Sydney - Mittwoch, 16. Dezember 2020, 14:30 Uhr.
Am Morgen des Karfreitages ist es noch still im Hochsicherheitstrakt im 5. Stock des Melbourne Assessment Prison. In seiner Einzelzelle – einer von 12 im "Unit 8" – betet ein Kurienkardinal den Kreuzweg des heiligen Alfons von Liguori. Das "Stabat Mater" singt der Häftling nicht. Lieber betet er stumm, allein in der Stille seiner Zelle. Besuchsmöglichkeiten gibt es an diesem Tag keine, und auch die morgendlichen 30 Minuten "Ausgang" in einem engen Innenhof fallen aus: Ein durchgedrehter Häftling in einem anderen Trakt zwingt die Wärter, einen Lockdown zu verhängen.
Es ist der 19. April 2019. Seit genau 51 Tagen sitzt George Pell hinter Gittern. Der trotz seiner 78 Jahre immer noch körperlich wie geistig imposante Kirchenmann trägt den grünen Trainingsanzug eines Häftlings. Er verbringt bis zu 23 Stunden seines Tages in einer Einzelzelle – zwei Meter breit, acht Meter lang. Am Vormittag und Nachmittag darf der Kardinal sie für eine halbe Stunde verlassen, um in einem Innenhof im Kreis zu gehen, Luft zu schnappen, nach den Vögeln zu lauschen. Dann geht es zurück in die Zelle, die ausgestattet ist mit Bett, Regal, Schreibtisch, Klo und Waschbecken. Das Essen ist reichhaltig und besser, als früher in manchen Priesterseminaren, notiert der Prälat in seinem Tagebuch. Für seine Wärter, die ihn zunehmend freundlich, immer professionell behandeln, hat er nur lobende Worte. Selbst für seine Feinde und Verleumder gibt es weder Häme noch Hass. Kein Wort des Jammers ist zu lesen.
"Aufktat der Verfolgung"
Ein Milchglasfenster zeigt dem Häftling, ob draußen Tag oder Nacht ist. Maximal sechs Bücher und Zeitschriften, ein Wasserkocher – für den Tee – sowie ein kleiner Fernseher vollenden die Ausstattung. Die heilige Messe feiern darf der Kleriker nicht. Pell liest in der Heiligen Schrift und betet sein Brevier. Und er liest – und schreibt – Briefe: Aus aller Welt erreichen in diesen Monaten den Kardinal Schreiben von Freunden, Gläubigen und Unterstützern – aber auch von Häftlingen im gleichen Gefängnistrakt, die er ebenso beantwortet.
"Oft lassen mich die Briefe innehalten und nachdenken. Eine Frau schreibt, dass 'der Auftakt der Verfolgung von uns Katholiken' der Moment war, als ich den Regenbogen-Schärpenträgern in der St. Patrick's Cathedral in Melbourne (einer Aktion von homosexuellen Aktivisten im Jahr 1998, Anm.d.R.), die Kommunion verweigerte. Sie könnte durchaus Recht haben", schreibt Pell. "Da ein (australisches) Referendum zugunsten einer homosexuellen Ehe entschieden hat, können wir erwarten, dass unsere Religionsfreiheit in unseren Schulen, Kirchen und Pfarreien weiter eingeschränkt wird", notiert der Kardinal. Und dann kommt der Schlüsselsatz, anhand dessen man dieses Tagebuch lesen muss: "Eine meiner größten Sorgen ist, welche langfristigen Folgen meine Probleme für die Kirche in Australien haben wird. Der kurzfristige Schaden ist unstrittig, aber die Vorteile oder Segnungen auf kurze und vor allem auf lange Sicht sind schwieriger zu erkennen".
Am Karfreitag des Jahres 2019 ist Kardinal Pell allein mit seinen Gedanken und Gebeten, die er täglich vor dem Schlafengehen in einem Tagebuch festhält – und dessen erster Band – 448 Seiten stark – nun im englischen Original bei Ignatius Press veröffentlicht worden ist. Zwei weitere werden folgen. Das Anliegen – die Sorge um die langfristigen "Vorteile oder Segnungen" für die Kirche – ist es, was Pell dazu bewegt, aus seiner kleinen Zelle herauszuschreiben. Entstanden ist so ein bemerkenswertes Buch, das trotz seiner Länge griffig, spannend und vor allem zutiefst erbaulich und spirituell über die Welt berichtet, die Kirche in dieser Welt mit erfrischender Klarheit beschreibt, und die Zukunft einer Kirche nach der Krise skizziert und einordnet.
Verantwortung und Vergebung
"Mein Fall hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Kirche" – notiert er an einem anderen Tag in seinem Journal – "vor allem in Australien, aber darüber hinaus auch – wegen meines Eintretens für das Christentum des Gekreuzigten. Ohne Zweifel haben mein sozialer Konservatismus und mein Eintreten für die jüdisch-christliche Ethik Feindseligkeiten verschärft, insbesondere unter den militanten Säkularisten. Ich glaube an Gottes Vorsehung; ich habe mir diese Situation nie ausgesucht und hart daran gearbeitet, sie zu vermeiden; aber hier bin ich, und ich muss mich bemühen, Gottes Willen zu tun."
Dass diese und ähnliche Aussagen viele Menschen provozieren werden – auch und gerade in Kreisen deutscher Sprache – ist klar. Pell, der ehemalige Wirtschaftspräfekt des Vatikans (2014-2017) und Erzbischof von Melbourne (1996-2001) sowie Sydney (2001-2014), sass über ein Jahr lang in Melbourne als "verurteilter Kinderschänder" im Knast. Am 13. März 2019 war der prominente Prälat zu sechs Jahren Haft in einem Prozess verurteilt worden, den selbst entschiedene Gegner Pells und der Kirche als skandalös bezeichnet hatten. Eine Jury hatte entschieden, dass der Kleriker in der Kathedrale von Melbourne 1996 zwei Chorknaben sexuell missbraucht habe – bei offener Tür in der Sakristei, direkt nach der heiligen Messe, entgegen der Aussagen von 20 Augenzeugen und ohne einen einzigen Beweis. Die Geschworenen schenkten den – sich teilweise widersprechenden – Aussagen eines der beiden vermeintlichen Opfer Glauben, und das, obwohl selbst das zweite vermeintliche Opfer, mittlerweile verstorben, die Tat vor seinem Tod bestritten hatte.
Ein Berufungsgericht in Melbourne bestätigte dieses Urteil am 21. August 2019 – gegen die Stimme eines der drei Richter, dem renommierten Juristen Mark Weinberg. Am 7. April 2020 kam Pell frei, nachdem die obersten Richter Australiens einstimmig und mit sofortiger Wirkung den Schuldspruch aufgehoben hatte – so wie es unter anderem Mark Weinberg und eine Petition von über 100.000 Unterschriften gefordert hatte.
Weitere Prozesse waren und werden die Folge der Affäre sein, darunter gegen dutzende australische Journalisten, die eine Nachrichtensperre im Fall Pell ignorierten. Einige Medien gingen auch einer gezielten Strategie der Polizei von Victoria auf den Leim, die von einem eigenen Mafia-Spitzel-Skandal namens "Lawyer X" ablenken wollte, wie die Nachrichtenagentur CNA Deutsch berichtet hat. Ungeklärt ist bislang der in italienischen Medien erhobene Vorwurf gegen den abgetretenen Kardinal Angelo Becciu: Der erbitterte Gegner Pells und dessen Kampf gegen Korruption im Vatikan soll – so Presseberichte – rund 1,4 Millionen australische Dollar von Rom auf australische Konten überwiesen haben. Italienische und australische Behörden ermitteln bekanntlich in dieser Frage – die nur ein weiterer von vielen bizarren Aspekten einer Affäre ist, die der bekannte Papstbiograf und Intellektuelle George Weigel so eloquent mit der Affäre Dreyfus verglichen hat.
Die Prophezeiung von Francis George
Der Vergleich mit der Affäre Dreyfus ist auf einer Ebene gerechtfertigt und passend – ganz unabhängig von der Frage nach Schuld und Verantwortung Pells – um die "Innenansicht" zu beschreiben, die in den Zeilen dieses Gefängnistagebuchs meisterhaft aufwühlend und gleichzeitig erhellend geschildert wird. Nicht wenige Briefe-Schreiber zitieren Pell gegenüber die berühmte Prophezeiung von Kardinal Francis George, den großen, mittlerweile verstorbenen, Erzbischof von Chicago: Er rechne damit, in seinem Bett zu sterben; sein Nachfolger werde im Gefängnis sterben, und dessen Nachfolger werde als Märtyrer auf einem öffentlichen Platz sterben.
Pell erinnert seine Leser daran, dass der letzte Satz jedoch dem Nachfolger des Märtyrerbischofs galt: Dieser werde die Scherben einer zerstörten Gesellschaft aufheben und mithelfen, die Zivilisation neu aufzubauen, wie es die Kirche so oft in der Geschichte getan habe. Das ist eben der Blick des australischen Kardinals, der Grundton des Gefängnistagebuchs. Mit typischem Understatement, stellenweise blitzendem australischem Humor – dessen beste Eigenschaft es ist, sich selbst hochzunehmen – schreibt Pell über das Leben hinter Gittern, dokumentiert aus seiner Zelle heraus die Ereignisse der Welt und die Wahrheiten der Kirche. Täglich auch seine Gebete, für die Opfer pädophiler Gewalt und deren Angehörige, für die Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft, für die Anliegen der Gläubigen und die Menschen in Not, für die Kirche. Und für seine Verfolger, denen er verzeiht.
Mit ruhiger Klarheit erhebt sich da eine Stimme aus dem fünften Stock des Gebäudes in der Spencer Street, mitten in Melbourne: "Wir haben die mageren Jahre erlebt: Gebet, Rechtgläubigkeit und Treue können kein echtes Wachstum garantieren. Wir müssen jedoch mit dem Weinstock vereint sein, und ohne Glauben, Gebet und Opfer werden wir ganz bestimmt keine Fruchtbarkeit entfalten". Umso mehr, da selbst viele Bischöfe heute nicht einmal mehr wissen, wo das Schlachtfeld ist, so Pell. Die Kirche wird die Frage der Sünde wieder "in Mode bringen" müssen. Dann hat sie auch wieder eine Zukunft.
Ein Kaliber – und eine Tradition
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Dem Leser wird im Jahr 2020 schnell klar: Dieses Gefängnistagebuch wird von zukünftigen Generationen von Katholiken verschlungen werden. Nicht nur, um zu verstehen, was im 21. Jahrhundert mit der Kirche im Stahlbad des Säkularismus geschehen ist – sondern auch, wie es weiterging. Sein Verleger, Jesuitenpater Joseph Fessio, nimmt keineswegs den Mund zu voll, wenn er es jetzt schon als "spirituellen Klassiker" bezeichnet. Der Kardinal ist nicht nur eloquenter Oxford-Gelehrter und durchgeistigter Kleriker, sondern ein Mann pragmatisch-robusten Kalibers, der rhetorisch hinlangen kann. Pell ist "Anglo-Catholic" aus einem Guss, in der idiosynkratischen Tradition, die Männer wie G.K. Chesterton aber auch Thomas Morus und John Fisher hervorbrachte. Einer heiligen Tradition also – zu der auch gehört, dass Pell sich mit dem Esel vergleicht, auf dem Jesus in Jerusalem einzog und beschreibt als ein "mittelmäßiges Selbst; treu in meinen Gebeten und Pflichten, einst hart arbeitend, aber spirituell gewöhnlich. Gott trifft manchmal seltsame Entscheidungen."
Aber für einen australischen Leser – nein, für alle am Land und seinen Leuten interessierten Leser – entfaltet Pell zudem einen prächtigen Lokalkolorit, der auch viel über sein eigenes Naturell und dessen Prägungen verrät. Es ist diesem Werk zu wünschen, dass die deutsche Übersetzung vor allem auch dieser Ebene gerecht wird – zumal in Deutschland immer noch Journalisten behaupten, der lebenslange Richmond-Fan sei ein Rugbyspieler gewesen.
Veröffentlicht in der neuen Ausgabe des Vatican-Magazin.
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