Belgien und Niederlande melden "rasanten Anstieg" bei Tötung auf Verlangen

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Frank Busch / Unsplash (CC0)

In Belgien und den Niederlanden sind Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid seit 2002 erlaubt. Die Zahl der Fälle ist seither in beiden Ländern rasant angestiegen: In den Niederlanden von 1.882 im Jahr 2002 auf 6.361 Fälle im Jahr 2019. In Belgien sprang die Zahl von gerade mal 24 Fällen im Jahr 2002 auf insgesamt 2.656 Fälle im Jahr 2019.

Euthanasie bei "Lebensmüdigkeit"

Zwei aktuelle Studien beleuchten diese Entwicklung kritisch, berichtet das renommierte Bioethik-Magazin "IMABE" in seiner neuen Ausgabe. Wie lassen sich diese massiven Zuwächse an Euthanasie-Fällen – wie sie außerhalb Deutschands genannt werden – erklären?

In Belgien ist das Kontrollsystem, das vor Missbrauch bei Tötung auf Verlangen und Assistiertem Suizid schützen sollte, de facto gescheitert. So urteilt ein Forscherteam um den Ethiker Kaspar Raus von der Universität Gent. Das ursprünglich engmaschige gesetzliche "Sterbehilfe"-Modell, das für Länder wie Kanada oder nun Spanien Vorbild ist, hat sich nach 18 Jahren in eine kaum kontrollierte und immer weitergehende Praxis ausgeweitet.

Die Autoren geben dafür drei Gründe an, so "IMABE": Erstens wurde der Anwendungsbereich des Euthanasiegesetzes von 2002 immer weiter ausgedehnt. Laut Gesetz ist der assistierte Selbstmord eigentlich nur bei schweren, unheilbaren und unerträglichen Krankheiten zugelassen. Inzwischen akzeptiert man jedoch auch "Lebensmüdigkeit" als Grund.

Ärzte umgehen Verbot

Dies sei zwar nicht legal, Ärzte können das Gesetz allerdings umgehen, indem sie eine sogenannte "Polypathologie" diagnostizieren, so die Experten. Gemeint sind damit multiple, im Alter auftretenden Beschwerden: Seh- und Hörverlust, chronische Schmerzen, Rheuma, Schwäche, Müdigkeit. 

Im Jahr 2019 wiesen bereits fast ein Fünftel – 17,3 Prozent – aller gemeldeten Euthanasie-Fälle in Belgien die Indikation "Polypathologie" auf. Aber in 47 Prozent dieser Fälle waren die Senioren nicht im terminalen Stadium.

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Zweitens bietet die obligatorische Konsultation von einem oder zwei unabhängigen Ärzten keine wirkliche Sicherheit, so die Studie weiter. Ihre Kompetenzen seien begrenzt, vor allem sei ihre Einschätzung nicht bindend.

Am Ende entscheide ohnehin "der behandelnde Arzt; er kann die Tötung auf Verlangen auch gegen eine negative Einschätzung der konsultierenden Ärzte durchführen".

"Kommission verhindert Meldung problematischer Fälle"

Drittens üben die Autoren scharfe Kritik an der staatlichen Kontrollkommission zur Einhaltung der Gesetze und Schutzkriterien. Die Kommission "scheint nicht als Vermittler zwischen jenen Ärzten, die Sterbehilfe leisten, und der Staatsanwaltschaft zu fungieren, sondern als Schutzschild, das die Weiterleitung potentiell problematischer Fälle verhindert." Tatsächlich wurde bis jetzt ein einziger Fall der Staatsanwaltschaft weitergeleitet.

Die Kritik kommt nicht von ungefähr: Der Vorsitzende der 16-köpfigen Kommission, der Arzt Wim Distelmans, führt seit Jahren selbst Tötung auf Verlangen durch und steht offensichtlich krass im Interessenskonflikt.

Mehrere Kommissionsmitglieder haben ohnehin das Gremium aus Protest gegen mangelnde Transparenz und Kohärenz bereits verlassen.

"Schätzungen zufolge wird nur einer von drei Euthanasie-Fällen in Belgien offiziell gemeldet."

Auch in den Niederlanden steigt die Zahl der Sterbehilfe-Fälle bei Senioren, die unter dem Altwerden leiden, berichtet "IMABE".

Ein Team aus Ethikern und Gesundheitswissenschaftlern der Universität Utrecht hat erstmals das Phänomen untersucht, das als "multiples geriatrisches Syndrom" (MGS) bezeichnet wird. Offiziell wurden zwischen 2013 und 2019 insgesamt 1.605 Fälle assistierten Selbstmords gemeldet, die als solcher klassifiziert wurden.

Die Wissenschaftler kommen in einer in JAMA publizierten Studie  zu dem Schluss, dass Leiden im Alter nicht bloß auf körperiche Einschränkungen zurückzuführen ist. Ältere Menschen empfinden ihr Leben dann als "unerträglich", wenn existentielle Krisen und Einsamkeit die Sinnhaftigkeit ihres Lebens in Frage stellen.

Die Frage, was unerträglich ist, lasse sich in diesem "komplexen Zusammenspiel von physischem, psychischem und existenziellem Leiden" nur schwer beantworten, so die Wissenschaftler.

"Diese Entwicklungen müssen dem österreichischen Gesetzgeber zu denken geben", betont die Wiener Ethikerin Susanne Kummer.

"Das Bild des freien, selbstbestimmten Todes gerät angesichts des älteren Menschen, der sozial vereinsamt immer mehr Angst vor seiner Hinfälligkeit bekommt und deshalb Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid wählt, ins Wanken".

Wann zum Beispiel verursacht eine Anhäufung von geriatrischen Syndromen "unerträgliches Leiden" "ohne Aussicht auf Besserung"? Die IMABE-Geschäftsführerin fordert zu "mehr Realismus in der Sterbehilfe-Debatte" auf: Statt von einer "freien" sollte man im Kontext von Alterseinsamkeit und Fragilität besser von einer "prekären Selbstbestimmung" sprechen, so Kummer. "Ältere Menschen wird zunehmend vermittelt, dass Altwerden eine Krankheit ist und die Therapie für existentielle Nöte Tötung bedeutet. Da sind wir auf der schiefen Ebene."

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