Bonn - Dienstag, 8. Juni 2021, 10:30 Uhr.
Noch ist unklar, ob Papst Franziskus überhaupt den angebotenen Rücktritt von Kardinal Reinhard Marx annimmt. Doch die Nachricht hat die Kirche und Öffentlichkeit polarisiert – und eine Welle von Spekulationen ausgelöst.
So fragen sich manche Journalisten euphorisch, darunter der einflußreiche Vatikanist John Allen, ob der Kardinal, der einst selbstbewußt erklärte, "wir" seien "keine Filiale Roms", nun auf dem Weg nach Rom ist – etwa als neuer Leiter der Bischofskongregation.
Eine marxistische (sic) "Revolution" ruft dagegen der Herausgeber des "Tagesspiegel", Stephan-Andreas Casdorff, aus – hinter die nun "kein Weg zurück" für "die Kirche" führe.
Ein nüchterner Blick auf die Tatsachen sieht anders aus. Was war denn eigentlich geschehen?
Auslöser der medialen Aufregungswelle waren einmal die Art wie auch der Inhalt der Nachricht, mit der der Münchner Erzbischof öffentlich erklärte, sein Amt niederlegen zu wollen: In einem auf den 21. Mai datierten Brief an Papst Franziskus hatte der 67 Jahre alte Kardinal persönlich den Pontifex "sehr" gebeten, seinen Verzicht auf das Amt des Erzbischofs von München und Freising anzunehmen.
Marx schrieb, aus seiner Sicht sei "die katholische Kirche an einem toten Punkt" angekommen. Mit seinem Amtsverzicht könne er "vielleicht" – bei aller Bescheidenheit – "ein persönliches Zeichen setzen".
Im Kern gehe es ihm darum, "Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten" – indem er zurücktrete, so Marx weiter.
Ein wichtiges Detail, das viele nicht erwähnten: Seine anderen Posten, darunter als Vorsitzender des Wirtschaftsrates des Vatikans – ebenso wie seine Rechte als Kardinal – standen dabei nicht zur Disposition.
Viele Stimmen in der deutschsprachigen Presse – und aus einschlägigen Gremien – hatten den öffentlichen Schritt und Auftritt in den vergangenen Tagen gelobt und gewürdigt: Der Kardinal zeige damit Verantwortung, auch für die gesamte Institution.
Andere äußerten Bedauern, weil man auf den Erzbischof von München und Freising nicht verzichten wolle oder könne, so etwa der Münchner Weihbischof Bernhard Haßlberger.
Einer der allerersten, die öffentlich Stellung bezogen, war ZdK-Präsident Thomas Sternberg. Der CDU-Politiker, der mit Marx den umstrittenen "Synodalen Prozess" begründete, bedauerte laut nicht nur die Entscheidung. Es gehe "der Falsche", so der Funktionär wörtlich – auch wenn Sternberg selbst nicht mehr für sein Amt als Präsident des ZdK antreten wird, und somit als Ko-Präsident des "Synodalen Wegs" ebenfalls ausscheidet.
Cui bono? Wem nützt der Schritt?
Die Reaktionen waren jedoch nicht nur katholisch. Vertreter der protestantischen Seite meldeten sich zu Wort. Die evangelische Theologin Margot Käßmann schrieb in der "Bild am Sonntag" wörtlich: "Gut, dass er als erster Kirchenführer persönlich Verantwortung für den unerträglichen Missbrauchsskandal übernimmt." Und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte, Kardinal Marx zeige mit dem angebotenen Rücktritt "beispielgebende Geradlinigkeit".
Anders dagegen der Journalist Peter Hahne: In einer vernichtenden Abrechnung bei "kath.net" warf der Autor dem Kardinal vor, ein "Demutsmanöver" aus "verschlagener Diplomatie" gefahren zu haben. Marx zeige keine Reue, nicht einmal den "Hauch einer Schuld". Kritische Leitartikel in der Tagespresse äußerten sich ähnlich.
Kurzum: Sowohl Zuspruch als auch Irritationen lösten nicht nur der Auftritt und die Aussagen des Kardinals aus, sondern auch die emphatischen Reaktionen – darunter aus Teilen der Presse, von Politik und Gremien.
Viele Katholiken, die sich Aufklärung und Transparenz wünschen statt medial inszenierter Auftritte und polemischer Formulierungen, egal von welcher Seite, zeigten sich bestenfalls verwundert: Was soll der Trubel? Was wird damit erreicht? Und vor allem: Cui bono?
Die Verwunderung liegt einmal an der Aufregung selbst: Keinerlei ähnlichen Jubel oder Würdigungen gab es für Kardinal Rainer Maria Woelki von Köln, der bereits im Dezember 2020 den Papst darum gebeten hat, Vertuschungsvorwürfe gegen seine Person zu prüfen, sowie beim Rücktrittsangebot des Hamburger Erzbischofs Stefan Heße.
Marx ist also nach Heße der zweite Ortsbischof, der seinen Rücktritt angeboten hat – und Woelki hatte bereits im Dezember erklärt, er werde einen solchen ebenfalls vollziehen, wenn der Papst dies wünscht.
"Löst ein Rücktritt die Probleme? Eher nicht"
Neben der Verwunderung gibt es die Frage und Forderung nach Redlichkeit und Rechenschaft.
Die einen sehen diese just in der Geste des Rücktrittsangebots beantwortet, ja, erfüllt – so etwa der ehemalige Generalvikar des Kardinals, Monsignore Peter Beer. Dieser ist seit 2020 Professor am Zentrum für Kinderschutz der Päpstlichen Universität Gregoriana.
Der Schritt des Kardinals sei ein entscheidender "Beitrag dazu, dass die von der Kirche ausgestellten Schecks gerade im Angesicht der Katastrophe des Missbrauchs im Verantwortungsbereich der Kirche eingelöst werden können; dass sie gedeckt sind", so Beer in einem Aufsatz bei Cicero.
Dies "würde sich auch dann nicht ändern, wenn die laufenden und weitergehenden Untersuchungen in Sachen Missbrauch ihm persönliche Schuld oder Versagen nachweisen sollten", so Beer in Anspielung auf die ungeklärten Vertuschungsvorwürfe gegen Kardinal Marx.
Andere sehen darin das Gegenteil. Im Interview mit der katholischen Zeitung "Die Tagespost" reagierte ein Missbrauchsopfer und Mitglied des Betroffenenbeirats der Erzdiözese Köln äusserst kritisch. Peter Bringmann-Henselder sagte: "Zunächst muss man sich fragen: Löst [Kardinal Marx] durch seinen Rücktritt die anstehenden Probleme? Eher nicht, er stiehlt sich aus der Verantwortung. Er überlässt seinem Nachfolger diese heikle Aufgabe".
Mehr noch, so das Missbrauchsopfer weiter: "Selbst das von ihm angekündigte neue Gutachten, was im Sommer dieses Jahres vorgelegt werden soll, will er nicht selbst präsentieren. Woran könnte das liegen? Wird er in diesem Gutachten womöglich der Vertuschung überführt?"
Peter Bringmann-Henselder forderte am Sonntag deshalb, dass Marx sich der Aufarbeitung stellen solle und so Schritte für die Zukunft einleiten, statt "andere die Drecksarbeit machen zu lassen".
"Kardinal Marx führt an, dass die Kirche an einem toten Punkt sei, er persönliche Verantwortung übernehmen will und anderes mehr. Was aber sehr stört in seiner Aussage ist, dass er durch seinen Rücktritt Verantwortung tragen wolle, die Institution Kirche zu schützen", so Bringmann-Henselder gegenüber der Zeitung. "Aber das geht doch genau in die Richtung, die die Betroffenen satt haben. In den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten stand nahezu immer der Schutz der Institution Kirche im Vordergrund. An das Leid der Betroffenen wurde seitens der Kirche nicht gedacht".
"Aber genau hier muss ein Umdenken stattfinden und das geht nur mit Aufarbeitung, Aufklärung und den richtigen Schritten hin zur Vermeidung solcher Taten in der Zukunft. Dem müsste sich Kardinal Marx stellen, aber was macht er? Er zieht sich zurück und lässt andere die Drecksarbeit machen."
Das neue Gutachten sollte ursprünglich im Sommer 2021 erscheinen.
Viele Katholiken – nicht nur, aber auch im eigenen Erzbistum – äusserten auch gegenüber CNA Deutsch in den vergangenen Tagen immer wieder: Der einflussreiche Prälat Marx hätte sich seiner Verantwortung einfach stellen sollen. Dies gilt vor allem für seine Zeit als Bischof von Trier und Erzbischof von München und Freising. Auch und gerade dann, wenn er letztlich ein Amt im Vatikan bekleiden will, wäre es besser gewesen, dies als Hirte erst einmal zu leisten.
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Konsequenzen für den "Synodalen Weg"
Neben der Verantwortung für den Umgang mit Missbrauch und die eigene Diözese – die zudem in einem Strategieprozess steckt – will Marx offenbar eine andere "Baustelle" ebenfalls hinter sich lassen, sagen Kritiker weiter: Den deutschen "Synodalen Weg". Diese kostspielige, kontroverse Veranstaltungsdebatte spielt eine entscheidende Rolle in der deutschen Kirchenkrise, zumal sie für sich beansprucht, diese lösen helfen zu wollen.
Kardinal Marx hat zeitgleich mit seinem Rücktrittsangebot die Ansicht geäußert, die umstrittene Veranstaltung müsse weitergehen. Ähnlich positionierte sich sein Nachfolger als Bischofskonferenz-Vorsitzender, Bischof Georg Bätzing.
Angesichts der massiven Kritik am Synodalen Weg steht der Prozess jedoch vor der entscheidenden Frage, ob und wie ein gelungener Abschluss möglich ist. Vom Anschluss an die Weltkirche und deren synodalen Prozess ganz zu schweigen.
Kardinal Marx indessen ist nicht nur persönlich für seinen Umgang mit Missbrauch in Kritik geraten, sondern hatte sich zuletzt auch aus dem Präsidium des "Synodalen Wegs" und aus anderen Ämtern – etwa im Februar 2020 vom Vorsitz der Bischofskonferenz – zurückgezogen.
Das Rückschrittsgesuch des Kardinals kam somit nicht für alle Beobachter überraschend: Zuletzt war es um den meinungsstarken Macher, der nie das Licht der Öffentlichkeit vermieden hat, auffällig still geworden. Auch auf das Bundesverdienstkreuz, dass ihm ein offenbar schlecht informierter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trotz Kritik von Missbrauchsopfern verleihen wollte, hatte Marx Ende April verzichtet.
Jenseits aller Kritik und Lorbeeren, auch in der Hoffnung, den selbstbewußten Kardinal als Bischof in Bayern zu behalten – oder als fähigen Präfekten in Rom zu sehen: Der wiederholt vorgebrachte Vorwurf der Vertuschung gegen Marx ist bislang weder geklärt noch ausgeräumt worden. Auch in seinem Brief an Papst Franziskus geht der Kardinal darauf nicht näher ein.
Wie auch immer schießlich der Pontifex entscheidet, ist ohnehin klar: Ein Ende der Kirchenkrise ist nicht in Sicht. Selbst das erhoffte Einverständnis darüber, wie diese zu lösen sei, ist in weiter Ferne. Und nicht nur die Katholiken in Deutschland blicken gespannt nach Rom, ob und wie der Papst nun vorgehen wird, auch mit der Personalie des deutschen Prälaten.
Was sich Kardinal Marx wünscht, erklärt der Erzbischof in seinem Brief an den Pontifex: "Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen."
Vielleicht wäre dies tatsächlich die beste Lösung für alle Beteiligten, nicht zuletzt die Kirche. Für wahrscheinlich halten sie jedoch die wenigsten Beobachter.
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