Erzbistum München und Freising: Wirbel um Missbrauchsgutachten

Veröffentlichung auf 2022 verschoben +++ Erneute Kritik an Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl und Kardinal Marx +++ Erstes Gutachten von 2010 bleibt weiter unter Verschluss

Die Frauenkirche in München, gesehen vom "Alten Peter", der Pfarrkirche St. Peter.
Diliff via Wikimedia (CC BY 2.5)

Die Begründung ist unklar, die Aufregung groß: Das Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising wird voraussichtlich erst im Januar 2022 veröffentlicht. Dies gab die beauftragte Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" (WSW) am Mittwoch bekannt.

Nach Angaben der Kanzlei sind "in der jüngeren Vergangenheit gewonnene neue Erkenntnisse" für die Verzögerung verantwortlich. Diese bedürften nun einer "intensiven Überprüfung".

Beobachter warnen vor dem Risiko ähnlicher rechtlicher Probleme, die bereits im Fall des Erzbistums Köln dafür sorgten, dass ein Gutachten derselben Kanzlei trotz heftiger Kritik lange Zeit nicht veröffentlicht wurde. In Köln wurde sogar eine zweite Untersuchung — der "Gercke-Report" — erstellt und veröffentlicht.

Auf Nachfrage von CNA Deutsch teilte das Erzbistum München und Freising heute zudem mit, dass eine vollständige Veröffentlichung des ersten Missbrauchsgutachtens aus dem Jahr 2010 "nicht vorgesehen" sei. Dies wurde von der gleichen Münchner Kanzlei erstellt.

Weshalb wurde die WSW-Veröffentlichung verschoben?  

Eigentlich sollte im Sommer 2021 das Gutachten veröffentlicht werden, das  offiziell "Gutachten zu sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtlich Bediensteter im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 – 2019" heißt. 

Am Donnerstag teilte das Erzbistum München und Freising auf Nachfrage von CNA Deutsch mit, dass die Erstellung des Gutachtens wie auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Kanzlei obliege. Auf Nachfrage zu den Hintergründen verwies ein Sprecher des Erzbistums auf die am Mittwoch veröffentlichte Erklärung von WSW.

Darin heißt es, die Veröffentlichung sowie Präsentation des Gutachtens werde nun in der 3. Kalenderwoche 2022 (17.01. – 21.01.) stattfinden. Der exakte Termin sowie der Ort der Pressekonferenz werde "zu gegebener Zeit" bekanntgegeben.

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In der Pressekonferenz sollen dann die Ergebnisse der gutachterlichen Prüfung sowie die "in deren Rahmen gegebenenfalls aus Sicht der Gutachter zutage getretenen systemischen Defizite, die Frage von möglicherweise persönlicher Verantwortung und die gutachterlichen Empfehlungen transparent beschrieben" werden.

Über die genauen Gründe für die Verzögerung teilt die Kanzlei nur wenig mit:

"Die geringfügige Verzögerung gegenüber der ursprünglich geplanten Veröffentlichung des Gutachtens beruht auf in der jüngeren Vergangenheit gewonnenen neuen Erkenntnissen sowie deren intensiver Überprüfung. Auch die Repräsentanten der Erzdiözese München und Freising werden mit dessen Veröffentlichung erstmals über die Feststellungen und Ergebnisse des Gutachtens unterrichtet."

Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl auch für erstes Missbrauchsgutachten in Köln verantwortlich

Auf Nachfrage von CNA Deutsch, ob etwa – wie im Erzbistum Köln – äußerungsrechtliche Bedenken für eine Verzögerung der Veröffentlichung sorgten, ließ das Erzbistum München ausrichten: "Das Gutachten wird derzeit erstellt. Die Erzdiözese München und Freising erwartet ein Gutachten, das allen rechtlichen Anforderungen genügt."

Peter Bringmann-Henselder, selbst Betroffener von sexuellem Missbrauch und mittlerweile Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Köln, hat die Vorgänge um das Gutachten in München schon länger beobachtet und kommentierte am Donnerstag auf Nachfrage von CNA Deutsch:

"Das Münchener Gutachten, welches eigentlich schon längst veröffentlicht werden sollte, hat offenbar die gleichen Probleme wie das erste Gutachten von 2010 durch dieselbe Rechtsanwaltskanzlei. Diese hatte geäußert, dass sie alle Namen nennen wolle, die im Erzbistum München dafür verantwortlich seien, dass Sexualdelikte innerhalb des Erzbistums vertuscht wurden."

Der Unterschied sei diesmal jedoch, dass man im Januar 2022 das Gutachten durch die Anwaltskanzlei veröffentlichen will und nicht eine Veröffentlichung durch das Erzbistum vorgenommen werden soll, wie es sonst üblich sei, so Bringmann-Henselder weiter. "Hier zeigt sich, dass Kardinal Woelki richtig gehandelt hat. Es gibt neben Köln bisher kein weiteres veröffentlichtes Gutachten, was ungeschwärzt und ungekürzt für jeden einsehbar ist." 

Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl hatte bereits 2010 ein Gutachten für das Erzbistum erarbeitet, welches bis heute jedoch nicht vollständig veröffentlicht wurde. Vor einem Jahr veröffentlichte WSW ein Missbrauchsgutachten für das Bistum Aachen. Auch das Erzbistum Köln beauftragte WSW mit der Erstellung eines Gutachtens, entschied sich dann jedoch gegen eine Veröffentlichung und beauftragte stattdessen die Kanzlei Gercke (CNA Deutsch hat berichtet).

Bringmann-Henselder: "Parallelen zum Gutachten in Köln"

Dieser Schritt wurde nach Ansicht der Kölner Bistumsverantwortlichen notwendig, weil die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, die im Dezember 2018 mit der unabhängigen Untersuchung beauftragt wurde, die Anforderungen an die unabhängige Untersuchung nach wie vor nicht erfüllt. Die Münchener Kanzlei sei wiederholt an ihrem Versprechen und am Anspruch der Betroffenen sowie des Erzbistums gescheitert, eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse und persönlichen Verantwortlichkeiten in Form eines rechtssicheren und belastbaren Gutachtens zu erreichen und einen zur Veröffentlichung geeigneten Bericht zu erstellen, so das Erzbistum Köln; und weiter: Alle Bitten um konstruktive und methodische Nachbesserungen wurden vonseiten Westpfahl Spilker Wastl entweder nicht umgesetzt oder blieben deutlich hinter den notwendigen Maßnahmen zurück.

Das Erzbistum Köln berief sich mit dieser Entscheidung, das WSW-Gutachten nicht zu veröffentlichen, auch auf die wissenschaftliche Einschätzung des Gutachtens durch Professor Franz Streng und Professor Matthias Jahn, Richter am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main, die in ihrer Beurteilung des WSW-Gutachtens vom 16.10.2020 feststellten:

"Das Gutachten der Rechtsanwälte Westpfahl Spilker Wastl leidet an durchgreifenden methodischen Mängeln, so dass die dort vorgenommene Zuschreibung persönlicher Verantwortlichkeit von Entscheidungsträgern des Erzbistums Köln aus rechtswissenschaftlicher Sicht im Ganzen zweifelhaft ist. Es ist als Grundlage für die Benennung von Verantwortung durch Tun oder pflichtwidriges Unterlassen nach kirchlichem und staatlichem Strafrecht auf Ebene der Entscheidungsträger des Erzbistums Köln keine taugliche Grundlage."

Wie das Erzbistum Köln anschließend in einer Pressemitteilung vom 27. November 2020 angekündigt hat, konnte das WSW Gutachten von "Westpfahl Spilker Wastl" dennoch von Betroffenen, Journalisten und weiteren Interessierten eingesehen werden. Wie CNA Deutsch berichtete, machten fast 400 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Auf die von Beobachtern aufgeworfene Frage, ob die Sorge um rechtliche Mängel in München eine Veröffentlichung des WSW-Gutachtens verhindern könnten, antwortete der Sprecher des Kölner Betroffenenbeirats Peter Bringmann-Henselder am Donnerstag so:

"Ich muss wirklich sagen, es gibt Parallelen zu dem Gutachten für das Erzbistum Köln. Laut Informationen, die uns zugespielt wurden, hat die Kanzlei tatsächlich die gleichen Probleme, hier die Namen so zu nennen, dass es keine rechtlichen Schwierigkeiten bezüglich noch lebender Personen geben wird. Vielleicht liegt es auch an der Art, wie die Kanzlei WSW ihre Gutachten erarbeitet. Jetzt hat man zugegeben, dass neuere Fälle mit einbezogen werden müssten. Dabei hat die Kanzlei WSW alle Unterlagen aus München seit Jahren in ihrer Kanzlei gehabt und diese nach ihrem letzten Gutachten an das Erzbistum München-Freising nicht zurückgegeben. Warum, das kann man nur erahnen." 

Im Fall des Erzbistums Köln hatte die Entscheidung Kardinal Woelki, das WSW-Gutachten wegen "methodischer Mängel" nicht zu veröffentlichen, monatelang für Kritik und Unruhe gesorgt (CNA Deutsch hat berichtet). Kirchenpolitisch agierende Medienvertreter und aufgebrachte Katholiken hatten Woelki zum Rücktritt aufgefordert.

Tatsächlich hat das zweite Gutachten der Kanzlei Gercke, das von Experten als "juristischer Meilenstein" gelobt wird, Woelki bescheinigt, keine Pflichten verletzt zu haben.

Betroffener: "Kardinal Marx sollte endlich zu seinem Wort stehen"

Auch die Rolle des amtierenden Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, soll im Gutachten genau beleuchtet werden. Marx steht nicht nur in seinem als Verantwortlicher für das Erzbistum in der Kritik, sondern soll auch in der Vergangenheit als Bischof von Trier 2006 seine Pflichten verletzt und riskiert haben, "einen möglichen Missbrauchstäter wieder als Seelsorger zu Kindern und Jugendlichen zu schicken", wie eine Recherche von "Christ & Welt" belegen will.

Noch im vergangenem Juli hatte Münchener Erzbischof das "System Kirche" für den Missbrauchsskandal mit verantwortlich gemacht (CNA Deutsch hat berichtet). Für Aufsehen sorgte der Kardinal zudem im Juni, als er dem Papst seinen Rücktritt anbot, den dieser jedoch ablehnte, wie CNA Deutsch berichtete. Danach schloss Marx weiter einen Rücktrittsversuch nicht aus.

Wie das WSW-Gutachten die Amtsführung von Marx und seinen Vorgängern als Erzbischöfe in München und Freising beurteilt, ist unterdessen weiter unklar. Peter Bringmann-Henselder forderte heute jedoch gegenüber CNA Deutsch:

"Vom Erzbistum München erwarte ich für alle Betroffenen, dass man hier genauso schonungslos die Karten auf dem Tisch legen wird wie in Köln. Wenn hochrangige Persönlichkeiten im Bistum Fehler gemacht haben, so sollen sie endlich dazu stehen, dass man nur aus der Sicht der Kirche gehandelt hat, um den Ruf der Institution nicht zu schädigen und dabei die Betroffenen aus dem Blick verloren hat."

Bringmann-Henselder ist überzeugt davon, dass auch die Vorgänger von Kardinal Marx "keine saubere Weste" haben und hofft, dass das Gutachten etwaige Verfehlungen transparent macht. Dabei sei das von Kardinal Woelki beauftragte Gercke-Gutachten ein Vorbild. Wörtlich:

"Kardinal Marx sollte endlich zu seinem Wort stehen und den Betroffenen in seinem Bistum zeigen, dass ihm wirklich die Betroffenen am Herzen liegen und sollte nicht irgendwelche Gründe vorgeben, warum und weshalb das Gutachten nicht alles öffentlich machen kann, wie es in Köln mit dem Gercke-Gutachten gemacht worden ist. Ich bleibe immer noch dabei: Kein anderes Bistum hat solch ein Gutachten nach vorne gebracht wie das Gutachten, was Köln veröffentlicht hat."

Auch bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in staatlichen Einrichtungen hätten die Medien zu oft darüber hinweggesehen, dass die Verantwortlichen bis heute die Sicht der Betroffenen vergessen, betont Bringmann-Henselder.

Das Missbrauchsgutachten von 2010 bleibt im "Panzerschrank"

Bereits Ende April hatte der Kölner Betroffenenbeirat in einem Offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisiert, Kardinal Marx habe das erste Missbrauchsgutachten "hinsichtlich der Fälle sexualisierter Gewalt im Erzbistum Freising-München, welches im Jahr 2010 veröffentlicht werden sollte, nach dem  Vorzeigen sang- und klanglos im Tresor verschwinden lassen". Der Inhalt dieses Gutachtens sei "bis heute der Öffentlichkeit nicht zugänglich, ganz im Gegensatz zu dem Gutachten des Erzbistums Köln", so der Brief weiter.

Bringmann-Henselder erneuerte im April dieses Jahres in einem Interview mit dem katholischen Fernsehsender EWTN.TV diesen Vorwurf. Das alte Gutachten, welches wie auch das erste, nicht zur Veröffentlichung freigegebene Gutachten des Erzbistums Köln von der Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) erstellt wurde, sei "im Panzerschrank verschwunden", sagte er.

Als CNA Deutsch heute nachfragte, was mit dem Gutachten von 2010 passiert und ob dies auch noch vollständig veröffentlicht wird, teilte ein Sprecher des Erzbistums mit:

"Eine vollständige Veröffentlichung des ersten Gutachtens ist nicht vorgesehen, das neue Gutachten umfasst den Zeitraum 1945 – 2019."

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