“Vernunft” und “Autorität” werden oft einander gegenübergestellt. Das hat seinen guten Grund. Thomas von Aquin und mit ihm die ganze Scholastik unterscheidet in der theologischen Beweisführung z.B. zwischen Vernunft- und Autoritätsargumenten. Vernunftargumente sollen Einsicht, Autoritätsargumente Glauben begründen. Im ersten Fall komme ich zu einer Überzeugung aufgrund eigener, im zweiten Fall aufgrund fremder Erkenntnis. Die gläubige Zustimmung zu einer mir geoffenbarten fremden Erkenntnis muss ihrerseits aber wiederum begründet sein in eigener Einsicht, nämlich in der Einsicht in die Glaubwürdigkeit des Offenbarers. Das heißt der Glaubensgehorsam muss selber vernünftig sein, ein “rationale obsequium”. Vernunft bleibt das Beurteilungskriterium beanspruchter Autorität.

In seinem bemerkenswerten Artikel über “Autorität” im Neuen Handbuch philosophischer Grundbegriffe (Freiburg / München 2011) zeigt Walter Schweidler, dass sich das Verhältnis zwischen “Vernunft” und “Autorität” nicht in dieser Beziehung der Entgegensetzung erschöpft. Vielmehr beansprucht die Vernunft selber Autorität. Autorität ist somit ein Moment an der Vernunft selbst. Die Scholastik spricht vom dictamen rationis, also dem Spruch der Vernunft, der uns im Handeln leitet. Ich soll der Vernunft folgen, nicht den Leidenschaften. Der Geist soll über das Fleisch herrschen. Die Vernunft selber muss also als Autorität, als geistige Macht, gedacht werden.

Wenn Schweidler allerdings die “Weisungen der Vernunft”, von denen Thomas Hobbes im Leviathan spricht, als Beispiele dieser Autorität anführt, kann ich ihm darin nicht folgen. Denn diese Weisungen entfalten ihre motivationale Macht über das menschliche Handeln nur aufgrund des Selbsterhaltungstriebs, des Verlangens nach Sicherheit und der Furcht vor den Sanktionen, die der Staat für den Fall des Ungehorsams androht. Die Autorität der Vernunft ist in diesem Fall eine der Furcht entliehene. Die Furcht führt im Menschen das Szepter, die Vernunft steht in ihrem Dienst. Hobbes kennt nur die instrumentelle Vernunft, die aus sich, ohne das Erpressungspotenzial der dem Staat zur Verfügung stehenden Machtmittel, ohne Einfluss auf unser Handeln wäre.

Ganz anders bei Kant. Wenn er davon spricht, dass die Vernunft “für sich praktisch” sein könne, dann entwirft er einen Vernunftbegriff, der zu dem von Hobbes konträr ist. Die Kantische Vernunft hat Macht aus sich selbst, und zwar kraft des moralischen Sollens. Sie ist der Legitimationsgrund jeder Gesetzesautorität, weil sie selber gesetzgebend ist. Es gibt keine Instanz außerhalb der Vernunft, die ihrerseits über die Vernunft richten könnte. Daraus ergibt sich die Idee der Autonomie. Insofern ich ein Vernunftwesen bin, muss sich jeder normative Anspruch vor meiner Vernunft ausweisen können. Nur eine Norm, in Bezug auf die ich mich selber als Gesetzgeber betrachten kann, ist auch eine solche, der ich mich als Sinnenwesen unterwerfen muss. Die Vernunftautorität, der mein Handeln folgen soll, liegt in mir selbst.

Andererseits tritt in der Bibel Christus mit höchster Autorität auf. Gerade die Entdeckung dieser Autorität brachte einst historisch-kritische Exegeten wie Ernst Käsemann oder Joachim Jeremias dazu, aus der Bultmannschen Verflüchtigung des historischen Jesus wieder dessen ipsissima vox herauszuretten. Jeremias entdeckte die im Judentum beispiellose Vollmacht Jesu in dessen Voranstellung des doppelten “Amen” vor die eigene Rede, Käsemann in der berühmten Entgegensetzung von Jesu Anspruch des “Ich aber sage euch...” gegen die Autorität des Moses: “Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist... (Mt 5, 21 ff).

Um was für eine Autorität handelt es sich? Die Auskunft des Neuen Testaments ist klar: Es ist exakt dieselbe Autorität wie die der Vernunft. Denn derjenige, der hier spricht, ist der ewige Logos, der jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt (Joh 1, 9). Der Logos ist jene ewige Vernunft, kraft derer die je meinige Vernunft dennoch mit einer Autorität spricht, die nicht nur mich selber bindet, sondern allgemeingültig ist.

Immanuel Kant ging ja wie selbstverständlich davon aus, dass die Vernunft und damit auch das Sittengesetz bei allen möglichen Vernunftwesen ein und dieselbe ist. Er bindet die Autonomie des Einzelnen an Handlungsmaximen, die der strengsten Allgemeingültigkeit über alle Grenzen der Natur und Kultur hinweg fähig sein sollen. Das “Selbst” der Selbstgesetzgebung ist bei Kant die Vernunft gerade als das, was alle individuellen Menschen gemeinsam haben. Ich halte es deshalb für ein Kantisches Selbstmissverständnis, wenn er den scheinbaren Widerspruch, der darin besteht, dass ich dem Gesetz, das ich selber gegeben habe, gleichzeitig auch unterworfen bin, dadurch aufzulösen versucht, dass er Unterwerfung und Gesetzgebung auf die beiden Aspekte verteilt, kraft derer der Mensch ein Bewohner zweier Welten ist: Als Sinnenwesen gehört er der empirischen, als Vernunftwesen der intelligiblen Welt an. Als ersteres ist er dem Sittengesetz unterworfen, als letzteres sein Ursprung. Doch in Wirklichkeit - so meine These - ist nicht die Unterscheidung zwischen Sinnen- und Vernunftwesen entscheidend, sondern der zwischen individueller Person und allgemeiner Vernunft. Es ist nicht meine Sinnlichkeit, sondern meine individuelle Freiheit, die der Adressat des normativen Anspruchs des Sittengesetzes ist. Dieses ihrerseits gründet nicht in meiner individuellen Vernunft, die als praktische mit meiner individuellen Freiheit identisch ist, sondern in der Vernunft überhaupt. Diese allgemeine Vernunft aber kann nur dann wahrhaft Autorität über mich als Person beanspruchen, wenn sie mehr ist als ein Abstraktionsprodukt meines Denkens. Sie muss mehr sein als eine Vernunftidee. Sie muss eine Realität sein, an der meine individuelle Vernunft teilhat. Nur so kann die Unbedingtheit des Sittengesetzes von der Bedingtheit aller kontingenten Vernunftwesen unberührt bleiben.

Dass Kant darüber nicht reflektiert hat, muss man ihm nicht zum Vorwurf machen. Seine Nachfolger haben es nachgeholt, und unter ihnen kam Fichte zu Einsichten, die mit der johanneischen Christologie in einem überraschenden Ausmaß harmonieren. Dass aber katholische Theologen eine Reflexion verweigern, die sie davor bewahrt, den Anspruch Christi in das Prokrustesbett einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hineinzuzwingen, ist sowohl aus philosophischer wie aus theologischer Sicht ein Armutszeugnis.

Die Autorität Christi ist keine unserer Vernunft fremde Autorität, sein Gesetz kein heteronomes. Es ermöglicht vielmehr eine tiefere Einsicht, eine Erweiterung unseres Wertehorizontes, die unsere Moralität auf eine höhere Stufe hebt. Nehmen wir als Beispiel das Gebot der Feindesliebe. Dass ich dem Feind kein Unrecht antun, ihm nicht einen beliebigen Schaden zufügen darf, ist jedem einsichtig. Aber dass ich ihm darüber hinaus ein echtes Wohlwollen entgegenbringen soll, stellt jene, die ein christliches Moralproprium leugnen, vor ein Problem. Das Gebot der Feindesliebe wird dann entweder als Überforderung abgelehnt oder wieder auf eine Gerechtigkeitsnorm zurückgeschraubt. Den ersten Weg wählt beispielsweise Norbert Hoerster, wenn er schreibt: “Aber auch von der Aufforderung zur Feindesliebe, für sich betrachtet, oder von der viel zitierten Aufforderung zu einer umfassenden Nächstenliebe (‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’) lässt sich nicht behaupten, dass diese Normen sich im Lauf der Zeit wirklich bewährt haben. Nicht zuletzt auch das Verhalten christlicher Kirchenführer hat durch die Jahrhunderte immer wieder gezeigt, dass es sich hier um bloße Floskeln handelt, die sich zwar sehr gut für die Sonntagspredigt, aber sehr schlecht für den moralischen Alltag eignen. Als praktische Verhaltensregeln beim Wort genommen, überfordern sie ganz offenbar die menschliche Natur” (Was ist Moral?, Stuttgart 2008, S. 40).

Das ist nachvollziehbar. Für einen Nichtchristen, der nicht an die bis in den Tod gehende Erlöserliebe des Gottessohnes glaubt, gibt es nirgendwo einen moralischen Imperativ zu entdecken, der über Gerechtigkeitsnormen im Umgang mit dem Feind hinausgeht. Der gegenteiligen Meinung dagegen sind etwa R. Bultmann, F. Hürth und P. M. Abellán, die das christliche Liebesgebot als einen Teil des natürlichen Sittengesetzes auffassen (vgl. Bruno Schüller, Der menschliche Mensch, Düsseldorf 1982, S. 12 ff). Dann ist das neue Gebot, das Christus uns gemäß Joh 13, 34 gibt (“Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt; wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr einander lieben”), in Wirklichkeit gar nicht neu. Und man müsste ihm im Prinzip dieselbe Plausibilität zusprechen wie allen anderen Normen des Sittengesetzes auch, so dass gar nicht nachvollziehbar wäre, warum Nichtchristen wie der erwähnte Hoerster sich so schwer damit tun, das Gebot der allumfassenden Nächstenliebe anzuerkennen.

Das neue Gebot bzw. das neue Ethos, als welches ich die Gesamtheit dessen, was wir Christus auf moralischem Gebiet verdanken, bezeichnen möchte, ist aber nicht einfachhin blind auf die Autorität Christi hin zu befolgen. In solchem Fall träfe der Vorwurf von Goertz zu, dass Autorität an die Stelle von Einsicht träte. In Wirklichkeit eröffnet uns Christus in seiner Lehre und in seinem Vorbild eine neue, tiefere Einsicht in die Welt der Moral. Er verlangt keinen blinden Gehorsam, sondern schenkt uns das “Licht des Lebens” (Joh 8, 12), weil er selber das “Licht der Welt” (ebd.) ist. Seiner Autorität zu vertrauen, führt uns nicht zurück in die Heteronomie, sondern steigert unsere Autonomie.

Schüller zitiert zu Recht Max Scheler: “Nichts gibt es auf Erden gleichzeitig, was so ursprünglich und was so unmittelbar und was so notwendig eine Person selbst gut werden lässt, wie die einsichtige und adäquate Anschauung einer guten Person in ihrer Güte” (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern/München 51966, 560). Kant leugnet, dass durch eine Person eine neue, bisher unbekannte Güte anschaulich werden könnte. Durch ihr Vorbild könne nur erkannt werden, was wir aufgrund des Sittengesetzes immer schon wussten. “Selbst der Heilige des Evangelii muß zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt” (GMS AA IV, 408). Dass Kant die Möglichkeit einer Horizonterweiterung ethischer Erkenntnis ausschließt, liegt u.a. daran, dass er das Gute mit dem Gebotenen identifiziert und supererogatorische Handlungen, also solche, die über das Pflichtgemäße hinausgehen, leugnet oder in der Grundlegung seiner Ethik zumindest ignoriert. Indem er moralisches Handeln mit Handeln aus Pflicht identifiziert, bleibt kein Platz für moralisches Handeln, das über Pflichterfüllung hinausgeht. Supererogatorische Handlungen sind moralisch freie Handlungen. Sie sind nicht streng moralisch gesollt, sie können keine Allgemeingültigkeit im Sinne des kategorischen Imperativs beanspruchen. Als der heilige Maximilian Kolbe im Tausch gegen einen Todeskandidaten selber in den Tod ging, war dies ein moralisch freiwilliger Akt, der nicht von jedem verlangt werden kann. Er war nicht die Erfüllung einer Pflicht, aber auch keine Schwärmerei (wie Kant eine Liebe nennt, die sich als moralische Triebfeder an die Stelle der Achtung vor dem Gesetz zu setzen wagt, cf. KpV AA V, 84), auch nicht ein bloßer Gehorsamsakt gegenüber einem göttlichen Gebot, sondern die Verwirklichung einer alle bloße Pflichterfüllung überbordenden Güte, deren Erkenntnis durch die Begegnung mit der grundlosen Liebe Gottes in Christus möglich geworden ist.

Wenn auf dem Grund unserer Existenz und damit der ganzen Welt der Moral die Liebe eines Schöpfers steht, die ungeschuldet ist, dann kommt dadurch eine moralische Idee ins Spiel, die es fortan unmöglich macht, Moralität auf Pflichterfüllung zu reduzieren. Höchste Moralität besteht dann in der Nachahmung solch ungeschuldeter Liebe. Deshalb scheint mir Dietrich von Hildebrand das Verhältnis zwischen christlicher und natürlicher Ethik am treffendsten zu schildern, wenn er in seiner Ethik im Kapitel Die absolut neue Qualität christlicher Sittlichkeit schreibt: “Es ist ein drittes Kennzeichen der christlichen Sittlichkeit, dass ihr Herzstück diese spezifische Gutheit der Liebe ist, während Richtigkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit das Zentrum der natürlichen Sittlichkeit bilden. Von Sokrates’ Persönlichkeit z. B. geht ein Geist von Wahrhaftigkeit, edler Nüchternheit, Geradheit und Gerechtigkeit aus. Doch das Gebet des hl. Stephanus für seine Mörder atmet die überfließende Gutheit der Liebe” (Ethik, 2. Auflage Stuttgart, S. 475).

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