Was Goertz in Anlehnung an Kant über die Menschenwürde sagt, ist von erfrischender Klarheit und verdient uneingeschränkte Zustimmung: “Nur weil es diesen absoluten Wert der menschlichen Würde gibt, besteht die Moral aus mehr als nur relativen Forderungen (...) Die Achtung, die ich dem Anderen unbedingt schulde, ist die Achtung seiner Würde als moralische Person. Ohne den Menschen als Zweck an sich würde ‘überall gar nichts von absolutem Werthe [...] angetroffen werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden’”. Goertz zitiert hier aus der Grundlegung (AA IV, 428). Er hat auch Recht, wenn er die Polemik des neuscholastischen Moraltheologen Viktor Cathrein (1845-1931) gegen Kants Idee des Menschen als Selbstzweck zurückweist: “Der Mensch Selbstzweck! Dieser armselige Erdenwurm, aus dem Staube gezeugt und bald wieder in Staub zerfallend, Selbstzweck! [...] Nein, der Mensch ist nicht Selbstzweck, er ist zur Verherrlichung Gottes geschaffen.” Von Blaise Pascal hätte Cathrein lernen können, wie man Elend und Würde des Menschen zusammen denken kann. Andererseits unterschlägt Goertz, dass Cathrein in der Handlungsethik sehr wohl den Selbstzweckcharakter des Menschen anerkennt und ihn etwa gegen den Sozialeudämonismus eines Friedrich Paulsen (1846-1908) verteidigt, (Moralphilosophie 1890, S. 153), so dass seine Auffassung mit Kants Instrumentalisierungsverbot großenteils konvergiert.

Doch das können wir hier auf sich beruhen lassen. Mir kommt es jetzt darauf an, festzuhalten, wie sehr Goertz Recht hat, wenn er den absoluten Wert der menschlichen Würde als Quelle und Geltungsgrund der moralischen Normen in Anschlag bringt, und zwar dergestalt, dass dieser Wert unserer Einsicht unabhängig vom Gottesglauben zugänglich ist. Wenn dem aber so ist, dann ist dieser Wert dem Einzelnen vorgegeben. Ich habe die Würde des Nächsten zu achten, ob das meiner Vorstellung von freier Selbstbestimmung passt oder nicht. Der Geltungsgrund dieser Norm liegt nicht in meiner Autonomie und ist deshalb nicht das Ergebnis meiner freien Selbstbindung. Trotzdem spricht Goertz von freier Selbstbindung, ein Ausdruck, der bei Kant nicht vorkommt, aber dazu geeignet ist, die Kantische Idee der Autonomie in die Nähe des ethischen Individualismus zu rücken.

Die Rede von der freien Selbstbindung kann einen zweifachen Sinn haben: Wenn damit gemeint ist, dass ich als einzelner Mensch die erkannte Norm aus freier Entscheidung anerkenne und mich von ihr “in die Pflicht nehmen lasse”, dann unterscheidet sich diese Position in Bezug auf das grundsätzliche Verhältnis zwischen Norm und Freiheit nicht von der Position der Enzyklika Veritatis splendor. Wenn Goertz damit aber meint, dass die Norm erst durch meine Anerkennung konstituiert wird, dann rückt er sowohl von Kant als auch von der katholischen Lehre ab und verfällt einer individualistischen Ethik.

Im ersten Fall ist die Norm meiner individuellen Freiheit vorgegeben: Sie ist zu erkennen und anzuerkennen. Im zweiten Fall bin ich der Schöpfer der Norm. Im ersten Fall geht die Norm meiner Anerkennung voraus, im zweiten diese jener.

Goertz bringt es nun fertig, beide Positionen in ein und demselben Gedankengang miteinander zu vermischen. Er weist folgende Aussage der Enzyklika zurück: “Wahre sittliche Autonomie des Menschen bedeutet in der Tat nicht Ablehnung, sondern nur Annahme des Sittengesetzes, des Gebotes Gottes (ebd. 41)” (172). Dabei entspricht diese Aussage genau dem Kantischen Autonomiebegriff. Das Konzept der Bindung der Autonomie ans Sittengesetz bildet den gemeinsamen Boden, auf dem Kant und die katholische Lehre stehen. Dann fährt Goertz fort: “Die entscheidende Frage bleibt unbeantwortet: Erfolgt die Annahme des Sittengesetzes aufgrund von Einsicht oder aufgrund von Gehorsam?” Das ist falsch! Diese Frage wird vom Papst beantwortet, indem er dem Gewissen die Einsicht ins Sittengesetz unmissverständlich zuspricht: Das Gewissen ist “ein Akt der Einsicht der Person, der es obliegt, die allgemeine Erkenntnis des Guten auf eine bestimmte Situation anzuwenden und so ein Urteil über das richtige zu wählende Verhalten zu fällen” (32). Es ist aber dann Goertz selber, der im darauffolgenden Satz diesen Erkenntnischarakter desavouiert, indem er schreibt: “Erst durch die freie Selbstbindung wird das Gebot Gottes im eigentlichen Sinne für die Person zum im Gewissen bindenden moralischen Gebot.” Nein, vielmehr erreicht mich das Gebot durch meine Einsicht, und sobald es mich erreicht hat, entfaltet es seine verpflichtende Kraft, die es von sich aus hat. Hans Blumenberg gibt Kants Autonomiekonzept richtig wieder, wenn er schreibt: “Nicht die individuelle Subjektivität ist also autonom, dh die Norm, an der sie sich mißt, ist ihrer Willkür entzogen” (RGG 3, Bd. 1, Tübingen 1957/1986, Sp. 790: Autonomie und Theonomie). Der absolute Wert sowohl meiner Würde als auch der Würde des Anderen ist meiner individuellen Subjektivität vorgegeben. Ist es dagegen meine Freiheit, der das Gebot seine Verpflichtungskraft verdankt, wird eine vorhergehende Einsicht in das Gute überflüssig. Hier schwenkt also Goertz auf die zweite Position um, die die Geltung der Norm von meiner freien Anerkennung abhängig macht. Dass dies keine Überinterpretation seiner Aussage ist, geht aus seiner Kritik hervor, die zwei Seiten später folgt: “Wer das Gewissen primär als Mit-Wissen konzipiert, als Urteil, in dem sich im Menschen ‘die Wahrheit über das Gute’ (VS 61) widerspiegelt, der denkt nach wie vor in vor-neuzeitlichen Kategorien” (174 f). Schauen wir uns die Passage in VS 61 an, erkennen wir sofort, worum es geht: “So offenbart sich im praktischen Urteil des Gewissens, das der menschlichen Person die Verpflichtung zum Vollzug einer bestimmten Handlung auferlegt, das Band zwischen Freiheit und Wahrheit. Deshalb zeigt sich das Gewissen mit ‘Urteils’-Akten, die die Wahrheit über das Gute widerspiegeln, und nicht in willkürlichen ‘Entscheidungen’.” Hier stellt die Enzyklika die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile heraus und weist den Dezisionismus zurück, der die Norm zu einer Folge meiner freien Willkür macht. Mit dieser Positionierung ist Goertz nicht einverstanden. Während er oben der Enzyklika vorwirft, das Handeln aus Einsicht zu leugnen, macht er ihr hier das Gegenteil zum Vorwurf macht.

Was also heißt für Goertz “freie Selbstbindung”? Bin ich verbunden, weil ich mich frei dazu entscheide? Existiert die Pflicht nur von meiner Freiheit Gnaden, oder tritt sie umgekehrt meiner Willkür (im Kantischen Sinne) gerade als Autorität, ja als Nötigungsinstanz gegenüber? Kant scheut sich nicht, von Nöthigung, ja sogar von Zwang zu sprechen: “Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein. Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang” (MST AA VI 379). Das “Selbst” im Wort “Selbstzwang”, also das, was diesen Zwang in seiner Rolle als Gesetzgeber ausübt, ist nicht die Willkürfreiheit des Einzelnen, sondern die Vernunft, es ist in den Worten von Walter Kern nicht das “empirische Ich”, sondern das “intelligible Ich” (Autonomie und Geschöpflichkeit, S. 114). Kant selber drückt es noch präziser aus: Es ist “reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft” (GMS AA IV, 457). In der KpV nennt er diesen Zwang deshalb einen intellektuellen (AA V, 32).

Goertz dagegen redet in seiner Kritik an der Enzyklika einer individuellen Autonomie das Wort, die in eine Selbstermächtigung des Individuums “zum Maßstab anstelle der Vernunft” mündet, wie Bettina Stangneth den Umschlag der Kantischen Autonomie in die individuelle genannt hat (Böses Denken, Hamburg 2016, 164). Ernst Feil beschreibt die Kantische Autonomie als “eine Selbstbestimmung bzw. -gesetzgebung im Rahmen der Oberherrschaft des Sittengesetzes” (Zur ursprünglichen Bedeutung von “Theonomie”, in: Archiv für Begriffsgeschich te, Vol. 34 (1991), pp. 295-313, hier 303). Diese Beschreibung trifft insofern zu, als sie mit dem Ausdruck “Oberherrschaft des Sittengesetzes” jenes Verhältnis zwischen moralischer Norm und individueller Freiheit korrekt wiedergibt, um das es hier geht und welches jene Selbstermächtigung definitiv ausschließt. Für Kant ist die Bereitschaft, sich vom Sittengesetz “zwingen” zu lassen, der Weg zur wahren Freiheit (cf. die schon zitierte Stelle MST AA VI 380, Anmerkung, in Folge 24). Dieser Freiheitsbegriff entspricht übrigens demjenigen des hl. Anselm von Canterbury. Robert Spaemann bringt mit der Bezeichnung “Herrschaft der Vernunft” den Autonomiebegriff auf einen für Kant und Kirche gemeinsamen Nenner. Erst in der Ausdeutung dessen, was das für die Frage nach dem ontischen Status der Vernunft bedeutet, gehen die Wege beider wieder auseinander. Die Vernunft kann ihre Autorität nur behalten, wenn sie durch den Gedanken eines Absoluten, dass aller Kontingenz vorausgeht, gegen ihre naturalistische Depotenzierung gesichert wird. Eine Vernunft, die bloß eine zufällige Blase im Lebensstrom der Evolution wäre, wird von Nietzsche nicht ohne Grund als ein evolutionäres Missgeschick angesehen und ist der Dekonstruktionsenergie postmoderner Philosophen schutzlos ausgeliefert.

Die Lehre von Veritatis splendor ist das treue Echo der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, das sich in der von Goertz kritisierten Richtung noch expliziter äußert: “Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß” und “dem zu gehorchen eben seine Würde ist” (Gaudium et spes 16). Wir können uns schon denken, warum Goertz seine Opposition zum Konzil verbirgt und sogar den Anschein erweckt, in seiner Kritik an der Enzyklika das Konzil an seiner Seite zu haben (175).

Nicht nur die Vernunft, sondern auch der Leib gehört zur Natur des Menschen. Wenn Goertz schreibt, dass das Autonomiedenken “die Wertschätzung des menschlichen Lebens auf besondere Weise zum Ausdruck bringt” (185), eines Lebens, das immer leiblich gebunden ist, dann bleibt er zwar den Beweis für diesen logischen Sprung schuldig, aber wir freuen uns trotzdem über denselben. Denn würde Goertz den Gedanken der Würde des Leibes genauso normativ ausbuchstabieren wie den der Freiheit, würde er eben bei jenem Naturrechtsdenken ankommen, das er so heftig bekämpft. Eine Ethik, die die Würde des Leibes ernst nimmt, zieht der Willkürfreiheit weit engere Grenzen als eine solche, die ihn als ein Zufallsprodukt der Evolution ansieht. Und hier kommt der Gottesgedanke eben doch ins Spiel! Das ist auch nicht verwunderlich. Durch ihn bekommt meine Natur normative Bedeutung. Der scheinbar so eingängige Slogan “Mein Bauch gehört mir!” z.B. entpuppt sich dann als falsch. Mein Leib gehört mir nicht, sondern ist Gabe und Aufgabe, mir vom Schöpfer anvertraut. Um welche Aufgaben es sich handelt, offenbart sich mir in seiner Teleologie. Auch Kant hielt noch an der normativen Bedeutung des Leibes fest, weil er diese Teleologie als ein regulatives Prinzip ansah, von dem wir in unserer moralischen Praxis nicht absehen dürfen. Wie Kant die “teleologischen Gesetze[n] der menschlichen Natur als Grundlage für die Richtigkeit oder Falschheit unserer Maximen” (H. J. Paton, Der kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 196) in Anschlag bringt, können wir in seiner Metaphysik der Sitten beobachten, wo er in vielen Dingen zu ähnlichen Urteilen kommt wie die kirchliche Morallehre, gerade was den Umgang mit dem eigenen Leib, insbesondere auch mit der Geschlechtlichkeit angeht.

Die Würde der menschlichen Person ist der Geltungsgrund des Sittengesetzes, ihre Natur ein Kriterium seiner inhaltlichen Spezifikation. Jene verleiht der Norm ihre Autorität, diese macht sie zur Richtschnur unseres Handelns. In Bezug auf die moralische Handlung könnte man ersteren das principium executionis, letzteres das principium diiudicationis nennen, auch wenn dieser Sprachgebrauch sich nicht exakt mit dem von Kant (in seiner Vorlesung über allgemeine praktische Philosophie und Ethik von 1774/75) deckt.

Wir berühren hier das Probleme der Umsetzung der Maximen des reinen Willens in konkrete Handlungen. Der moralische Charakter unserer Handlungen ist nun einmal von empirischen Bedingungen abhängig, da Handlungen empirische Realitäten in der Sinnenwelt sind. Wenn ein Arzt seinem Patienten die Wahl der Arznei überlassen würde mit dem Argument, er achte dessen Autonomie und wolle ihm nichts vorschreiben, dann hätte er den Sinn dieser Autonomie missverstanden. Aufklärung über die Wahrheit ist keine Bevormundung. Je größer die Kenntnis über die Heilmittel ist, um so mehr wird zwar der Kreis dessen, was sinnvollerweise davon zur Wahl steht, eingeschränkt; aber diese Einschränkung ist kein Angriff auf meine Freiheit, sondern im Gegenteil die Ermöglichung dessen, worum es mir bei meiner Freiheit geht. Erst durch die Kenntnis der Heilmittel eröffnet sich dem Patienten die Freiheit, seinen Wunsch nach Gesundheit in Handlungen umzusetzen. Und die moralische Maxime des Arztes, dem Kranken zu helfen, wird erst durch die medizinischen Kenntnisse handlungstauglich. 

Man könnte die Idee, die Kenntnis der Wahrheit unter Heteronomieverdacht zu stellen, für einen Scherz halten. Aber es bleibt Theologen wie Goertz vorbehalten, die Erweiterung unserer Kenntnisse durch göttliche Offenbarung tatsächlich als Bedrohung unserer Autonomie zu interpretieren. Natürlich kann ich eine göttliche Offenbarung für unmöglich oder ihre Wirklichkeit für unerkennbar halten, aber wenn ich an sie glaube, dann glaube ich auch daran, dass ihre Auskunft über das Wesen des Menschen, über den Sinn seines Lebens, seines Leibes, seiner Sexualität eine enorme Steigerung meiner moralischen Handlungskompetenz bedeutet. Goertz glaubt dies nicht. Sie hat für ihn so wenig Relevanz, dass er sich mit ihr inhaltlich gar nicht erst auseinandersetzt. Ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Annahme der Offenbarung im Glauben eine Horizonterweiterung unserer Erkenntnis im präzisesten Sinne des Wortes sein kann, wirft er dem Papst vor, statt auf Einsicht auf Autorität zu setzen, was schlicht und einfach falsch ist. Johannes Paul II. hat in Veritatis splendor prinzipiell und von 1979 bis 1984 in 133 Mittwochskatechesen detailliert die kirchliche Morallehre in einer Theologie des Leibes so entfaltet und vertieft, wie wir es seitens des Lehramtes noch nie erlebt haben. Wie sehr Goertz diese Situation verfälscht darstellt, können wir an dieser Passage erkennen: “Es genügt vielen Gläubigen nicht, wenn das Lehramt sich im Bereich der Sexualmoral lediglich wiederholt oder auf ihnen unverständliche naturrechtliche Überlegungen zurückgreift” (177). Unverständlich sind Letztere nur, weil sie unbekannt sind, und sie sind unbekannt, weil die kirchliche Morallehre in Theologie und Verkündigung boykottiert wird. Man betrügt die Katholiken um die Lehre, um dann die Folge dieses Betrugs als Argument gegen die Lehre zu verwenden.

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