Den beiden Funktionen des Sittengesetzes, der einschränkenden und der motivierenden (in Kantischer Sprache: der den Willen bestimmenden) Funktion, entspricht bei Kant ein zweifacher Gebrauch des Zweckbegriffs: Das eine ist der Zweck, den der Handelnde durch seine Handlung bewirken will, das andere der Zweck, der als einschränkende Bedingung funktioniert, genauer ausgedrückt: der die einschränkende Funktion des Sittengesetzes begründet. Das ist der „Zweck an sich“. Was meint Kant damit? Und ist es sinnvoll, das Gemeinte „Zweck“ zu nennen? Dieser Sprachgebrauch ist eher ungewöhnlich, hat manche Missverständnisse und die Polemik Schopenhauers provoziert. Dieser schreibt: „Allein ich muss geradezu sagen, dass ‚als Zweck an sich selbst existieren‘ ein Ungedanke, eine contradictio in adjecto ist. Zweck sein bedeutet, gewollt werden. Jeder Zweck ist es nur in Beziehung auf einen Willen, dessen Zweck, d. h., wie gesagt, dessen direktes Motiv er ist. Nur in dieser Relation hat der Begriff Zweck einen Sinn, und verliert diesen, sobald er aus ihr herausgerissen wird. Diese ihm wesentliche Relation schließt aber notwendig alles ‚An sich‘ aus. ‚Zweck an sich‘ ist gerade wie ‚Freund an sich – Feind an sich, – Oheim an sich, – Nord oder Ost an sich, – Oben oder Unten an sich‘ u. dgl. m.“ („Über die Grundlage der Moral“, Zürich 2017, S. 201).

Diese Polemik wäre berechtigt, wenn Kant mit dem Ausdruck „Zweck an sich“ eben genau dasselbe hätte bezeichnen wollen wie jener Zweckbegriff, von dem er den Ausdruck doch eben unterscheiden will. Für diesen gilt tatsächlich, dass er ein Relationsbegriff ist, der ohne seinen Bezug zum Willen jeden Sinn verliert. Es handelt sich um den Zweck, den sich der Handelnde setzt und den er durch seine Handlung verwirklichen will. Bei jeder Handlung kann ich den Handelnden fragen: „Welchen Zweck hast du damit verfolgt?“ Der Handlungszweck kann nur in Verbindung mit dem Handlungswillen definiert werden. Hier hat Schopenhauer vollkommen recht: „Jeder Zweck ist es nur in Beziehung auf einen Willen, dessen Zweck“ er ist. Dieser Zweckbegriff fällt mit dem Begriff der Absicht zusammen. „Welche Absicht hast du damit verfolgt?“ ist der eben formulierten Frage äquivalent. „Zweck“ ist jene Folge der Handlung, die der Handelnde beabsichtigt hat. Es gibt auch Nebenfolgen der Handlung, mitunter unerwünschte, nicht vorausgesehene oder vorausgesehene, die bloß in Kauf genommen werden: All diese Folgen sind nicht Zweck der Handlung. Allein jene Folge ist es, die der Absicht des Handelnden entspricht.

Aber all dies wusste auch Kant. Er meint mit „Zweck an sich“ eben etwas Anderes. Und wenn wir Schopenhauer weiterlesen, dann erkennen wir, dass es genau jenes Andere ist, das er ablehnt – und dieses Andere ist „Würde“, „absoluter Wert“. Sein an Kant gerichteter Vorwurf des Selbstwiderspruchs entlarvt sich als Unfähigkeit, das von Kant gemeinte Andere in den Blick zu nehmen. Kant schreibt: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen“ (GMS 428, 3–6). Zweck an sich selbst ist also etwas, das aufgrund seines absoluten Wertes der Grund eines kategorischen Imperativs, also eines unbedingten Sollens ist. Er ist also nicht dadurch Zweck, dass er von einem Willen gewollt wird, sondern er ist es, weil er als Zweck gewollt sein soll. Er verdankt seinen Zweckcharakter nicht einer freien Entscheidung des Willens, sondern seiner Fähigkeit, den Willen unter einen moralischen Anspruch zu stellen, der ihn in seinen Zwecksetzungen normiert. In dieser Eigenschaft geht er dem Willen voraus, wird also nicht erst durch den Willen als etwas zu Bewirkendes zum Zweck gemacht, wie es bei der freien Zwecksetzung der Fall ist.

Kant spricht vom „Dasein“ dessen, was einen absoluten Wert hat und Zweck an sich selbst ist. Dieser Ausdruck lässt einen doppelten Sinn zu: Man könnte das mit ihm Gemeinte verstehen als „zu bewirkendes Dasein“: Weil das Dasein des Zwecks einen absoluten Wert hat, soll es vom Willen bewirkt, soll der Zweck hervorgebracht werden. Man kann es aber auch verstehen als ein Dasein, das dem Willen vorausgeht und ihm vorgegeben ist. Dass tatsächlich Letzteres gemeint ist, lässt sich aus dem erschließen, was auf die zitierte Passage folgt. Denn Kant schreibt weiter: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (GMS, 428, 7–11). Damit ist klar, was gemeint ist: Der Mensch existiert als Zweck an sich selbst und muss in allen Handlungen als ein solcher Zweck betrachtet werden. Es geht hier also nicht um einen Zweck, der erst hervorgebracht wird, sondern um einen Zweck an sich, der einen kategorischen Imperativ begründet, also ein moralisches Sollen.

Der Gedanke eines absoluten Wertes und der eines moralischen Sollens bedingen sich gegenseitig. Das sieht auch Schopenhauer so, und genau deshalb lehnt er beide Gedanken ab. Zusammen mit dem Zweck-an-sich-Begriff bilden beide Gedanken die ethische Triade, gegen die Schopenhauer mit aller Macht ankämpft. Er sieht klar den Zusammenhang zwischen „Zweck an sich“, „absolutem Wert“ und „absolutem Sollen“ (kategorischer Imperativ). Den Vorwurf einer contradictio in adjecto macht er mithin auch dem Ausdruck „absoluter Wert“, da für ihn der Wertbegriff genauso ein relationaler Begriff ist wie der des Zwecks. Im Anschluss an das angeführte Zitat fährt er fort: „Im Grunde aber hat es mit dem ‚Zweck an sich‘ dieselbe Bewandtnis wie mit dem ‚absoluten Soll‘ (…) Nicht besser steht es mit dem ‚absoluten Wert', der solchem angeblichen, aber undenkbaren Zweck an sich zukommen soll. Denn auch diesen muß ich, ohne Gnade, als contradictio in adjecto stempeln. Jeder Wert ist eine Vergleichungsgröße, und sogar steht er notwendig in doppelter Relation: denn erstlich ist er relativ, indem er für Jemanden ist, und zweitens ist er komparativ, indem er im Vergleich mit etwas Anderem, wonach er geschätzt wird, ist. Aus diesen zwei Relationen hinausgesetzt, verliert der Begriff Wert allen Sinn und Bedeutung. Dies ist zu klar, als daß es noch einer weitern Auseinandersetzung bedürfte.“ (a.a.O., S. 201 f).

Damit anerkennt Schopenhauer nur die Existenz dessen, was Kant einen „bedingten Wert“ oder „Preis“ nennt. Das Gegenteil, den absoluten oder inneren Wert, nennt Kant auch „Würde“. Würde ist das, was Personen von Sachen unterscheidet. Eine Sache, die ich nicht mehr brauche, kann ich entsorgen. Mit Personen darf ich nicht so umgehen. Aufgrund ihrer Würde haben sie Rechte. Ich muss sie achten. Ein Blatt Papier dagegen kann ich ohne weiteres zerknüllen und in den Papierkorb werfen. Ich brauche auf keine Würde des Papiers Rücksicht zu nehmen. Dieser Unterschied zwischen Personen und Sachen wird durch die Uneindeutigkeit der Angemessenheit des Würdearguments in ethischen Streitfragen (z. B. im Falle der Berufung auf die Menschenwürde sowohl seitens der Befürworter als auch der Gegner von aktiver Sterbehilfe) nicht aus der Welt geschafft. Sie als Grund zur Ablehnung des Würdebegriffs ins Feld zu führen, wie es etwa Norbert Hoerster tut, halte ich für oberflächlich. Da geht Schopenhauers Kritik schon mehr zur Sache. Wenn dieser den Begriff eines absoluten Wertes für selbstwidersprüchlich hält, ist es nicht verwunderlich, dass sein Bannstrahl auch den Würde-Begriff trifft. Hören wir zuerst Kant: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ (GMS 434, 31–34).

Schopenhauer hängt seine Polemik gegen Kants Würdebegriff an GMS 436, 3 f auf: „Kant definiert Würde als ‚einen unbedingten, unvergleichbaren Wert‘. Dies ist eine Erklärung, die durch ihren erhabenen Klang dermaßen imponiert, dass nicht leicht Einer sich untersteht, heranzutreten, um sie in der Nähe zu untersuchen, wo er dann finden würde, dass eben auch sie nur eine hohle Hyperbel ist, in deren Innerem, als nagender Wurm, die contradictio in adjecto nistet. Jeder Wert ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer andern, also ein Vergleichungsbegriff, mithin relativ, und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffes Wert aus. (…) Ein unvergleichbarer unbedingter, absoluter Wert, dergleichen die Würde sein soll, ist demnach, wie so Vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken, der sich gar nicht denken lässt“ (a.a.O. 206 f).

Was soll man von dieser Kritik am Würdebegriff halten? Die Aussage „Jeder Wert ist die Schätzung einer Sache“ ist verräterisch. Der Mensch ist eben mehr als eine Sache. Deshalb ist er „über allen Preis“ (Kant), also über allen Wert im Schoperhauerschen Sinne, erhaben. Diese Erhabenheit des Menschen über jeden Wert einer Sache ist seine Würde.

Dass Schopenhauer diesen abgrundtiefen Unterschied zwischen Person und Sache nicht in den Blick bekommt, liegt daran, dass er Moral auf einen psychologischen Mechanismus reduziert: Moralisch handle ich, wenn ich aus Mitleid handle. Durch dieses Mitleid werde ich ebenso determiniert wie eine Billardkugel, die angestoßen wird. Schopenhauer leugnet die Willensfreiheit des Menschen. Bei ihm wird der menschliche Wille zu einem Rädchen in einem unüberschaubaren Netzwerk von Ursachen, die in ihrem Wirken von vorausgehenden Ursachen ebenso determiniert sind wie sie selber determinierend wirken. Der Wille ist bloß ein Stück Natur. Das Fehlen der Freiheit ebnet den Unterschied zwischen Mensch und Sache ein. Dieser Nivellierung entspricht die Leugnung eines Unterschieds im Wert- und Zweckbegriff. Hier sehen wir, wie eng in jeder philosophischen Reflexion das Moralverständnis mit dem Bild vom Menschen verzahnt ist, das man vertritt. Die tatsächlich existierende Autonomie der Moral ist nicht mit einer autarken Isolation des moralischen Anspruchs vom Rest der Wirklichkeit gleichzusetzen (vgl. dazu mein neues Buch: „Autonomie. Eine philosophische Klärung“).

Bei Kant dagegen macht der Begriff des „Zwecks an sich“ den kategorischen Imperativ denkbar. Durch diesen, also durch die Erfahrung des moralischen Anspruchs, wird der Mensch zu einem moralischen Wesen. Und eben diese Moralfähigkeit ist der Garant dafür, den menschlichen Willen als frei denken zu dürfen. Denn Moralfähigkeit besteht in der Macht, sich aus der Verfangenheit in das Schopenhauersche Netzwerk determinierender Ursachen (Kantisch gesprochen: aus der Naturkausalität) zu befreien und statt fremdbestimmt selbstbestimmt zu handeln: Kraft seiner Freiheit ist der Wille mehr als ein Stück Natur, der Mensch mehr als eine Sache.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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