Kardinal Pell: Der Finanzreformer des Vatikan, der unschuldig im Gefängnis saß

Kardinal George Pell
Daniel Ibanez / CNA Deutsch

Vor einem Jahr ist Kardinal George Pell verstorben. Der Australier hat ein bewegtes Leben hinter sich: Erst brachte er den Stein ins Rollen, um den größten Finanzskandal des Vatikans in diesem Jahrhundert aufzudecken, dann saß er selbst 404 Tage im Gefängnis – zu Unrecht. 

  • Beckenbauer und der Brückenbauer: Ein Land trauert unterschiedlich
  • Kardinal Pell stirbt Anfang 2023 überraschend in Rom
  • Zum ersten Todestag würdigt Kardinal Müller das Lebenswerk Pells; Spitzen gegen vermeintliche Kirchenreformer bleiben dabei nicht aus
  • Freispruch nach 404 Tagen Einzelhaft: Wie Kardinal Pell Opfer eines Fehlurteils wurde
  • Missbraucht nach der Messe? Pell wehrt sich gegen die Vorwürfe eines angeblichen Missbrauchsopfers
  • Sündenbock und Ablenkung: Wie Kardinal Pell in einen australischen Justizskandal hineingezogen wurde
  • Die Wende: Durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes kommt Pell wieder frei; er veröffentlicht unter anderem zwei Gefängnistagebücher
  • Tragik und Vermächtnis: Was vom Leben des australischen Kardinals übrigbleibt und was die Verurteilung eines anderen Kardinals mit ihm zu tun hat

Beckenbauer und der Brückenbauer: Ein Volk trauert unterschiedlich 

Am vergangenen Sonntagabend meldeten nicht nur die üblichen Sport-Portale, dass eine Legende von uns gegangen ist: Franz Beckenbauer, Beinamen „der Kaiser“ und „die Lichtgestalt“, ist verstorben. Kaum ein Mann hatte den Fußball in Deutschland so geprägt wie er. Der Name Beckenbauer leuchtete über den Fußball hinaus. Bis zuletzt konnten selbst Korruptionsvorwürfe rund um die WM-Vergabe 2006 und sein ausschweifendes Liebesleben (O-Ton Beckenbauer: „Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“) den Glanz seines säkularen Heiligenscheins herunterdimmen. Noch einmal verneigte sich ein ganzes Land vor ihm, dem Kaiser, der Lichtgestalt.

Dabei ist es gerade einmal ein Jahr her, als ein – man muss es so sagen – noch größerer Sohn dieses Landes verstorben ist. Nein, ich spreche nicht vom Jahrtausend-Fußballer Pelé, der am 29. Dezember 2022 in São Paulo gestorben ist, denn der war Brasilianer. Die Rede ist von Papst Benedikt XVI., der am Silvestermorgen des Jahres 2022, nur zwei Tage nach Pelé, zum Vater heimgekehrt ist.

Die Nachrufe auf den deutschen Papst waren in den säkularen, bisweilen jedoch auch in den kirchlichen Medien seines Heimatlandes deutlich zurückhaltender als kürzlich beim Tod Beckenbauers. Der Ex-Fußballer wurde, getragen vom Pathos der Fußballfunktionäre, glatt zum „Santo Subito“ erhoben, einige regten gar an, den heiligen DFB-Pokal künftig nach Beckenbauer zu benennen. Doch zu ihrem Papst, der nicht nur Kirchen-, sondern auch Weltgeschichte geschrieben hat, hatte die Mehrheit der Deutschen ein deutlich kühleres Verhältnis. In der Beliebtheitsskala rangierte der Beckenbauer stets vor dem Brückenbauer.

Ein plötzlicher Tod

Als Papst Benedikt am 5. Januar 2023 im Petersdom beigesetzt wurde, kamen dennoch zahlreiche Menschen nach Rom, um dem verstorbenen Pontifex die letzte Ehre zu erweisen. Hochrangige Politiker und Geistliche aus aller Welt sprachen über das Lebenswerk des unscheinbaren Mannes und bescheinigten ihm eine ungeahnte Leichtigkeit und Feinfühligkeit, die Ratzinger aber – anders als Beckenbauer – nicht auf dem Fußballplatz, sondern in seinem Denken, in seinen Worten und Werken zeigte.

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Einer von ihnen ist für die Beisetzung extra aus Australien angereist. Kardinal George Pell, 81 Jahre alt, kam im Januar nach Rom und sagte kurz nach dem Tod Benedikts in einem Interview mit dem katholischen Mediennetzwerk EWTN: „Ich war überrascht, wie sehr mich der Tod Benedikts betrübt hat.“ Beide kannten und schätzten sich, mit Benedikt sei ein „wundervoller Abschnitt von Kirchengeschichte“ zu Ende gegangen, so Pell.

Was der Kardinal zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnte: Nur fünf Tage nach der Beisetzung von Benedikt XVI. würde er selbst dem verstorbenen Papst nachfolgen. Pell, der seinen Aufenthalt in Rom auch dafür nutzte, um sich im Krankenhaus „Salvator Mundi“ einer Hüftoperation zu unterziehen, starb überraschenderweise am 10. Januar 2023, nachdem bei eben jener Operation plötzlich Komplikationen aufgetreten waren. Die Kirche hatte ihren einzigen Kardinal vom australischen Kontinent verloren.

Kardinal Müller: Benedikt XVI. und Kardinal Pell als „Vorbilder des wahren Glaubens“

Am vergangenen Dienstag, dem Vorabend des ersten Todestages von Kardinal Pell, fand im „Domus Australia“ ein Gedenkgottesdienst zur Ehre des Verstorbenen statt. Das „Domus Australia“ ist das Haus der australischen Bischofskonferenz in Rom. Hauptzelebrant in der Kapelle „Unserer Lieben Frau von Pompeij, Königin des Heiligen Rosenkranzes“ war der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Auch der US-amerikanische Kardinal Raymond Burke, sowie der Weihbischof von Sydney, Richard Umbers, waren unter den Anwesenden neben den zahlreichen Gläubigen, die teilweise sogar aus den USA und aus Australien angereist waren.

Mit Papst Benedikt und Kardinal Pell habe die katholische Kirche im vergangenen Jahr gleich zwei „Vorbilder des wahren Glaubens“ verloren, sagte Müller in seiner auf Englisch gehaltenen Predigt. So habe sich Pell besonders für die „Ehe und Familie im Geiste Christi“ eingesetzt, und zwar laut Müller auch „gegen die Relativierung der Lehre durch säkular gesinnte Teilnehmer der Synode zu diesem Thema“.

In gewohnter Manier unterstrich der Deutsche mit flammenden Worten zudem das Martyrium, das der verstorbene Australier für die Kirche ertragen habe.

„Die Verfolgung, die Kardinal Pell erlitten hat, ist die gleiche Verfolgung von Christen, die sich im Laufe der Geschichte in verschiedenen Formen wiederholt“, so der frühere Präfekt der Glaubenskongregation. Er ergänzte: „Der Feind schläft nicht. Im Fall des treuen Dieners der Kirche Pell haben sich die Worte Jesu erschreckend bewahrheitet: ‚Wie sie mich verfolgt haben, so werden sie auch euch verfolgen‘.“ 

Obwohl sich Pell damals in Australien in „vorbildlicher und mitfühlender Weise“ um Missbrauchsopfer gekümmert habe, sei er „von einem blutrünstigen Mob unerbittlich verfolgt“ worden. Dadurch sei er mit Hilfe „antikatholischer Hetzer in den Medien und im Polizeiapparat“ zu einem „Opfer der Justiz“ geworden, bis ihn der Oberste Gerichtshof in Australien nach 404 Tagen wieder aus der Haft entließ.

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Fehlercode 404: Zu Unrecht im Gefängnis

Damit sprach Müller einen Skandal an, der viele Facetten hat und auch ein prominentes Opfer: Den Kardinal aus Australien.

Der 7. April 2020 muss ein besonderer Tag im Leben von Kardinal Pell gewesen sein. Es war der Tag, an dem er endlich aus dem Gefängnis freikam, in dem er über ein Jahr lang – genau genommen 404 Tage – in Einzelhaft gesessen hatte. Nicht einmal die Heilige Messe hatte er während dieser Zeit feiern dürfen, berichtet er später. An diesem Tag hatte der Oberste Gerichtshof in Australien, der High Court bekannt gegeben, dass die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs aufgehoben und der damals 78-Jährige von allen Anklagepunkten freigesprochen sei.

Vorausgegangen war eine gerichtliche Auseinandersetzung, die sich über viele Monate hinzog und von Beobachtern auch als Teil eines „Kulturkampfes“ wahrgenommen wurde, wie CNA Deutsch bereits im Jahr 2019 analysierte. „Dass hier mehr verhandelt wird, zeigt auch, dass in der Affäre Pell nun über das Beichtgeheimnis gestritten wird“, kommentierte A.C. Wimmer damals in einem Beitrag.

Im Laufe des Prozesses zog der prominente Buchautor George Weigl gar einen Vergleich mit der Dreyfus-Affäre und schrieb: „Vernünftige Menschen werden sich fragen, ob es sicher ist, in einem sozialen und politischen Klima zu reisen oder Geschäfte zu machen, in dem eine Mob-Hysterie, ähnlich derjenigen, die Alfred Dreyfus auf die Teufelsinsel geschickt hat, offensichtlich Geschworene beeinflussen kann.“

Doch was war passiert?

Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Pell

Die Anklage besagte, dass Pell zu seiner Zeit als Erzbischof von Melbourne im Jahr 1966, aber auch in seiner Zeit als Priester in Ballarat in den 1970er Jahren, sexuellen Missbrauch begangen habe. Am 11. Dezember 2018 wurde er wegen fünf Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen für schuldig befunden, zwei ehemalige Mitglieder des Melbourne Cathedral Choir sexuell missbraucht zu haben, direkt nach der Feier der Heiligen Messe in der Kathedrale von Melbourne, bei geöffneter Tür, noch im vollen liturgischen Gewand. 

Das Gericht entschied nach einem fünfwöchigen Wiederaufnahmeverfahren, da die Geschworenen in einem früheren Verfahren kein einstimmiges Urteil fällten. Das zweite Geschworenengericht brauchte drei Tage, um Pell für schuldig zu befinden.

Letztlich stützte sich die Verurteilung Pells auf die Aussage eines einzigen Zeugen. Das zweite mutmaßliche Opfer war nach einer Überdosis Drogen verstorben und hatte vor seinem Tod angeblich seiner Mutter gegenüber wiederholt eingeräumt, kein Opfer von sexuellem Missbrauch gewesen zu sein (später, im Jahr 2022, erhob der Vater des Verstorbenen dennoch Zivilklage gegen Pell).

Doch nicht nur das oder die widersprüchlichen Aussagen des einzigen Anklägers sorgten für Skepsis (einen ausführlicheren Bericht über die Ungereimtheiten bei der Beweisführung finden Sie hier). Auch in der Justiz regten sich Zweifel. Noch bevor der Berufung stattgegeben wurde, hatte ein Richter des Court of Appeals auf Freispruch plädiert und in einer 200-Seiten-langen Begründung festgestellt, dass der Kardinal lediglich aufgrund einer einzigen Aussage schuldig gesprochen wurde, der mehr als 20 Zeugen vor Gericht widersprochen haben. Allein die Möglichkeit, dass diese Zeugen die Wahrheit gesagt haben können, hätte „zwangsläufig zu einem Freispruch führen müssen“. So aber sei Pell praktisch dazu gezwungen worden, die „Unmöglichkeit seiner Schuld“ zu beweisen – statt begründete Zweifel anzumelden, die seinen Freispruch garantiert hätten.

Also verkündete der Victoria County Court am 13. März 2019 das Urteil: Sechs Jahre Haft wegen sexuellen Missbrauchs an zwei Chorknaben.

Ein australischer Justizskandal

Begleitet wurde die Zeit des Prozesses nicht nur von Vorverurteilungen und heftigen Auseinandersetzungen in der Presse. Später mussten sich einige Journalisten auch juristisch dafür verantworten, die Nachrichtensperre gebrochen haben. Letztlich kündigten die betroffenen Medienunternehmen an, sich schuldig zu bekennen, in insgesamt 72 Fällen die Nachrichtensperre gebrochen zu haben, damit die Staatsanwaltschaft im Gegenzug die Anklage gegen die 18 einzelnen, ebenfalls angeklagten, Journalisten und Reporter fallen lasse.

Doch ein weiterer Skandal kam während der Haftzeit des Kardinals ans Licht: Die sogenannte „Lawyer X“-Affäre

Im Januar 2020 wurde bekannt, dass die Polizei des australischen Bundesstaats Victoria im Kampf gegen Bandenkriminalität Rechtsbeugung begangen und nach Aussagen eines ehemaligen Top-Polizisten unethisch gehandelt habe, um eine als Polizeispitzel agierende Mafia-Anwältin zu schützen.

Als die Vorgänge 2014 ans Licht zu kommen drohten, hatte – wie die veröffentlichten E-Mails belegten – der damalige Polizeichef sich mit dem Pressesprecher darüber ausgetauscht, wie sich die Presse auf die „Ankündigungen“ über Kardinal Pell stürzen würde und so vom polizeiinternen Skandal abgelenkt werde.

Was genau die „Ankündigungen“ über Pell sein sollten, ist aus den E-Mails der beiden ranghohen Polizisten nicht klar ersichtlich. Zu diesem Zeitpunkt hatte Pell lediglich als Zeuge vor der damaligen Royal Commission über Missbrauch ausgesagt und war im April 2014 erst seit einigen Wochen im Vatikan als Präfekt des Wirtschaftssekretariats im Dienst. In diese Rolle hatte ihn Papst Franziskus berufen, um im Vatikan finanzielle Korruption und Misswirtschaft zu bekämpfen sowie Transparenz und Rechenschaft einzuführen. 

Wie CNA Deutsch 2020 ebenfalls berichtete, wurde aber festgestellt, dass die Polizei von Victoria im Jahr 2013 die „Operation Tethering“ startete: Beamte begannen, offenbar ohne konkreten Tatverdacht, gegen Kardinal Pell zu ermitteln – zumindest war weder Anzeige gegen Pell erstattet worden noch gab es etwa Vorwürfe mutmaßlicher Opfer. Mehr noch: Nachdem die Ermittlungen zwei Jahre lang nichts ergaben, wurde „Operation Tethering“ im Jahr 2015 nach Recherchen von CNA formal bestätigt und ausgeweitet. Weitere zwei Jahre später dann wurde gegen Pell Anklage erhoben wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs zweier Minderjähriger, wofür er schließlich verurteilt wurde.

Doch während der Kardinal weiterhin wegen besonderer „Gefährdung“ in Einzelhaft bleiben musste, stiegen die Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Verurteilung.

Die Wende im Fall Pell 

Die Wende kam schließlich am 7. April 2020 durch den Obersten Gerichtshof. Kardinal Pell hätte niemals verurteilt werden dürfen, schreiben die Richter, angesichts der „signifikanten Möglichkeit, dass eine unschuldige Person verurteilt wurde, weil die Beweise die Schuld nicht in dem erforderlichen Maße bewiesen haben.“ Pell war endlich frei.

In seiner ersten Stellungnahme kurz nach der Freilassung betonte der Kirchenmann, dass er keinen Groll gegen seinen Ankläger hege. „Mein Prozess war weder ein Referendum über die Katholische Kirche noch ein Referendum darüber, wie die kirchlichen Behörden in Australien mit dem Verbrechen der Pädophilie in der Kirche umgegangen sind“, so Pell. „Es ging darum, ob ich diese schrecklichen Verbrechen begangen hatte, und das habe ich nicht.“

Im exklusiven Interview mit CNA ergänzte er: „Worauf ich mich wirklich freue, ist eine private Messe zu feiern. Es ist schon sehr lange her, das ist also ein großer Segen.“

Der Kardinal war zurück. Seine Stimme war auch in der Zeit bis zu seinem Tod immer wieder laut und deutlich zu hören.

Mit warnenden Worten wandte er sich an seine Mitbrüder aus Deutschland und kritisierte wiederholt den „Synodalen Weg“. „Wir brauchen keine weitere protestantische Kirche“, mahnt der Kardinal mit Blick auf die deutschen Amtsbrüder und wählte damit eine Formulierung, die Papst Franziskus im Jahr 2022 gegenüber dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz fast wortgleich wiederholen sollte.

Auch im Hinblick auf den von Papst Franziskus angestoßenen „Synodalen Prozess“ nahm der streitbare Australier kein Blatt vor den Mund.

Als Pell an seinem 80. Geburtstag aufgrund der kirchenrechtlich verankerten Altersgrenze sein Wahlrecht für ein mögliches Konklave verlor, blickte er in einem Interview auf seine Zeit im Gefängnis zurück:

„Heute sage ich allen, um einen australischen Ausdruck zu verwenden, dass ich im Gefängnis die Bestätigung dafür bekommen hatte, dass das christliche ‚Paket‘ funktioniert. Meine Erfahrung zeigt, wie sehr das Lehramt der Kirche uns hilft, wie sehr es hilft, zu beten, die Gnade Gottes zu suchen. Vor allem, wenn wir verstehen, dass wir unser eigenes persönliches Leiden in Funktion eines größeren Gutes leben können, können wir unser Leiden mit dem von Jesus verbinden. Als Christen wissen wir in der Tat, dass wir durch das Leiden und den Tod des Sohnes Gottes erlöst worden sind. Diese Lehre über den Wert des Leidens zu leben, ändert wirklich alles, wenn man sich in einer Situation wie der meinen befindet.“

Die Tragik und das Vermächtnis von Kardinal Pell

Ein Jahr nach dem Tod des Kardinals steht bei seiner Jahrgedächtnisfeier am 9. Januar 2024 auch der Weihbischof von Sydney, Richard Umbers, vor dem EWTN-Mikrofon. Umbers sagt, Pell sei immer auch ein „Blitzableiter für die Kirche“ gewesen. Der Ärger und der Frust über die Kirche, auch die Angst und der Hass gegenüber dieser Institution sei oft auf den so willensstarken und schlagfertigen Gottesmann projiziert worden.

Kardinal Pell selbst schreibt im ersten seiner beiden Gefängnistagebücher, die er nach seiner Freilassung veröffentlicht hatte, über seine Rolle in schon beinahe prophetischen Worten:

„Eine meiner größten Sorgen ist, welche langfristigen Folgen meine Probleme für die Kirche in Australien haben werden. Der kurzfristige Schaden ist unstrittig, aber die Vorteile oder Segnungen auf kurze und vor allem auf lange Sicht sind schwieriger zu erkennen.“

Doch bei all der Tragik wird vom Vermächtnis des australischen Kardinals nicht nur seine „große Stärke und sein ungeheurer Mut“ (Weihbischof Umbers über Pell) bleiben. Tatsächlich hatte Pell bereits zu Lebzeiten für konkrete, positive Veränderungen innerhalb der Katholischen Kirche gesorgt.

Als Papst Franziskus ihn 2014 zum ersten Präfekten des neu errichteten Wirtschaftssekretariats ernannte, stieß der Australier wichtige Reformen an, um den Sumpf der Korruption und der Misswirtschaft, die sich im Laufe der Jahrzehnte im Finanzgebaren des Vatikans eingeschlichen hatte, auszutrocknen. Fast schon draufgängerisch ging er diese Aufgabe an, seine Reformbemühungen machten unter anderem im Zuge der Affäre um Kardinal Angelo Becciu weltweit Schlagzeilen (eine Analyse zum Fall Becciu sowie über den Einsatz von Kardinal Pell lesen Sie hier).

Die von Papst Franziskus Ende 2020 durchgeführte Kurienreform, bei der unter anderem dem Staatssekretariat die Verantwortung für Investitionen und Immobilien entzogen wurde, ist nach Ansicht von Analysten „eine späte Bestätigung der Arbeit von Kardinal George Pell“.

Fast unbemerkt durch die Weltpresse, die sich schon zwei Tage später auf die vermeintliche Segenserlaubnis für homosexuelle Paare stürzen konnte, gab das Vatikan-Gericht dem verstorbenen Kardinal aus Australien ein weiteres Mal recht: Die Laienrichter des Vatikanstaates verurteilten Kardinal Angelo Becciu wegen Veruntreuung in mehreren Fällen zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft. Kardinal Pell hatte dessen unglückselige Rolle im bislang größten vatikanischen Finanzskandal dieses Jahrhunderts früh kritisiert. 

Ob das Reformwerk von Kardinal Pell damit vollbracht ist? 

Kardinal Beccius Anwälte jedenfalls haben bereits angekündigt, in Berufung zu gehen, um die „Ehre“ ihres Mandanten wiederherzustellen. Beobachter dagegen fürchten, die Person Becciu ist nur der Anfang gewesen.