Eine beliebte Methode solcher Erschleichung des Übergangs vom Wollen zum Sollen besteht in einer mehrdeutigen Verwendung des Wortes “gut”. Wenn Kant die Ethik durch die Frage “Was soll ich tun?” bestimmt sein lässt, dann ermöglicht er einen Begriff des Guten, der durch seine Korrelation zum Begriff des Sollens eine hinreichende Eindeutigkeit erhält, um ihn als das moralisch Gute von jedem außermoralisch Guten zu unterscheiden. Mein Wille ist moralisch gut, solange ich das, was ich tun soll, tue, weil ich es soll. Dies deckt sich übrigens exakt mit der Definition der Gerechtigkeit, die Anselm von Canterbury in De Veritate entwickelt, ist also keineswegs erst eine Erfindung Kants.

Natürlich ist mit diesem Sollen nicht bloß eine gesellschaftliche Konvention gemeint, sondern der meiner Vernunft einsichtige moralische Imperativ. In seiner allgemeinsten und grundsätzlichsten Form entspricht er der Synderesis (Urgewissen), die gemäß den Scholastikern dem menschlichen Geist als habituelles Wissen um das oberste moralische Prinzip “Du sollst das Gute tun und das Böse meiden” eingeprägt ist. So weit, so eindeutig: Wir haben einen eindeutigen Begriff des Sollens, des Guten und der Ethik.

Vom Eudämonismus, so er sich als eine Form der Ethik behaupten will, muss diese Eindeutigkeit aufgeweicht werden. Ein Beispiel, an dem sich das gut beobachten lässt, ist Martin Rhonheimers Ansatz in seinem Buch Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik (Berlin 2001). Als bekennender Eudämonist muss er Kants Ethikauffassung für eine Engführung halten: Kants Frage Was soll ich tun? “greife zu kurz; sie sei nicht die erste Frage. Vor der Frage nach dem Sollen stehe die Frage nach dem Guten” (S. 41). Demgemäß hat Aristoteles es besser gemacht als Kant, wenn er an den Anfang seiner Nikomachischen Ethik diese Bestimmung des Guten stellt: “Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt” (ebd.). Aber, so müssen wir hier sofort einwenden, dieses erstrebte Gute ist eben nicht das moralisch Gute, denn es wird ja von allen erstrebt, also auch von Menschen mit böser Absicht. Aristoteles führt dieses Streben als eine anthropologische Grundkonstante ein, die allen Menschen in allen Handlungen gemeinsam ist. Aus dem Faktum des Strebens nach einem Gut kann nicht gefolgert werden, dass dieses Gut auch erstrebt werden soll. Ein solches Streben konstituiert ein Interesse, aber keine Pflicht.

Rhonheimer verwischt den Unterschied zwischen Pflicht und Interesse aufgrund eines Begriffs des Guten, den er auf den der Zuträglichkeit für den Handelnden reduziert. Er spricht von “der typisch modernen Entgegensetzung von Moralität und Eigeninteresse, die dazu führt, Moral dort beginnen zu lassen, wo das eigene Interesse durch die Interessen der anderen eingeschränkt wird. Tugendethiken in klassischer Tradition hingegen sind eudämonistisch und damit Ethiken der ‘Ersten Person’, d.h. für sie lautet die grundlegende ethische Frage, worin das für den Handelnden Gute besteht” (S. 18).

Aber natürlich weiß auch Rhonheimer, dass ein bloß faktisches Streben noch kein Sollen konstituiert. Deshalb paraphrasiert er jenes Zitat des Aristoteles vorausgehend mit der Behauptung, der Grund des Sollens sei “das, was vernünftigerweise zu erstreben ist.” Hier ist das Gesolltsein des erstrebten Guten im Gerundiv versteckt, und sein Kriterium ist die Vernünftigkeit. So sehr Rhonheimer damit auf der Linie dessen liegt, was Aristoteles in der Nikomachischen Ethik entwickelt, so wenig kann diese Paraphrasierung darüber hinwegtäuschen, dass hier von Anfang an in den ethischen Ansatz eine Zweideutigkeit hineingetragen wird, die einen Geburtsfehler des Eudämonismus darstellt, der durch keine nachträgliche Reflexion wieder behoben werden kann.

Denn: Das Gute, das vernünftigerweise zu erstreben ist, deckt sich nicht mit dem Guten, das de facto alle erstreben. Wir können uns das am deutlichsten klarmachen, wenn wir die möglichen Antworten auf die beiden Fragen vergleichen “Was ist das Gute, das alle erstreben?” und “Was ist das Gute, das ich tun soll?” Das erste ist das Gute, das meinen faktischen Interessen, seien sie kontingent, seien sie naturnotwendig, entspricht, das zweite das Gute, das meiner Pflicht entspricht. Natürlich gibt es Fälle, wo beides zusammenfällt. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der bonum-Begriff als Korrelat eines Strebens niemals den bonum-Begriff eines Zwecks erzeugen kann, der zugleich Pflicht ist. Aus dem Begriff des “für mich Guten” kann ich niemals den Begriff des “an sich Guten”, des Gesollten gewinnen. Wenn ich auf einen Menschen in Lebensgefahr treffe, den ich retten könnte, spielt die Frage, was für ein “bonum für mich” durch die Rettung herausspringt, keine Rolle. Es geht dann nicht mehr um mein Interesse, sondern um meine Pflicht. Die grundsätzliche Frage, ob es letztlich nicht doch auch in meinem Interesse liegt, moralisch zu sein, ist damit nicht präjudiziert. Entscheidend ist, dass der moralische Imperativ mir kategorisch die Lebensrettung gebietet, und “kategorisch” heißt in diesem Fall auch: unabhängig davon, ob und welche Antwort ich auf jene grundsätzliche Frage finde.

Wenn Rhonheimer, gut aristotelisch, die Vernunftgemäßheit als Unterscheidungskriterium zwischen faktisch Erstrebtem und Erstrebenswertem ins Spiel bringt (“was vernünftigerweise zu ersterben ist”), so funktioniert dies nur, wenn dieser Vernunftbegriff bereits ethisch qualifiziert ist und aufgrund seiner kognitiven Offenheit für das moralisch Gute den instrumentellen Vernunftbegriff übersteigt. Die instrumentelle Vernunft befähigt mich nur zur Erkenntnis der geeigneten Mittel, meine Interessen zu verwirklichen. Erst die moralische Vernunft setzt mich instand, meine Interessen selber moralisch einzuschätzen. Ich muss schon wissen, was Moralität ist, um einen rein prudentiellen Vernunftbegriff zu übersteigen. Wenn der Egoist dem moralisch handelnden Menschen, der aus Moralität persönliche Nachteile in Kauf nimmt, für dumm hält und ihm zuruft: “Sei vernünftig und denk an dich selber!”, dann kann ich ihn von der Vernünftigkeit moralischen Handelns nicht überzeugen, wenn es mir nicht gelingt, ihn zur Einnahme des moralischen Standpunkts zu bewegen. “Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen Ritz an meinem Finger”, schreibt David Hume (A Treatise of Human Nature, 1739, Zweites Buch, Dritter Teil, § 3).

Wenn Kant den moralischen Imperativ ein Faktum der Vernunft nennt, dann bedeutet dies nicht nur, dass Moralität ab ovo vernünftig ist, sondern auch, dass erst die irreduzible Erfahrung des moralischen Sollens mich die Vernunft als eine moralische erkennen lässt. Ein vormoralischer Vernunftbegriff stellt keinen Begriff von “Vernunftgemäßheit” bereit, der geeignet wäre, moralisch gutes Streben von schlechtem Streben zu unterscheiden. Der Besitz eines normativen Vernunftbegriffs aber setzt diese Unterscheidungsfähigkeit bereits voraus. Humes Aussage macht deutlich, dass eine wertblinde Vernunft als Kriterium zur moralischen Beurteilung meines Strebens ungeeignet ist. Ihre Wertblindheit überwindet die Vernunft durch die Erfahrung eines moralischen Imperativs, der deshalb seinerseits nicht das Produkt der Prüfung eines gegebenen Strebens auf seine Vernunftgemäßheit hin sein kann.

Vor einiger Zeit konnte man in der Presse die Nachricht lesen, dass der Besitzer eines Motorbootes sich weigerte, es Rettungskräften zur Rettung eines Ertrinkenden zur Verfügung zu stellen. Sein Boot war ihm wichtiger als das Leben eines Menschen. Vom Standpunkt des Eigeninteresses aus war dieses Verhalten nur deshalb unklug, weil er die Unannehmlichkeiten einer erfolgreichen Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gewärtigen muss. Doch ein Mensch mit Gewissen fragt sich nicht nur, ob es im Licht seiner Interessen klug oder unklug sei, das Boot fremden Händen zu überlassen, sondern er fühlt sich vor die Entscheidung Pflicht versus Interesse gestellt. Er erkennt, dass das Eigeninteresse an materiellem Besitz zu schweigen hat gegenüber dem moralischen Imperativ, der in solcher Situation von einer Person in Lebensgefahr ausgeht. Der Eudämonist dagegen muss die Anerkennung dieses Imperativs von einem Verifikationsverfahren abhängig machen, das die geforderte Tat auf ihre Glückstauglichkeit für das Ganze seines Lebens hin überprüft. Aus dem kategorischen Imperativ wird ein hypothetischer, der von den Glücksvorstellungen seines Weltbilds abhängt.

Reflexionen über mögliche Zusammenhänge zwischen Glück und Moral können den kategorischen Charakter des moralischen Imperativs nicht erzeugen, sondern müssen ihn voraussetzen und dürfen es deshalb auch. Weil sie es müssen, ist jeder Eudämonismus von vorneherein zum Scheitern verurteilt; weil sie es dürfen, darf das Phänomen der Moral als eine Instanz in Anspruch genommen werden, der gerecht zu werden ein Probierstein für jede Philosophie und Wissenschaft ist, die mir die Welt erklären wollen.

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