkenntnisrelevanz des moralischen Werts
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