“‘Das ist meine Pflicht’: dies ist das erhabenste Wort des Gewissens. Das Gewissen sagt niemals: ‘Das ist mein Interesse’.” Mit diesem Wort aus seiner 61. Kanzelrede bringt der seinerzeit berühmte Dominikaner Henri Lacordaire (1802-1861) den Gegensatz zwischen einer eudämonistischen und einer nichteudämonistischen Ethik auf den Punkt.

Das Gegensatzpaar “Pflicht” und “Interesse” hat gegenüber dem Kantischen Begriffspaar “Pflicht” und “Neigung” den Vorteil, dass es ein Schlupfloch verstopft, das Eudämonisten gerne benutzen, um der Kantischen Kritik am Eudämonismus zu entgehen. Dieses Schlupfloch besteht in der Unterstellung, Kant habe nur einen hedonistischen Eudämonismus im Auge, da er ja unter Glück die “Befriedigung aller unserer Neigungen” (KrV B 834) verstehe, Neigung aber sinnliches Begehren sei. Ein nichthedonistischer Eudämonismus, der z.B. ein naturhaftes Streben nach dem “wahren” Gut des Menschen jenseits der Kantischen Dichotomie von intelligibler Moralität und sinnlicher Glückseligkeit in Anschlag bringe, werde von Kants Eudämonismuskritik nicht getroffen.

Doch solche Argumentation, wie wir sie etwa bei Servais-Théodore Pinckaers oder Martin Rhonheimer finden, verfängt nicht. Wir können die Frage, ob Kants Glücksbegriff tatsächlich ausschließlich hedonistisch zu verstehen sei, dahingestellt sein lassen. Seine Eudämonismuskritik bleibt von den möglichen Antworten auf diese Frage unberührt. Denn sach- und argumentationslogisch besitzt der Neigungsbegriff in der Kantischen Gegenüberstellung von “Pflicht” und “Neigung” eine Platzhalterfunktion für jede Position überhaupt, die mit dem moralischen Standpunkt konkurriert. Kant selber zählt in der Kritik der praktischen Vernunft zum Glückseligkeitsprinzip, das er dem Sittlichkeitsprinzip gegenüberstellt, alles, “was den Bestimmungsgrund, der zum Gesetze dienen soll, irgend worin anders als in der gesetzgebenden Form der Maxime setzt” (AA V 35). Der Begriff des Interesses ist deshalb für jene Funktion geeigneter als der der Neigung, insofern er von jedem materialen Gehalt dessen, worum es dem außermoralischen Standpunkt geht, abstrahiert. Ob es sich bei diesem Gehalt um ein hedonistisch gefasstes Glück, Nietzsches Willen zur Macht oder die aristotelische Wahrheitskontemplation (theoria) als Vollendung der menschlichen Natur handelt, spielt keine Rolle, solange das Interesse an diesem Gehalt nicht selber durch ein moralisches Sollen begründet ist. Auch bei Kant selber finden wir zuweilen in der Beschreibung des Antagonismusverhältnisses zwischen Pflicht und Neigung den Neigungsbegriff durch den des Interesses ersetzt, etwa wenn er das “Wollen aus Pflicht” mit einer “Lossagung von allem Interesse” einhergehen lässt (GMS AA 431). Einzig und allein das von Kant unterstellte moralische Interesse, das der praktischen Vernunft als solcher eigen ist (vgl. z.B. AA V 118), muss im Lacordairschen Interessenbegriff ausgeschlossen bleiben, da es die erfolgreiche Einnahme des moralischen Standpunkts voraussetzt und mit der moralischen Gesinnung zusammenfällt. Denn dann und nur dann, wenn ich die Verwirklichung von Moralität zu meinem Interesse gemacht habe, steht dieses mein Interesse nicht in begrifflicher Konkurrenz zu meiner Pflicht. Um ein Interesse daran zu haben, dass es in der Welt gerecht zugeht, muss ich bereits den Wert der Gerechtigkeit anerkannt haben. Und umgekehrt gilt: Die Anerkennung von Gerechtigkeitsforderungen unter den Vorbehalt der Interessendienlichkeit zu stellen, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, den moralischen Standpunkt einzunehmen, also mit dem Entschluss, im Konfliktfall den Eigeninteressen den Vorzug gegenüber der moralischen Pflicht zu geben: “Right or wrong, my profit!”

Auch wenn es im Leben selbstverständlich viele Fälle gibt, in denen konkrete Pflichten und Interessen keineswegs in Konflikt miteinander stehen, sondern sich materialiter decken, ist es wichtig, die Begriffe der Pflicht und des Interesses formaliter in ihrer jeweiligen, nicht gegenseitig aufeinander rückführbaren Eigenart und Funktion zu erfassen. Diese Irreduzibilität ist letztlich nur ein Sonderfall des Humeschen Gesetzes der Nichtableitbarkeit des Sollens aus dem Sein. Nur aufgrund einer Verkennung dieser Irreduzibilität erscheint die Idee durchführbar, einen Eudämonismus durch Übergänge von Interessen zu Pflichten zu etablieren. Der Eudämonismus als Resultat einer Vermischung von Ethik und Eudämonologie bleibt eine Chimäre. Solche Übergänge sind notwendigerweise erschlichen. “Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen ...” (KrV A 548/B 576).

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