Aachen, 18 November, 2020 / 10:20 AM
Ein unabhängiges Gutachten zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs im Bistum Aachen hat den früheren Bischof Heinrich Mussinghoff (80) und dessen damaligen Generalvikar Manfred von Holtum (76) schwer belastet. Demnach hätten die früheren Bistumsverantwortlichen im Umgang mit Priestern, die unter Missbrauchsverdacht standen oder bereits verurteilt waren, oftmals "unverdiente Milde" walten lassen. Der Vorwurf der vorsätzlichen Vertuschung wird nach Ansicht der Anwälte dadurch unterstrichen, dass die Akten des Bistums teilweise "auffällige Lücken" hätten.
Die Untersuchung, die von der Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl durchgeführt wurde, wurde am vergangenen Donnerstag vorgestellt. Das Bistum hatte die Kanzlei im Sommer 2019 beauftragt, ein Gutachten für den Zeitraum von 1965 bis 2019 zu erstellen.
Täterschutz statt Opfer-Fürsorge
Im nun vorgestellten Gutachten werden neben Altbischof Mussinghoff und Generalvikar von Holtum wurden auch weitere Amtsvorgänger beschuldigt, bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch Fehler gemacht zu haben. So sehen sich auch die bereits verstorbenen Bischöfen Johannes Pohlschneider (Bischof von Aachen von 1954 bis 1974) und Klaus Hemmerle (Bischof von Aachen 1975 bis 1994) und Generalvikar Karlheinz Collas (1978 bis 1997) schweren Vorwürfen ausgesetzt. Man sei in diesen Zeiträumen bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch mehr am Schutz der Täter orientiert gewesen als an der Fürsorge für die Betroffenen, so die Kanzlei.
Der amtierende Bischof von Aachen wird von dieser Kritik ausgenommen. Dennoch möchte Bischof Dieser, wie er unterstrich, dies nicht als einen "Persilschein" verstanden wissen. Auch für den aktuellen Generalvikar Andreas Frick sei dies "keine vollständige Entlastung". Es gebe, so Frick, wahrscheinlich noch immer eine hohe Dunkelziffer an Missbrauchsfällen, die ihn beunruhige. Die beiden Bistumsverantwortlichen gaben an, sich weiter überprüfen lassen zu wollen.
Für den untersuchten Zeitraum hat die Anwaltskanzlei die Opferzahl auf 175 beziffert. Etwa Dreiviertel der Opfer seien männlich gewesen. Insgesamt 81 Priester, darunter zwei Diakone, hätten sich des sexuellen Übergriffs (oft mehrfach) schuldig gemacht und häufig keine oder kaum Sanktionen durch die Bistumsleitung erfahren.
Keine Kirchensteuer-Mittel für Missbrauchsopfer?
Anfang 2021 sollen die neuen Regeln für Anerkennungszahlungen an Missbrauchsopfer im Bistum Aachen in Kraft treten. Die Geldzahlungen, so Dieser, sollen sich aber nicht aus Kirchensteuermitteln speisen. Der Bischof begründete den Schritt so:
"Das System Kirche hat bei Missbrauch versagt, deshalb wollen wir hier auch in der Kirche sparen."
Ende September hatte auch das Bistum Münster betont, Zahlungen an Missbrauchsopfer nicht über die Kirchensteuer zu finanzieren. Stattdessen sollen Geldanlagen des Bischöflichen Stuhls in Höhe von rund 5,2 Millionen Euro veräußert werden. CNA Deutsch hatte damals beim Bistum nachgefragt, ob diese Erträge letztlich über Umwege nicht doch von Erträgen durch die Kirchensteuer stammen.
Bischof Dieser über Vorgänger: "Zeichen der Reue" nötig
Bischof Dieser forderte unterdessen einen "Kulturwandel gegen Klerikalismus". Noch immer komme es zum "Reflex der Schuldabwehr", der die Institution Kirche zu sehr in den Schutz nehme. Angesprochen auf seinen Vorgänger Altbischof Mussinghoff und den früheren Generalvikar von Holtum berichtete Dieser, dass sich beide in einem schmerzhaften "Prozess der Selbstreflektion" befänden. Vor allem wünsche er sich von seinem Vorgänger nun ein "Zeichen der Reue", so Bischof Dieser wörtlich.
Dieser schlägt unter anderem "eine angemessene, freiwillige Zahlung in einen Bistumsfonds für Anerkennungszahlungen an Missbrauchsopfer" vor, eine Art "Bußgeld", wie Generalvikar Frick ergänzte.
Anders als im Erzbistum Köln, wo von derselben Kanzlei ebenfalls ein unabhängiges Gutachten veröffentlicht werden sollte und nach Medienberichten unter anderem der ehemalige Personalchef und jetztige Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, rechtlich gegen die Veröffentlichung vorging, steht in Aachen noch nicht fest, ob Altbischof Mussinghoff nach Bekanntwerden der Vorwüfe ebenfalls vor Gericht geht. Sollte Mussinghoff den Rechtsweg anstreben, werde man dies natürlich respektieren, so Bischof Dieser.
Hintergrund: Erzbistum Köln stoppt Veröffentlichung des Gutachtens
Auch das Erzbistum Köln hatte ursprünglich - wie das Bistum Aachen - die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl mit der bistumsinternen Untersuchung beauftragt. Die geplante Veröffentlichung des erstellten Gutachtens wurde vom Erzbistum jedoch auch aufgrund von wiederholt nicht eingehaltenen Versprechen der Kanzlei gestoppt.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Wie CNA Deutsch berichtete, hatten die Betroffenen und auch das Erzbistum den Anspruch geäußert, eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse und persönlichen Verantwortlichkeiten in Form eines rechtssicheren und belastbaren Gutachtens zu erreichen und einen zur Veröffentlichung geeigneten Bericht zu erstellen. Alle Bitten um konstruktive und methodische Nachbesserungen seien vonseiten Westpfahl Spilker Wastl entweder nicht umgesetzt oder deutlich hinter den notwendigen Maßnahmen zurückgeblieben.
Auch Kardinal Rainer Maria Woelki äußerte sich zu den Vorgängen und bekräftigte einmal mehr seinen Willen zur lückenlosen Aufklärung:
"In den letzten Monaten haben wir wertvolles Vertrauen bei den Betroffenen verloren. Unser Weg war nicht frei von Fehlern. Mir ist klar geworden, dass die juristische und wissenschaftliche Perspektive allein nicht genug ist. Deshalb habe ich bei dieser so weitreichenden Entscheidung den Rat der Betroffenen eingeholt. Ich bin sehr dankbar, dass auch sie mir das Vertrauen entgegenbringen, dass so oft schon strapaziert wurde. Die Perspektive der Betroffenen ist handlungsleitend für unser weiteres Vorgehen. Ich bin zuversichtlich, dass nun die neu gewählte Konstellation der Gutachter zu einem belastbaren und rechtssicheren Ergebnis kommen wird. Ich erwarte keine Schonung – im Gegenteil. Hinsehen und Handeln ist unser Anspruch und unser Auftrag. Die unabhängige Untersuchung trägt wesentlich dazu bei, dass wir hinsehen können. Nur auf einer vollständigen und sauberen Grundlage kann ich Konsequenzen ziehen."
Die Untersuchungen zu Missbrauch und Vertuschung werden nun vom Kölner Strafrechtsexperte Björn Gercke geleitet. Für die Entscheidung, die bisherigen Ergebnisse von Westphal Spilker Wastl aus den erwähnten Gründen nicht zu veröffentlichen, wurde die Bistumsleitung jedoch auch heftig kritisiert. Unter anderem hatten Mitglieder des Betroffenenbeirats aus Protest gegen die Nicht-Veröffentlichung ihren Rücktritt erklärt. Das Erzbistum selbst hat kürzlich einen Frage- und Antwortkatalog zur Angelegenheitveröffentlicht.
Vertuschungsvorwürfe gegen Hamburger Erzbischof Stefan Heße
Besondere Brisanz erhält das nicht-veröffentlichte Gutachten dadurch, dass darin auch schwere Vorwürfe gegen Erzbischof Stefan Heße (Erzbistum Hamburg) vermerkt sind. Verschiedene Medienberichte warfen dem Geistlichen vor, zu seiner Zeit als Personalchef des Erzbistums Köln möglicherweise an der Vertuschung von sexuellem Missbrauchs beteiligt gewesen zu sein.
Heße sei laut der "Bild"-Zeitung und anderen Medienberichten zufolge in "Erklärungsnot" geraten, was den Fall eines heute 69 Jahre alten Priesters betrifft, der in den 1990er Jahren seine minderjährigen Nichten über Jahre schwer sexuell missbraucht haben soll.
Ende Oktober teilte das Erzbistum Köln schließlich mit, dass einige "in der Öffentlichkeit diskutierte Informationen nicht belastbar sind, teilweise Interpretationen darstellen und sich Sachverhalte vermischen". CNA Deutsch hat die Stellungnahme im Wortlaut dokumentiert.
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