Sexueller Missbrauchsskandal in Bolivien: Wer hatte — wann — das Tagebuch des Jesuiten?

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Das Tagebuch des 2009 verstorbenen Jesuitenpaters Alfonso "Pica" Pedrajas steht im Mittelpunkt eines Missbrauchsskandals, der in den vergangenen Monaten die Gesellschaft Jesu in Bolivien erschüttert hat.

Das Dokument, das sich auf mindestens 85 Fälle von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen bezieht und auch andere Priester und Vorgesetzte mit einschließt, liegt den bolivianischen Behörden bereits vor, doch der Weg, den das Tagebuch bei den Ermittlungen genommen hat, lässt Fragen offen.

Der Skandal brach aus, als die spanische Zeitung El País eine Untersuchung veröffentlichte, aus der hervorging, dass nach Pedrajas' Tod im Jahr 2009 sein Neffe auf dem Computer des Priesters eine 383-seitige Datei fand, in der er seine Verbrechen gestand.

Mit diesen Beweisen wandte sich der Neffe zunächst an die spanische Staatsanwaltschaft, die den Fall jedoch nicht annahm, weil die Verjährungsfrist abgelaufen war.

Anschließend wandte sich der Neffe laut El País an die Gesellschaft Jesu in Bolivien, brach aber den Kontakt zu den Jesuiten ab, weil er ihnen nicht vertraute.

Er wandte sich auch an Luis Carrasco, den Direktor der Schule Johannes XXIII. in Cochabamba, wo Pater "Pica" jahrelang Rektor war .

"Er sagte mir, dass er nichts über diese Geschichte wisse und deshalb nicht helfen könne", so der Neffe gegenüber der spanischen Zeitung.

Als er keine Antwort erhielt, brachte der Neffe des Priesters die Beweise schließlich zu El País, die am 29. April darüber berichtete.

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Die Gesellschaft Jesu in Bolivien leitete daraufhin sofort eine Untersuchung ein.

Um Transparenz zu gewährleisten, haben die Jesuiten in Bolivien acht Priester, die zum Zeitpunkt des Missbrauchs durch "Pater Pica" Vorgesetzte waren, von ihren Aufgaben entbunden, für den Fall, dass diese Vorgesetzten an der Vertuschung beteiligt waren.

Übergabe des Tagebuchs an die Staatsanwaltschaft

Am Nachmittag des 20. Juni übergaben die Jesuiten in Bolivien das Tagebuch von Pedrajas der Generalstaatsanwaltschaft des Landes als "ein weiteres Beispiel der Transparenz und des klaren Willens zur Zusammenarbeit mit der Justiz".

Ebenfalls am 20. Juni teilten die Jesuiten in Bolivien in einer Erklärung mit, ihr Provinzial habe das Material einige Tage zuvor in einem Umschlag erhalten, der per Kurier aus Rom gekommen und von der Generalkurie der Gesellschaft Jesu geschickt worden sei, die es ihrerseits vom vatikanischen Dikasterium für die Glaubenslehre erhalten habe.

Nach Angaben des Ordens wurde der Umschlag der Staatsanwaltschaft "ungeöffnet, so wie er angekommen war, und mit der Erlaubnis der Staatsanwaltschaft, ihn zu öffnen" übergeben.

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Außerdem baten die Jesuiten nach eigenen Angaben die Staatsanwaltschaft um eine Kopie des gesamten Dokuments, da in der Zeitung El País "nur einige Auszüge veröffentlicht" worden seien.

Die Leiterin der Staatsanwaltschaft, Daniela Cáceres, erklärte jedoch, dass "bei der Öffnung des versiegelten Umschlags festgestellt wurde, dass das Tagebuch nicht vollständig war, da es Lücken in der Seitenreihenfolge sowie durchgestrichene und gelöschte Passagen aufwies", wie das Nachrichtenmedium Opinion berichtete.

Auch wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, bedeutet dies, dass die Kopie des Tagebuchs in ausgedruckter Form versandt wurde.

Wie gelangte das Tagebuch nach Rom?

Die Gesellschaft Jesu in Bolivien erklärte, sie wisse nicht, wie das  Tagebuch des verstorbenen Ordensmanns aus ihren eigenen Reihen "zum Dikasterium für die Glaubenslehre gelangte und ob es vollständig und leserlich übergeben wurde, wie es die Staatsanwaltschaft verlangt", berichtete die Nachrichtenagentur Los Tiempos.

Für das bolivianische Portal La Razón stellt sich "die Frage, woher der Vatikan eine Kopie des Tagebuchs hat, denn in seinem Interview mit El País erwähnt Fernando [Pedrajas' Neffe] nicht, dass er eine Kopie des Dokuments übergeben hat".

Auch die "Nationale Vereinigung der Ehemaligen der Schule Johannes XXIII." — als der "Altschüler-Verband" — hat sich zu dem Fall geäußert: Sie beschuldigen die Jesuiten ebenfalls der Vertuschung.

"Wenn das Tagebuch des Pädophilen per Kurier von der Generalkurie der Gesellschaft Jesu aus Rom kam, die es ihrerseits vom vatikanischen Dikasterium für die Glaubenslehre erhalten hatte, dann ist diese Lieferung ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass die Jesuiten bereits vorher davon wussten".

Die Vereinigung der Ehemaligen schließt daraus, dass "die kriminellen Handlungen des Pädophilen vertuscht wurden".

In einer Erklärung wies die Vereinigung darauf hin, dass das Tagebuch "nicht aus Spanien stammt, nicht aus der internationalen Zusammenarbeit zwischen Staatsanwälten in Spanien und Bolivien, nicht vom homosexuellen Partner des Pädophilen geschickt wurde, nicht über [Pedrajas'] Neffen kam, nicht über die spanische Zeitung El País. Es kam aus Rom."

Am 5. Juli befragte ACI Prensa, der spanischsprachige Nachrichtenpartner von CNA, den Leiter der Kommunikationskommission der bolivianischen Bischofskonferenz, Andrés Eichmann, der bestätigte, dass die Jesuiten in Bolivien nicht wüssten, wie das Tagebuch von Pedrajas nach Rom gelangt sei.

ACI Prensa richtete am 5. Juli die gleiche Frage an das Presseamt des Heiligen Stuhls, erhielt aber bis heute keine Antwort.

Übersetzt und redigiert aus dem Original der CNA Deutsch-Schwesteragentur ACI Prensa.