Vatikanstadt - Dienstag, 8. Februar 2022, 13:00 Uhr.
Papst emeritus Benedikt XVI. hat mit einem persönlichen Brief auf die teilweise aggressiven Reaktionen, den Vorwurf der Lüge gegen seine Person und weitere Behauptungen nach Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens reagiert.
Das Schreiben – den vollen Wortlaut lesen Sie unten anbei – ist auf den 6. Februar datiert und wurde am heutigen Dienstag vom Vatikan veröffentlicht, zusammen mit einem "Faktencheck" seiner Berater, einer Gruppe renommierter Juristen und Kirchenrechtler.
Der Faktencheck – hier der volle Wortlaut – betont: "Als Erzbischof war Kardinal Ratzinger nicht an einer Vertuschung von Missbrauchstaten beteiligt".
Beide Dokumente gehen auf seine 82-seitige Stellungnahme im Münchner Gutachten ein – vor allem auf die später korrigierte Aussage über die Sitzung des Münchener Ordinariats am 15. Januar 1980. Bei dieser Sitzung ging es um die Übernahme des aus dem Bistum Essen kommenden Missbrauchstäters "H" als Priester in die Erzdiözese München und Freising.
Der Faktencheck betont: "Joseph Ratzinger hatte weder Kenntnis davon, dass Priester X. ein Missbrauchstäter ist, noch dass dieser in der Seelsorge eingesetzt wird."
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Die Darstellung in der Stellungnahme von Benedikt XVI., er habe an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 nicht teilgenommen, sei zwar falsch gewesen. Dennoch habe Benedikt XVI. nicht gelogen oder bewusst falsch ausgesagt. Vielmehr kam es zu einem Übertragungsfehler in der Sichtung der Akten, die rund 8.000 Seiten umfassen.
Entschuldigung des emeritierten Papstes
Wie bei seinen persönlichen Begegnungen mit Opfern sexueller Gewalt betont Benedikt, er könne "nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen".
Benedikts Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, verlas das Schreiben des emeritierten Papstes.
CNA Deutsch dokumentiert den vollen Wortlaut der Stellungnahme.
Benedictus XVI
Papa emeritusVatikanstadt
6. Februar 2022Liebe Schwestern und Brüder!
Nach der Vorstellung des Mißbrauchs-Gutachtens für die Erzdiözese München und Freising am 20. Januar 2022 drängt es mich, ein persönliches Wort an Sie alle zu rich ten. Denn wenn ich auch nur knapp fünf Jahre Erzbischof von München und Freising sein durfte, so bleibt doch die innere Zugehörigkeit mit dem Münchener Erzbistum als meiner Heimat inwendig weiter bestehen.
Zunächst möchte ich ein Wort herzlichen Dankes sagen. Ich habe in diesen Tagen der Gewissenserforschung und Reflexion so viel Ermutigung, so viel Freundschaft und so viele Zeichen des Vertrauens erfahren dürfen, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können. Besonders danken möchte ich der kleinen Gruppe von Freunden, die selbstlos für mich meine 82-seitige Stellungnahme für die Kanzlei verfaßt hat, die ich allein nicht hätte schreiben können. Es waren über die von der Kanzlei mir gestellten Fragen hinaus nahezu 8000 Seiten digitale Aktendokumentation zu lesen und auszuwerten. Diese Mitarbeiter haben mir nun auch geholfen, das fast 2000-seitige Gutachten zu studie ren und zu analysieren. Das Ergebnis wird im Anschluß an meinen Brief auch veröffentlicht.
Bei der Riesenarbeit jener Tage – der Erarbeitung der Stel lungnahme – ist ein Versehen erfolgt, was die Frage meiner Teilnahme an der Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 betrifft. Dieser Fehler, der bedauerlicherweise geschehen ist, war nicht beabsichtigt und ist, so hoffe ich, auch ent schuldbar. Das habe ich bereits in der Pressemitteilung vom 24. Januar 2022 durch Erzbischof Gänswein mitteilen lassen. Es ändert nichts an der Sorgfalt und an der Hinga be an die Sache, die den Freunden selbstverständliches Gebot war und ist. Daß das Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen. Um so bewegender sind für mich die vielfältigen Stimmen des Vertrauens, herzlichen Zeugnisse und berührenden Briefe der Ermuti gung, die mich von sehr vielen Menschen erreicht haben. Besonders dankbar bin ich für das Vertrauen, für die Un terstützung und für das Gebet, das mir Papst Franziskus persönlich ausgedrückt hat. Endlich möchte ich noch ei gens der kleinen Familie im Monastero „Mater Ecclesiae“ danken, deren Mitsein in frohen und schwierigen Stunden mir jenen inneren Zusammenhalt gibt, der mich trägt.
Dem Wort des Dankes muß aber nun auch ein Wort des Bekenntnisses folgen. Es berührt mich immer stärker, daß die Kirche an den Eingang der Feier des Gottesdienstes, in dem der Herr uns sein Wort und sich selbst schenkt, Tag um Tag das Bekenntnis unserer Schuld und die Bitte um Vergebung setzt. Wir bitten den lebendigen Gott vor der Öffentlichkeit um Vergebung für unsere Schuld, ja, für unse re große und übergroße Schuld. Mir ist klar, daß das Wort „übergroß“ nicht jeden Tag, jeden einzelnen in gleicher Wei se meint. Aber es fragt mich jeden Tag an, ob ich nicht ebenfalls heute von übergroßer Schuld sprechen muß. Und es sagt mir tröstend, wie groß auch immer meine Schuld heute ist, der Herr vergibt mir, wenn ich mich ehrlich von ihm durchschauen lasse und so wirklich zur Änderung meines Selbst bereit bin.
Bei all meinen Begegnungen vor allem auf mehreren Apostolischen Reisen mit von Priestern sexuell mißbrauchten Menschen habe ich den Folgen der übergroßen Schuld ins Auge gesehen und verstehen gelernt, daß wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezogen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiedenheit und Verantwortung angehen, wie dies zu oft ge schehen ist und geschieht. Wie bei diesen Begegnungen kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen gro ßen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldi gung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen. Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen. Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind. Jeder einzelne Fall eines sexuellen Übergriffs ist furchtbar und nicht wieder gut zu machen. Die Opfer von sexuellem Mißbrauch haben mein tiefes Mitgefühl und ich bedauere jeden einzelnen Fall.
Immer mehr verstehe ich die Abscheu und die Angst, die Christus auf dem Ölberg überfielen, als er all das Schreck liche sah, das er nun von innen her überwinden sollte. Daß gleichzeitig die Jünger schlafen konnten, ist leider die Situation, die auch heute wieder von neuem besteht und in der auch ich mich angesprochen fühle. So kann ich nur den Herrn und alle Engel und Heiligen und Euch, liebe Schwes tern und Brüder, bitten, für mich zu beten bei Gott unserem Herrn.
Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen. Auch wenn ich beim Rückblick auf mein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, so bin ich doch frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, daß der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Unge nügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zu gleich auch mein Anwalt (Paraklet) ist. Im Blick auf die Stunde des Gerichts wird mir so die Gnade des Christseins deutlich. Es schenkt mir die Bekanntschaft, ja, die Freund schaft mit dem Richter meines Lebens und läßt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen. Mir kommt dabei immer wieder in den Sinn, was Johannes in seiner Apokalypse am Anfang erzählt: Er sieht den Menschensohn in seiner ganzen Größe und fällt vor ihm zusammen, wie wenn er tot wäre. Aber da legt er seine Hand auf ihn und sagt: „Fürchte dich nicht, ich bin es...“ (vgl. Apk 1, 12 – 17).
Liebe Freunde, in diesem Sinn segne ich Euch alle.
Benedikt XVI.