Ein Blick in die Publikationen von Autonomieverfechtern wie Goertz und Striet zeigt schnell, dass ihnen der Ordnungsgedanke ein rotes Tuch ist. Obwohl ihres Zeichens Theologen, weisen sie die Idee einer Schöpfungsordnung, die als eine moralische Orientierungsgröße dienen soll, zurück. Eine solche Idee wird ausschließlich als Einschränkung der Freiheit, als Bedrohung der Autonomie ins Spiel gebracht. Wenn Katholiken sich für die kirchliche Ehelehre einsetzen, dann hört sich das bei Goertz so an: “Wieder ist es dabei eine vermeintlich göttlich vorherbestimmte Ordnung, die gegen modernes Autonomiedenken steht” (S. 181). Nur vermeintlich göttlich? Mit anderen Worten: Die Gläubigen werden von der Kirche getäuscht, wenn sie es für bare Münze nehmen, dass die Ehe zur gottgewollten Schöpfungsordnung gehört. Wer daran glaubt, lässt sich von der Kirche unnötigerweise in seiner Autonomie einschränken. Autonomie wird als Freibrief für den Menschen gedeutet, seine sexuellen Beziehungen zu gestalten, wie er will.

Welche Grenzen gibt es bei dieser Gestaltung? Wenn freie Selbstbestimmung die einzige moralische Grenze ist, dann muss der konsequent Denkende auch Polygamie, Promiskuität oder Prostitution für vertretbar halten. Solange niemand gezwungen oder überlistet wird, ist alles erlaubt. Niemand hat das Recht, moralische Einwände vorzubringen, weil es nach unseren Autonomisten außer der Autonomie keine Argumente gibt. Weder das Argument aus der menschlichen Natur noch das aus einer göttlichen Schöpfungsordnung wird zugelassen. Das Argument aus der Natur des Menschen zieht nicht, weil es eine solche Natur nicht gibt. Originalton Striet: “Eine dem Menschen vorgegebene Natur, eine Wesensbestimmung, die nicht er selbst sich gegeben hätte, gibt es deshalb für den Menschen nicht. Was für ihn seine Wesensbestimmung ist, ist das, was er sich selbst als eine solche gegeben hat” (so in der Zeitschrift “Kirche und Schule”, die vom Bischöflichen Generalvikariat Münster herausgegeben wird).

Auch das Argument aus der menschlichen Würde zieht nicht, weil “Würde” allein an “Autonomie” gebunden wird. Zu welchen Konsequenzen das führt, hat Spaemann am Beispiel des Kannibalenmordes von Rotenburg deutlich gemacht. Wenn ein solcher Mord dem freien Wunsch des Opfers entspricht, wird durch ihn keines Menschen Selbstbestimmung eingeschränkt. Wenn es keine normativ bedeutungsvolle Natur des Menschen gibt, wenn Würde allein in der freien Selbstbestimmung besteht, die ihre Grenze nur in der freien Selbstbestimmung des Anderen findet, dann entspricht solcher Kannibalismus der Würde des Menschen.

Mit dem Gedanken einer Natur des Menschen fällt auch der Gedanke einer Ordnung, die sich aus ihr ergibt, die der Mensch zu beachten hat und deren Beachtung ihm zu seinem eigenen Besten gereicht. Das Geniale der alten Naturrechtslehre bestand nicht zuletzt darin, mit der Natur eine Orientierungsgröße ins Spiel gebracht zu haben, die moralisch normativ war und gleichzeitig als Kriterium dessen dienen konnte, was dem Menschen zuträglich ist. Denn wenn ich mich meiner Natur gemäß verhalte, handle ich “richtig” im zweifachen Sinn: Ich handle so, wie es an sich richtig ist, und so, wie es für mich richtig ist. Das, was ich moralisch tun soll, ist gleichzeitig auch das, was ich eigentlich immer schon will, wenn ich ein gelingendes Leben anstrebe. Die Verwirklichung von Moralität ist gleichzeitig auch das, was in meinem Interesse liegt. Es liegt in meinem Interesse nicht deshalb, weil ich das Gute durch das Zuträgliche definiere. Das wäre ein naturalistischer Fehlschluss im Sinne Moores (siehe Folgen 12 bis 15). Das Urteil, das Gute sei auch das Zuträgliche, ist in unserem Zusammenhang kein analytisches, sondern ein synthetisches. Es ist wahr nicht aufgrund der Bedeutungsanalyse seiner Prädikate, sondern aufgrund der Tatsache, dass es eine Schöpfungsordnung gibt, der gemäß meine Natur gleichzeitig göttliches Geschenk und göttlicher Auftrag ist. Weder zerstört die Wahrnehmung dieser Aufgabe das Geschenk, noch gerät die im Streben nach Glück und Selbstvollendung sich vollziehende Annahme des Geschenkes in Konflikt mit dem Auftrag. Gerade im Bereich von Ehe und Sexualität wird diese Koinzidenz von Moralität und gelingendem Leben durch die Erfahrung bestätigt.

Die Herausstellung der Autonomie dient bei Striet & Co. nicht nur der Abwehr eines echten oder vermeintlichen Missbrauchs kirchlicher Autorität. Es geht auch um die Abwehr göttlicher Autorität. Wieder Originalton Striet: “Zunächst einmal darf kein Gott akzeptiert werden, der die Freiheit des Menschen und damit das von ihm beanspruchte Recht auf freie Selbstbestimmung nicht achtet. Entweder ist Freiheit das Höchste oder aber sie ist es nicht. Wenn sie es aber ist, so darf auch Gott nicht davon entlastet werden, diese zu achten” (in “Kirche und Schule”). Anselm von Canterbury hat sich demnach geirrt, als er meinte, Gott sei dasjenige, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Von Striet hätte er lernen können, dass die Freiheit des Menschen größer ist. Sie stellt eine moralische Norm dar, der selbst Gott unterworfen ist. Gott hat Pflichten gegenüber dem Menschen. Vom Umgekehrten ist nie die Rede.

Das Gleiche gilt für die Idee der Ordnung. Der Gedanke, dass es eine normative göttliche Schöpfungsordnung gibt, wird im Namen der menschlichen Freiheit abgelehnt. Gleichzeitig aber wird der Ordnungsgedanke benutzt, um der Freiheit Gottes Zügel anzulegen. Gott darf nicht in unsere Welt eingreifen, weil dadurch jene Naturordnung, die berechenbares Handeln ermöglicht, gestört wird. Bei Striet hört sich das so an: Es “muss die Hypothese eines invasiv handelnden Gottes sogar ausgeschlossen werden, um auch nur einigermaßen verlässlich agieren zu können” (so in seinem Corona-Essay 2021, S. 107). Intellektuelle wie Striet wissen natürlich, dass alles nicht so einfach ist, wie das gläubige Fußvolk es sich vorstellt, und vor allem nicht so sicher. Aber in einem Punkt ist sich Striet “absolut sicher”! Nämlich: “Kein Bittgebet, keine Prozession wird den Ausbruch des Virus eindämmen” (S. 64). Der Grund: Die Vorstellung eines Gottes, “der punktuell in den Naturverlauf eingreift”, ist “toxisch”, “denn sofort würde die Frage ausgelöst, warum er so steuert und nicht anders” (S. 106).

Machen wir uns klar, was hier behauptet wird. Es sind zwei Argumente, mit denen Striet den Gedanken eines Gottes abweist, der eingreift, der Wunder wirkt, der Gebete erhört. Das erste Argument unterstellt einem solchen Eingriff die Zerstörung unserer Handlungsfreiheit. Denn diese setzt eine durch Naturgesetze konstituierte Ordnung voraus. Das ist richtig. Wenn es keine zeitlich konstanten Naturgesetze gäbe, z.B. eine durch das, was wir “Kausalität” nennen, garantierte, voraussehbare Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge von Ereignissen desselben Typs bei gleichen Ausgangsbedingungen, könnten wir niemals sinnvoll handeln, weil wir nie wüssten, welche Wirkung unser “Handeln” genanntes Eingreifen in die Sinnenwelt hervorrufen würde. Es gäbe, wie Striet richtig sieht, keinen “kalkulierbaren Freiheitsgebrauch” (S. 91). Es könnte dann sein, dass zu verschiedenen Zeitpunkten ein und derselbe Handgriff völlig verschiedene Wirkungen hätte. Was Striet dagegen übersieht, ist die Tatsache, dass es auch interpersonales Handeln im Sinne von freier Aktion und Reaktion gibt, dessen Berechenbarkeit nicht auf den Naturgesetzen, sondern auf der theoretischen und praktischen Vernunft, sprich: der Intelligenz und der Moralität der interagierenden Personen beruht. Nach Analogie solcher Verlässlichkeit müsste ein Handeln Gottes gedacht werden. Wenn die Menschen zur Zeit Jesu die Kranken zu ihm brachten, damit sie geheilt würden, erlebten sie die Heilungswunder nicht als Störung einer freiheitsermöglichenden Ordnung. Dasselbe gilt für die Heilungswunder in Lourdes. Es ist Zynismus, heilendes Handeln Gottes als Einschränkung unserer Freiheit zu interpretieren. Wenn Striet dagegen solches Eingreifen als ein Phänomen ansieht, das den Menschen dazu zwingt, “mit ständigen Veränderungen im Naturprozess” zu rechnen (S. 107), mit “Unregelmäßigkeiten” selbst in “den Laboren, in denen Naturwissenschaftler*innen arbeiten” (S. 108), dann baut er einen Popanz auf, nämlich die Vorstellung eines Gottes, der ständig sinnlos in der Natur herumspukt, so dass man nichts mehr verlässlich voraussehen und folglich nicht mehr vernünftig agieren kann. Dieses Argument setzt einen Gott voraus, der auf der Ebene der theoretischen Vernunft irrational handelt. Es nimmt Gott nicht einmal als Person ernst, geschweige denn als Gott.

Das zweite Argument rechnet mit Gottes Irrationalität auf der Ebene der moralischen Vernunft: Selbst wenn Gott nicht einfach nur herumspukt und so den Ermöglichungsraum freien menschlichen Handelns zerstört, sondern auf sozial verträgliche Weise Wunder wirkt, die uns willkommen sind, stellt sich die Frage: Warum greift Gott hier ein und dort nicht? Warum erhört er dieses Gebet, jenes aber nicht? Wer diese Fragen stellt, nimmt Gott als handelnde Person ernst. Und wer hätte nicht schon Situationen erlebt, wo ihn solche Fragen bedrängen? Das Aufschlussreiche bei Striet ist nicht, dass er diese Fragen stellt, sondern dass für ihn allein schon ihre Möglichkeit einen Grund darstellt, ein Eingreifen Gottes auszuschließen. Ein Gott, von dem das Jesaja-Wort gilt: “Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind meine Wege über euren Wegen und meine Gedanken über den euren” (55, 8 f) fällt bei Striet moralisch durch. Er will keinen Gott akzeptieren, dessen Handeln sein Verstehen übersteigt und dessen moralische Maximen ihm nicht durchschaubar sind. Für Striet ist Gott gegenüber dem Menschen für sein Handeln rechenschaftspflichtig. Hier wird Gott als Person ernst genommen, nicht aber als Gott. Er wird behandelt wie ein Kind, das sich seinen Eltern erklären muss.

Beide Argumente sagen mehr über Striets Gottesbild aus als über die Stichhaltigkeit des von ihm Kritisierten. Von der Größe der christlichen Gottesidee hat sich Striet zugunsten eines Deismus verabschiedet, dessen Gott nur deshalb Gnade in seinen Augen findet, weil er sich aus allem heraushält. Wer nichts tut, kann nichts falsch machen.

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